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22.01.2010
 

Deutsche Umlaute ä, ö und ü sterben in Zukunft aus

Was auf den ersten Blick eine „Thorheitsblüthe“ zu sein schien, erwies sich beim näheren Hinsehen als durchaus interessant – und zeitlos im Informationsgehalt, daher reichen wir hiermit diesen Artikel nach.


"Kannstema uber dem deutsch seine entwicklung eine diskusion fuhren?" – In ferner Zukunft dürfte dieser Satz bei Hütern deutscher Grammatik und Wortlehre keinen Unmut mehr erregen. Sprachforscher sagen die konsequente Kleinschreibung, neue Wortendungen und das Aussterben von Umlauten voraus.

Wie entwickelt sich unsere Sprache in Zukunft? Linguisten glauben es heute schon zu wissen und prognostizieren die stetige Kleinschreibung, neue Wortendungen und den Verlust von Umlauten. Derartige Tendenzen verrät dem Linguisten beispielsweise die Evolutionäre Spieltheorie, eine Computersimulation, die erfolgreiche Verhaltensmuster erklärt.

"In fast allen Sprachen gibt es die Vokale a, i und u", erklärt Wissenschaftsjournalistin Cornelia Varwig in einem Artikel in der Februar-Ausgabe des Wissenschaftsmagazins "bild der wissenschaft". Die Theorie zeige den Grund dafür: Bei der Verständigung seien i, ü und e leicht zu verwechseln.

Zu den bedrohten Buchstabenarten zählt Gerhard Jäger, Linguist an der Universität Tübingen, auch die seltenen deutschen Umlaute ä, ö und ü. Womöglich seien sie in 500 Jahren ausgestorben. Er begegnet dem Sprachwandel aber mit Gelassenheit: "Wie in der biologischen Evolution wird das weitergegeben, was sich bewährt - der Rest stirbt aus. Kino statt Lichtspieltheater, steckte statt stak – die Gemeinschaft fällt die Entscheidung ohne Absprache."

Es finde auch eine Durchmischung von Sprachen statt, die so genannte Kreolisierung, erklärt der Sprachforscher in "bild der wissenschaft". Entwicklungen wie in den USA kommen auch auf das Einwanderungsland Deutschland zu - wie generell das Englische den Experten als Fenster zur Zukunft dient: Die beiden germanischen Sprachen sind sich sehr ähnlich, doch das Englische verändert sich flinker.

Auf der Liste der aussterbenden Grammatikfeinheiten des Englischen stehen beispielsweise die unregelmäßigen Verben - die Zeitform des Past Tense wird überwiegend mit der Endung -ed gebildet. Den rund 170 starken Verben im Deutschen geht es wohl ebenso an den Kragen - "stehlen, stahl, gestohlen" ist eben schwieriger zu erlernen als ein regelkonformes "klauen, klaute, geklaut".

Jäger sieht den Wandel in vollem Gange: "Vor 50 Jahren verwendete man für das Imperfekt von backen noch buk, heute sagt man backte." In 300 Jahren werde es dafür eine neue Gruppe von Wortendungen geben, die Fragen zulässt wie "Kennstese?" statt "Kennst du sie?" oder "Willers?" statt "Will er es?". Auch wer zugunsten des Dativs den Genitiv vernachlässigt, geht in 50 Jahren ohne Tadel aus.

"An der Grammatik wird sich wenig ändern, doch der Wortschatz wird zahlreiche Wörter enthalten, die wir heute noch nicht kennen", skizziert Werner Scholze-Stubenrecht die Entwicklung. Der stellvertretende Leiter der Dudenredaktion in Mannheim beziffert die Zahl der Wörter, die jährlich in den Duden aufgenommen werden, mit 800.

2009 haben "Federbüchse" und "scharmieren" Platz gemacht für "Hybridauto" und "twittern". Unter den Neuankömmlingen sind 20 bis 40 Anglizismen, die meist auch englisch ausgesprochen werden. Den Deutschen fehlt die Fähigkeit oder der Wille, englische Wörter zu assimilieren, weil sie Freude am fremden Klang haben, konstatiert Jürgen Trabant, Professor für Europäische Mehrsprachigkeit an der Jacobs University in Bremen. "Baby" wird zunehmend also nicht mehr "Bebi" ausgesprochen, sondern mit dem Diphtong ei, und der Cent startet im Anlaut wohl eher mit s als z.

Kritisch sieht Trabant den breiten Strom an englischen Begriffen in Wirtschaft und Wissenschaft, für die keine deutschen Wörter mehr gesucht und ausprobiert werden. Diese Sprachbequemlichkeit hat beispielsweise Konsequenzen, wenn Kinder auf Wissenschaft neugierig gemacht werden sollen.

"Bei uns führt das zum hysterischen Englischlernen in den Kindergärten - ehrgeizige Eltern plagt die Sorge, ihr Kind werde sonst später nicht im Aufsichtsrat sitzen", kritisiert der Sprachexperte in "bild der wissenschaft". Trabant warnt, dass sich die Elite als eine "Kaste der Anderssprachigen" von der Gesellschaft absetze.

Die Generalverdächtigen Jugend und Internet sortieren die Experten dagegen als Vokabularverderber aus. So gelten beispielsweise "Kanaksprach" oder das "Kiezdeutsch", also der Dialekt des Deutschen mit Fremdwörtern aus dem Türkischen, als Teil der Jugendsprache, versichert Heike Wiese, Leiterin des Instituts für Germanistik an der Universität Potsdam.

Dieser Slang werde nur unter Freunden gesprochen, nicht mit Lehrern und Eltern. Außerdem verliert er sich nach der Adoleszenz. Und wenn einzelne Begriffe wie das türkische "Lan" für "junger Mann" oder das arabische "Wallah" ("bei Gott") für "echt, wirklich" den Wortschatz bereichern, so bleibt das eher die Ausnahme.

Die übrigen Wortschöpfungen der Jugend sind oft so kreativ, dass Wiese sie in ihrem Szenewörterbuch sammelt: "Münzmallorca" für Solarium oder "dönieren" für das Einnehmen eines Döner-Abendessens sind einfach trefflich und amüsant.

Selbst die verquaste Internet-Kommunikation und das SMSen werden in Schutz genommen: Die spaßige Anpassung des Deutschen für schnelles Schreiben setzt nämlich die präzise Kenntnis der Hochsprache voraus.

"Vielleicht werden wir die konsequente Kleinschreibung, die viele online praktizieren, irgendwann einmal in den Alltag übernehmen", sieht der Tübinger Linguist Jäger die Orthografie auf wackligen Beinen. Aber selbst die Engländer schreiben heute noch so, wie sie vor 300 Jahren gesprochen haben: Trotz allen Wandels erweisen sich Hochsprachen als stabil.


Quelle: Die Welt
Link: http://www.welt.de/wissenschaft/article5941403/Deutsche-Umlaute-ae-oe-und-ue-sterben-in-Zukunft-aus.html


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Kommentare zu »Deutsche Umlaute ä, ö und ü sterben in Zukunft aus«
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 27.01.2016 um 21.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10392

Ich glaube nicht, daß für Sprachen die Entropie gilt, d.h. die irreversible Entwicklung von Ordnung zu Unordnung.


Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 28.01.2016 um 15.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10393

Hat die Welt die Abschaffung der Umlaute bereits vorweggenommen oder warum benutzt sie dafür allerlei Sonderzeichen, die bei mir sehr kryptisch den Lesefluß stören?
(Das ist ein Artefakt des Einkopierens von der WELT-Seite: Dort sind im Original alle Umlaute richtig, sie sind bloß verkrüppelt hier angekommen, und es wurden noch nicht alle von Hand korrigiert. – Red.)
Ansonsten: viel wichtigtuerisches Gewäsch! (Zuviel, um auf alle Einzelheiten einzugehen, Computersimulation, eieiei.)
Man denke nur an das Französische, das als Sonderentwicklung im Romanischen nicht nur gerundete, sondern auch nasalierte Vokale kennt. Ungefähr 15 verschiedene Vokalphoneme, trotz des Fehlens eines Längenunterschieds! Übrigens diskutiert man ja, ob es bei uns außer langen und kurzen auch noch halblange Vokale gibt. Herr Ickler hat kürzlich erst darauf hingewiesen, daß Angehörigen anderer Sprachfamilien dieser für uns so selbstverständliche Unterschied fremd und unverständlich ist. Ebenso kannte das Germanische von jeher trotz des geringen Unterschieds zwei verschiedene e-Laute (vom Öffnungsgrad her).
Auch das Finnische, Ungarische und Türkische denken natürlich nicht daran, ihre Umlaute aufzugeben.
Ansonsten kann ich nur (ich glaube, zum wiederholten Male [man beachte die Bedeutung des Kommas!]) darauf hinweisen, daß die Phonemisierung des i-Umlautes erst in der Stauferzeit stattgefunden hat. Also die Möglichkeit, zwischen Hafen und Häfen, Ofen und Öfen, hoher und höher, stutzen und stützen (und auch zwischen fuhren und führen!) zu unterscheiden. Dem Althochdeutschen war das noch fremd!
Zur Erläuterung für Nichtfachleute: Bei Formen wie kalb ~ kelbir war der Umlaut noch eine durch die lautliche Umgebung bedingte Variante, a und ä (seinerzeit als e geschrieben) waren Allophone wie heute der ich-Laut und der ach-Laut, nicht geeignet, Wörter zu unterscheiden. Der fortschreitende Endsilbenverfall führte zur Zerstörung dieses systematischen Zusammenhangs ("Distribution"). In bestimmten grammatischen Formen, wie eben Kälber, stand nun ohne erkennbaren äußeren Grund der Umlaut, wo historisch einmal ein i in der Folgesilbe gestanden hatte. Prompt wurde er als Wesensmerkmal dieser grammatischen Formen verstanden, gestützt dadurch, daß man ja mit dem inneren Vokalwechsel, dem Ablaut, (sing - sang - gesungen) vertraut war. Umstandslos wurde der Umlaut in dieses System eingereiht. In der Folge tauchte er auch in Ausdrücken auf, wo nie ein i gestanden hat, und breitete sich auch jenseits dieser grammatischen Formen immer weiter aus.


Kommentar von b, verfaßt am 28.01.2016 um 17.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10394

Doch noch ein Detail: stak statt steckte – das ist nicht, wie die Autoren anscheinend meinen, eine relikthafte, aufgegebene Form eines ehemals starken Verbs. Das Gegenteil ist der Fall!
stecken ist Intensivum zum starken Verb stechen (stechen - sticht - stach - gestochen, Stich, Stichel, Stachel): den Brief in den Kasten stechen/stecken. Als abgeleitetes Verb ist stecken somit von Hause aus schwach. Beim Übergang zum intransitiven Gebrauch (Der Brief steckt im Kasten) wurde aber die starke Form neu gebildet.
Hat die Sprachgemeinschaft ohne Absprache so entschieden.


Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 29.01.2016 um 20.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10395

Aktueller Nachtrag: Heute morgen ging es im Radio (WDR2) um "die Geschichte von den zwei Pastören". Auch die klassischen Generale sind ja weitestgehend zugunsten der Generäle verschwunden. Der Umlaut breitet sich immer noch weiter aus.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 30.01.2016 um 00.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10396

Die Süddeutschen haben damit angefangen mit ihren Wägen, Krägen usw. Die Umgangssprachen beeinflussen eben die Hochsprache. Das starke Perfekt-Partizip kommt auch aus Süddeutschland, denn hier braucht man kein Imperfekt: gewunken, geblunken usw. klingt ja auch schöner.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.01.2016 um 09.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10397

Noch zu http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10394

Ich habe noch mitteldeutsche Sprecher gekannt, die regelmäßig es stickt sagten. Das stimmt mit den Nachweisen im Grimm überein, worauf für die Einzelheiten verwiesen sei.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 01.02.2016 um 16.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10398

In Süddeutschland hört man oft "ich frage, du frägst, er frägt".


Kommentar von MG, verfaßt am 03.02.2016 um 00.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10399

Zu "stecken".

Es gibt zwei Verben, die man "stecken" schreibt. Der Standarddeutsche spricht sie gleich, ich als Süddeutscher spreche sie unterschiedlich, und zwar das eine mit e und das andere mit ä.

Das Grundverb lautet "stecken" (mit ä), "stak" (oder "steckte", "gesteckt" und bedeutet, daß ein Gegenstand (z.B. ein Schlüssel) z.B. in einer Öffnung festsitzt.

Das Kausativum dazu ("veranlassen, daß etwas steckt") lautet auch "stecken", ich spreche das allerdings mit e (kann es also in jedem Fall vom Grundverb unterscheiden) und konjugiere es "stecken, steckte, gesteckt".

Also würde ich sagen: "Der Schlüssel stak im Schloß" aber nicht: "Ich *stak den Schlüssel ins Schloß."

Manche Leute sagen, sie stächen den Schlüssel ein: "Hast Du den Schlüssel eingestochen?"


Kommentar von MG, verfaßt am 03.02.2016 um 00.48 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10400

http://www.heise.de/tp/artikel/47/47283/1.html

Ihr tut mir Leid
Henner Reitmeier 02.02.2016
20 Jahre Rechtschreibreform

Mit ihrer Nummer 15 des Vorjahres, erschienen im August 2015, schwenkte auch die oft erfreulich kritische, roteingeschlagene Zweiwochenschrift Ossietzky ein. Sie schreibt jetzt ebenfalls "reformiert". Sie wolle damit vor allem der Verwirrung aller schulpflichtigen und jüngeren LeserInnen vorbeugen, hieß es kurz und befremdlich zur Begründung.

Die Zeit hätte dazu wahrscheinlich höflich angemerkt: endlich hat auch dieses Blättchen, nach uns Großen und der Jungen Welt, "klein beigegeben". So steht es in einem Interview mit Ex-Kultusminister Zehetmaier, auf das ich noch zurückkommen werde.

Dafür fand am 1. August 2015, somit zufällig zur selben Zeit, ausgerechnet die FAZ zu ungewohnten antiautoritären Tönen. In Gestalt ihrer Berliner Korrespondentin Heike Schmoll zog sie die niederschmetternde Bilanz eines "obrigkeitlichen Gewaltaktes der Kultusbürokratie". Gemeint war eben die jüngste, ab 1996 eingeführte, "mehrere Milliarden teure" deutsche Rechtschreibreform, die sich dann durch beflissene mehrmalige "Nachbesserungen", so das widerliche Modewort, noch verheerender auswirkte, als sie schon vom Kern her war.

Für gewisse Verlage und HerausgeberInnen von Wörter- und Schulbüchern, ja selbst von sogenannten Klassikern, stellte sie allerdings ein Segen dar. Duden und Wahrig etwa, kraft ihres quasi-amtlichen Monopols schon immer eine Kuh, die nie versiegenden Honig gab, bekamen nun auch noch goldene Hufe.

Für Schmoll hat die Reform zugleich für Chaos und Uniformierung gesorgt. Die neuen Schreibungen hätten zahlreiche Möglichkeiten feiner Unterscheidungen "sprachlich und gedanklich planiert". Ähnlich äußerte sich kurz zuvor, am 30. Juli, Steffen Könau in der Mitteldeutschen Zeitung. Aus seiner Sicht hat die Reform nicht weniger als die Auflösung der sprachlichen Verbindlichkeit bewirkt.

Das Ergebnis ist jeden Tag auf Whatsapp, Facebook, Twitter und den Diskussionsforen der Nachrichtenportale zu besichtigen. Regellosigkeit ist die Regel. Nach dem Komma und all den anderen Satzzeichen stirbt die Grammatik, sterben Satzbau und der Anspruch, Gedanken geradeaus zu formulieren.

Damit das Chaos perfekt wird, bieten Duden wie Wahrig in vielen Fällen Wahlmöglichkeiten an, setzen jedoch die Prioritäten unterschiedlich, sodaß sich die Konkurrenz jener beiden GralshüterInnen auch in den "Hausorthographien" zahlreicher renommierter Blätter oder Anstalten fortsetzen kann.

Das Reformergebnis "Orientierungslosigkeit" könnte so manchem Hirten, der gern Schafe regiert, durchaus gefallen - und womöglich fällt es auch kaum mehr auf, weil ja den Schafen das Denken zunehmend von Computern und Robotern abgenommen wird. Die werden immer "autonomer". Bald werden sie die Texte nicht nur automatisch richtig, sondern automatisch selber schreiben. Das entlastet die Schafe.

Nun finden diese die Muße, ihre sogenannte Übergewichtigkeit zu bekämpfen, indem sie wie die Affen in den Bäumen turnen. Man erwäge einmal, was uns seit zwei Jahrzehnten schon alles unter dem beflügelnden "fortschrittlichen" Deckmantel der Reform übergebraten worden ist: lauter Rückschritte.

Die Reform der Streitkräfte machte Deutschland, Frauen eingeschlossen, wieder kriegslüstern; die (Riester-)Reform der Rente machte die Rentner ärmer und die Versicherungskonzerne fetter; die Reform des Arbeitsmarktes - ich erspare mir das. Ich fürchte schon seit Längerem, in kapitalistisch verfaßten Demokratien könnten sämtliche staatlich geleiteten "Reformen" eigentlich nur zwei Ergebnisse haben: mehr Unterdrückung oder mehr Chaos. Wobei wahrscheinlich das zweite Ergebnis in vielen Fällen wiederum der Herbeiführung des ersten Ergebnisses dient.

Etliche BeobachterInnen, die wie Schmoll und Könau den inzwischen herrschenden "Wirrwar" beklagen, erinnern an die einstigen Beteuerungen der ReformerInnen, ihnen liege vor allem die Vereinfachung der Rechtschreibung am Herzen. Ja eben - ihre Verflachung … Tatsächlich sei aber das Gegenteil eingetreten.

So hat sich durch Mißbildungen wie "Missstand" oder "Schifffahrt", zottelhaarige Mammuts wie "Aftershavelotion", Wendungen wie "einer steht Denkmal artig vor dem Bundeskanzleramt" (also nicht etwa ungehorsam), Einsparung von Kommas, Angebot das Wählens zwischen Varianten und ganz allgemein die verstärkte Beliebigkeit in der Rechtschreibung die Lesbarkeit der Texte nicht erhöht, sondern verringert.

Darin aber liegt eigentlich der Sinn einer allgemeinverbindlichen Rechtschreibung: sie will nicht etwa recht behalten, wie man bei ihrem irreführenden Namen denken könnte; sie will uns vielmehr entlasten. Indem sie Verkehr und Verständnis sowohl vereinfacht wie erleichtert, ermöglicht sie uns a) die Konzentration auf den Geist des Textes, b.) die Befassung mit anderen Aufgaben. Der Mensch hat ja weißgott Wichtigeres zu tun, als mühsam durch die jeweilige Variante der Rechtschreibung zu stolpern und sich dabei endlos Beulen und Kränkungen einzufangen. Oder als in den Bäumen zu turnen ...

Aber die ReformerInnen beteuerten auch, ihnen liege das Wohl unserer SchülerInnen am Herzen. Die Fehlerquote in den Diktaten und Aufsätzen sei viel zu hoch. Und nun - haben sie es geschafft? Ja, nach Auskunft verschiedener Studien, die Dankwart Guratzsch am 7. November 2013 in der Welt anführt, ist es den ReformerInnen tatsächlich gelungen, die Fehlerquote im Schnitt zu verdoppeln.

Kurz darauf, am 15. November, gibt Guratzsch im selben Blatt einen kurzen historischen Abriß der Reform und weist dabei die vielgehörte Lüge zurück, es habe ein breites Bedürfnis nach ihr gegeben. Vielmehr sei sie von einem Häuflein fanatischer Linguisten und unter Bemühung des Ost-West-Konfliktes losgetreten worden.

Zeitgenössische deutschsprachige SchriftstellerInnen haben sie jedenfalls nie erbeten, wie wahrscheinlich schon hinlänglich die Latte von Namen unter der "Frankfurter Erklärung" von 1996 beweist. Aber gerade diese Fachleute wurden nun nicht etwa in die maßgeblichen Gremien der ReformerInnen gebeten. Vielleicht war die AkademikerInnenquote unter den SchriftstellerInnen noch zu niedrig.

Übrigens wird die Liste der UnterzeichnerInnen, aus alphabetischen Gründen, von Ilse Aichinger angeführt, die es allen (Schulbuch-)Verlagen ausdrücklich untersagte, ihre Texte für den Abdruck umzufrisieren. Ob sich die Verlage an dieses Verbot hielten und halten, steht auf einem anderen Blatt. Ich kann es kaum überprüfen, weil ich seit Jahrzehnten keinen Zugang mehr zu unserem Schulsystem habe.

Am besten, man schafft es ab, dann erübrigt sich auch die Frage, für welche Rechtschreibfehler unsere Schulen Strafanstalten sein sollen. Der St. Gallener Schullehrer Stefan Stirnemann wies 2013 auf Verfälschungen von "Klassikern" durch sogenannte renommierte Verlage hin. Die Stadtbücherei in Bad Dürrheim, Schwabenland, nahm im August 2015 auf Geheiß des Regierungspräsidiums eine deftige "Aussortierungsaktion" vor, bei der es nur noch erstaunt, daß die betreffenden, zu wenig gelesenen oder aber falsch geschriebenen Bücher nicht sofort auf einem Scheiterhaufen landeten.

Im Zeichen des erwähnten Ost-West-Konfliktes könnte man sich hier auch an die Stalinisten erinnert fühlen, die nach jeder Kehrtwende in der Generallinie eine rückwirkende Umschreibung der Geschichtsbücher verordneten. Einige Werke brockten sich ihre Ächtung wegen ungebührlichen "Wordings" ein, weil in ihnen beispielsweise "Hexen" oder 10 oder 20 kleine "Negerlein" vorkamen.

Aftershavelotion und Wording! Das ehrt die deutsche Sprache ohne Zweifel viel mehr als ein Neger. Solche hirnrissigen Zensurmaßnahmen fördern mit der Geschichtslosigkeit und Unselbstständigkeit die Dummheit. Sie entsprechen übrigens dem bekannten Verfahren, unliebsame Parteien, zum Beispiel faschistische, zu verbieten, statt den Geist oder die Wirtschaftsweise zu bekämpfen, der oder die sie trägt.

Wen wundert es, wenn man selbstkritische Äußerungen im Lager der BefürworterInnen und VerwalterInnen der Reform mit der Lupe suchen muß. Bernd Busemann, damals Kultusminister in Niedersachsen, räumte im August 2004 in einer amtlichen Verlautbarung ein:

Sprache und Rechtschreibung sind etwas Fließendes, das man dem Volk nicht mit einem Beschluss verordnen kann.

Er tat es immerhin pflichtschuldig mit Doppel-s.

Johanna Wanka, damals Kultusministerin von Brandenburg, ließ sich Anfang Januar 2006 vom Spiegel (Nr.1/2006) das Eingeständnis abringen:

Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.

Hans Zehetmair, damals bayerischer Kultusminister, machte sich kürzlich, in der Zeit vom 30. Juli 2015, sogar persönliche Vorwürfe:

Die Nation wäre nicht zerbrochen, wenn wir nichts gemacht hätten. Wir hatten und wir haben drängendere Probleme.

Doch das sind Ausnahmen. Am 16. November 2015 wies Albrecht Müller auf seinen Nachdenkseiten auf den Triumph der Tendenz in unseren westlichen "Demokratien" hin, weder für wichtige Entscheidungen breite Zustimmung zu suchen noch die sich häufenden Fehlentscheidungen in wichtigen Fragen auch nur ansatzweise zu kritisieren, nachdem sie sich als Schlag ins Wasser erwiesen haben, oder gar ihre TrägerInnen zu bestrafen.

Ich glaube jedoch, daß sich Müller noch Illusionen macht. Wenn er hier von "Fehlentscheidungen" spricht, liegt er falsch. Noch nie haben Herrschende zuungunsten des Volkes "Fehler" gemacht. Sie machen dies alles absichtlich. Riester wußte, wen er mit seiner Rente füttert, und Schröder/Fischer wußten, warum der Balkan mit Bomben zertrümmert werden muß. Wer von ihnen Selbstkritiken und Korrekturen erwartet, macht den Bock zum Gärtner. Und die Schafe schauen zu diesem Gärtner empor.

Sind wir schon bei Fehlern, möchte ich die Bemerkung wagen, auch so manche GegnerInnen der Rechtschreibreform waren und sind nicht gegen sie gefeit. So berufen sie sich auffällig oft auf die "Logik". Friedrich Georg Jünger (Sprache und Denken, 1962) hat mir jedoch schon vor Jahren eingebläut, Sprache habe keine Logik. Vielmehr sei sie ein Gebilde, das alle Logik, alle Exaktheit und alle Widersprüche umfaßt. Weit davon entfernt, sie zu beseitigen, hilft sie "lediglich", die Widersprüche aufzudecken.

Wahr sind die Phänomene, nie dagegen ihre Namen. Eine Unterbindung mag etwas mit Fesselung zu tun haben; sie kann jedoch genauso gut oben stattfinden. Drei Jahrzehnte, und wir fänden die Oberbindung normal. Gewisse bellende Vierbeiner statt dog oder Matz Hund zu nennen, ist weder natürlich noch logisch oder unlogisch.

Es verdankt sich vielmehr einer willkürlichen, wenn auch stets gewachsenen gesellschaftlichen Übereinkunft. Eignet aber der Sprache keine Logik, dann auch deren Schreibung nicht. Das ist nur logisch. In einer Erläuterung zum Wort "tragisch" versichert mein antiquierter Brockhaus (Band 22 von 1993), es bedeute u.a. "schicksalshaft". Mein sogar noch etwas älterer Duden (von 1983) schreibt dieses Wort jedoch ohne s, nämlich "schicksalhaft".

Man könnte vermuten, der damalige Brockhaus-Korrektor habe auf die Analogie mit "schicksalsgläubig" oder "schicksalsschwer" vertraut - zwei Wörter, die der genannte Duden in der Tat mit s schreibt. Alle drei Worte sind Adjektive und weisen nach dem fraglichen s oder nicht-s einen Konsonanten auf. Aber Duden, der alte, schreibt sie verschieden.

Nun will ich nicht ausschließen, eifrig studierte Linguisten, Grammatiker oder Sprachwissenschaftler wüßten hier eine Regel oder deren Ausnahme aus dem Hut zu zaubern, die auch diese Unregelmäßigkeit "logisch" erklärt. Alle Umtriebe dieser Art halte ich allerdings für von Doktorhüten gekrönte Haarspaltereien.

Für mein Empfinden handelt es sich sowohl bei der Sprache wie beim Problem ihrer Schreibung um ein derart komplexes und letztlich unbegreifliches Phänomen, daß es sterblichen Menschen niemals gelingen wird, sie auf eine Weise handhabbar zu machen, die sogar Computer und Roboter begreifen. Das teilen Sprache und Schreibung natürlich mit vielen anderen Phänomenen. Gieße ich aber beispielsweise das Wort "Klima" und meinen Hohn über die Weltreligion des 21. Jahrhunderts aus (die da Kampf dem Klimawandel heißt), komme ich niemals zum Ende. Oder ins Blatt.

Eine Abschweifung muß ich mir noch herausnehmen. Führte ich eben "dog oder Matz oder Hund" an - wo bleiben denn dann die Hündinnen, bitteschön? Auf meiner Webseite behauptete ich bereits 2012, es wäre um 1995 ungleich notwendiger gewesen, Tonnen an Schaffenskraft und viele Millionen DM in den Versuch zu stecken, das grammatische Defizit hinsichtlich der Rolle der Frau zu beheben oder wenigstens das Bewußtsein für dieses Defizit zu schärfen.

In dieser Hinsicht herrscht bis zur Stunde tote Hose. Nie ist das im Grunde soziologische Problem der patriarchalen Durchseuchung der deutschen Sprache auch nur annährend so rege diskutiert worden wie die sogenannte Rechtschreibreform. Aber der Wildwuchs mit allen furchtbaren Binnen-I's, Binnen-Unterstrichen oder Binnen-Löchern gedeiht, und wenn wir so weitermachen, sind wir im 22. Jahrhundert nicht bei der nächsten Weltreligion, vielmehr bei der absoluten Unlesbarkeit angekommen.



PS: Der Artikel ist (Zitate ausgenommen) tatsächlich fast in alter Rechtschreibung verfaßt ("eingebläut"); Ich muß da immer zweimal hinschauen, da mein Firefox modulo ClassGerman für meine Augen ohnehin in der Regel Altschreib anzeigt. (Danke dafür, Uwe Mock!) Ich habe für das Kopieren hierhier ClassGerman allerdings bewußt ausgeschaltet.


Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 06.02.2016 um 13.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10404

Der Artikel ist (Zitate ausgenommen) tatsächlich fast in alter Rechtschreibung verfaßt ("eingebläut")
Aber auch nur fast...


Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 06.02.2016 um 13.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10405

Zu MGs Beitrag: Daß die starken Formen von stecken nur beim intransitiven Gebrauch vorkommen, deckt sich mit meiner Beobachtung und auch meinem Sprachempfinden, aber die verschiedene Aussprache erstaunt mich. Man debattiert ja oft, ob es einen Unterschied zwischen Ähre und Ehre gibt. Daß es einen Unterschied auch bei den Kurzvokalen phonologisch ohne weiteres geben kann, habe ich in vorangegangenen Beiträgen ja auch schon gesagt, fühle mich also insoweit bestätigt, aber daß er im heutigen Deutsch tatsächlich realisiert wird, verblüfft mich.


Kommentar von U. M., verfaßt am 12.02.2016 um 11.40 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10423

Auch der Bindestrich ist dem Artikel in der Online-Welt zufolge in Gefahr:

Wie das Deppenleerzeichen den Bindestrich bedroht

Woher kommt der Hass auf den Bindestrich? An seine Stelle tritt im Deutschen immer häufiger das Deppenleerzeichen. Die Duden-Regeln sind vielen egal oder unbekannt. Beobachtungen zu einer Sprachpest.

http://www.welt.de/kultur/article152080487/Wie-das-Deppenleerzeichen-den-Bindestrich-bedroht.html


Kommentar von MG, verfaßt am 14.02.2016 um 17.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10428

die verschiedene Aussprache [des intransitiven Grundverbs "stecken" und des vermeintlich homophonen Kausativs "stecken] erstaunt mich.

Klar. Sie sind Norddeutscher, sie hören den Unterschied zwischen beiden nicht, deswegen sprechen sie ihn selbst auch nicht. Und trotzdem ist er für einen süddeutschen Sprecher eindeutig.

Ich bekomme auch die beiden Wörter "gräulich" und "greulich" jederzeit lautlich auseinander. Für Sie sind beide homophon.


Kommentar von MG, verfaßt am 14.02.2016 um 17.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10429

Man debattiert ja oft, ob es einen Unterschied zwischen Ähre und Ehre gibt.

Wenn ein Schwabe das Wort "Ehre" spricht, erkennt man an seiner Aussprache mit hoher Treffsicherheit seine Konfession.

Spricht er es den Lautgesetzen des Dialekts entsprechend wie mit ä, ist er mit hoher Wahrscheinlichkeit evangelisch (oder so aufgewachsen). Spricht er das Wort mit "e", ist er mit hoher Wahrscheinlichkeit katholisch.

Das sinngemäß Gleiche gilt für die Wörter "sehr", "Lehrer", "Seele" und "ehrlich".


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.02.2016 um 04.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=743#10430

Frage an MG: Wie klingen eigentlich greulich/gräulich ohne Rundung?



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