Nachrichten rund um die Rechtschreibreform
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19.11.2015
Friedrich Dieckmann
Die Diktatur des Gelbdrucks
Orthographische Praxiserfahrungen
Der Umgang von Verlagen, Lektoraten, Redaktionen mit der deutschen Rechtschreibung hält für den einzelnen Autor Erfahrungen bereit, die der Vorstellung spotten, mit der zweiten Stufe der Rechtschreibreform sei auf dem Feld der umstrittenen Fälle ein Maß an Freiheit gewonnen worden.
Die in den Nachschlagwerken (Duden, Wahrig u. a.) seit dem Jahr 2006 verzeichneten Varianten werden von Verlagen und Redaktionen häufig nicht anerkannt; manche von ihnen haben sich eine eigene, hausgemachte Rechtschreibung zurechtgelegt, die sie gegenüber den Autoren autoritativ durchzusetzen versuchen. Andere setzen ohne weiteres auf die vom Dudenverlag durch grellen Rot+Gelbdruck hervorgehobene Primärstufe jener unseligen Reform, die uns um eine einheitliche Rechtschreibung gebracht hat; sie soll durch diesen optischen Terrorismus erzwungen werden.
Ich spreche aus jüngster Erfahrung, die in einem langen Telefonat mit dem Chef eines auf soziologisch-politologische Themen orientierten Verlagshauses kulminierte, dessen Korrektoren und Lektoren mir nicht hatten erlauben wollen, „tiefgreifend“ (in „tiefgreifende Erfahrungen“) und „nichtrussisch“ (in „nichtrussische Gebiete“) zusammenzuschreiben. Aus „seit langem“ war „seit Langem“, aus „ohne weiteres“ war„ohne Weiteres“ und aus „1860er Jahre“ waren „1860er-Jahre“, also ein ganz neues Wort, geworden. Die Berufung darauf, daß meine Schreibweisen von Duden und Wahrig zugelassen seien, ließ man nicht gelten; der Verlagsleiter verfocht seine Entscheidung, in den Büchern des Verlags eine einheitliche Rechtschreibung nach dem Maß der im Duden in aggressivem Gelb+Rot, bei Wahrig in mildem Blau ausgezeichneten ersten Stufe der Rechtschreibreform zu praktizieren.
Diese Hervorhebung von Schreibweisen, denen durch eine (auch und besonders von den Vertretern der Deutschen Akademie) schwer erkämpfte Reform der Reform gleichberechtigte Varianten an die Seite gestellt wurden, konnte für ein unzulässiges Unterlaufen der vollzogenen Variantenöffnung gelten. Vor allem der Duden-Verlag machte sich zum Instrument der Normierungsbedürfnisse einer Lehrerschaft, die die einzige mit der deutschen Sprache befaßte Berufsgruppe gewesen war, die bei der übers Knie gebrochenen Reform der neunziger Jahre beratend hatte mitwirken dürfen; Autoren, Redaktionen und Verlage waren von dieser Mitwirkung bekanntlich ausgeschlossen worden. Die 2006 vollzogene zweite Reformstufe erweckte Hoffnungen darauf, daß mit ihr eine wirkliche Freigabe auf dem Gebiet vollzogener Einseitigkeiten und Fehlnormierungen eintrete; dem steht das Normierungsbedürfnis nicht nur der Pädagogik, sondern auch von Verlagen entgegen, die von der Furcht getrieben werden, daß orthographisch ununterrichtete Leser/Rezensenten das Vorkommen von Varianten innerhalb eines Buches für einen Ausdruck von Nachlässigkeit halten. So jedenfalls argumentierte der betreffende Verlagschef, der sich, was die von mir gewählten Schreibweisen anbetraf, durchaus auf meine Seite stellte. Sein Versuch, sie mir auszureden, argumentierte allein mit der Voraussetzung eines „dummen Lesers“, der von der Varianten-Zulassung nichts weiß und ihre In-Anspruch-Nahme darum für einen Fehler hält.
So dient das Auszeichungsunwesen der Nachschlagwerke, das zweifellos auch in zahlreiche Computer-Rechtschreibprogramme eingegangen ist, vielen Verlagen und Redaktionen dazu, die aus zwingenden Gründen wieder zugelassenen Schreibweisen durch eigenen Machtspruch zu unterdrücken; sie blockieren damit eine freie Entwicklung der deutschen Rechtschreibung. Dummheit siegt, wäre die kürzeste Formel für die von leichtfertig-machtberauschten Linguisten Anfang der neunziger Jahre eingeleitete Fehlentwicklung, die auch der Geltung der deutschen Sprache im Ausland schweren Schaden zugefügt hat. Der einzelne Autor sieht sich, wenn er es mit autoritativ gesteuerten Redakteuren oder Redakteurinnen zu tun hat, vor die Alternative gestellt, in Fehlschreibungen wie „tief greifend“ einzuwilligen oder mit der Zurückziehung des Textes zu drohen. Daß mir dies in dem genannten Fall nach lebhafter Debatte erspart blieb, war erfreulich. Aber welch ein Mißverhältnis zwischen der dazu in mehreren Stufen brieflich wie mündlich aufgewandten Energie und dem Resultat, der Verlagseinwilligung in amtlich genehmigte Schreibweisen! Versteht sich: bei Suhrkamp/Insel oder bei Sinn und Form muß man solche Auseinandersetzungen nicht führen. Bei weniger erprobten Verlagen sollte man sich vertraglich bescheinigen lassen, die zugelassenen Varianten der amtlichen Rechtschreibung auch anwenden zu dürfen.
Friedrich Dieckmann, August 2015
Link: http://www.deutscheakademie.de/de/aktivitaeten/projekte/sprachkritik/2015-09-01/die-diktatur-des-gelbdrucks
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Kommentare zu »Die Diktatur des Gelbdrucks« |
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Kommentar von Hans-Jürgen Martin, verfaßt am 21.11.2015 um 20.24 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=739#10337
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"Die zugelassenen Varianten der amtlichen Rechtschreibung auch anwenden zu dürfen", ist (wenn überhaupt) nur ein halber "Sieg" - und erinnert mich an das "Privileg" des Verurteilten, selbst die Hinrichtungsmethode auswählen zu dürfen, obwohl er unschuldig ist: Worin besteht eigentlich das Sprachwerk eines Autors, wenn nicht in seiner Sprache?
Nicht erst seit die "Reformer" dummdreist verkündeten, die Sprache selbst sei von der Reform gar nicht betroffen, greifen viele Verlage mit dreister Selbstverständlichkeit in Buchprojekte ein in dem Glauben, der Inhalt der Sprache sei von ihrer "Form" zu trennen und letztere Sache des Lektors. Das führt dazu, daß viele Werke einen zusätzlichen Autor bzw. "Ghostwriter" haben: den Verlag bzw. den Duden bzw. die KMK. Wirklich authentisch sind daher nur die Werke finanziell unabhängiger und sprachbewußter Autoren, die keine Eingriffe in ihr Werk zulassen, erst recht keine "tief greifenden".
Wer es sich leisten kann, sollte es diesen Autoren gleichtun und sich die uneingeschränkte Herrschaft über seine eigene Sprache vertraglich zusichern lassen.
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 22.11.2015 um 13.16 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=739#10338
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Also existiert doch eine Zensur, nämlich der Rechtschreibung durch manche Verlage. Wir haben viel von der DDR geerbt.
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Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 23.11.2015 um 08.48 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=739#10339
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Bei allem Respekt für Herrn Dieckmann meine ich doch, daß die treibende Kraft hinter der "Reform" nicht die Lehrerschaft war, sondern eine Gruppe irregeleiteter Professoren und anderer aus dem "akademischen" Mittelbau (Heller, Mentrup; damals auch noch Gallmann) sowie Verwaltungsbeamte.
Für die Treueschwüre der GEW und anderer Lehrerverbände zur Neuregelung bzw. der KMK gab es ganz andere Hintergründe, und zwar solche, die mit den Inhalten rein gar nichts zu tun hatten.
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Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 12.03.2016 um 22.21 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=739#10446
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Navid Kermanis Bücher, ob bei Hanser oder bei Beck, sind in der herkömmlichen Rechtschreibung gehalten. Ausnahmen sind die einführenden und die Werbetexte der Verlage. Dies gilt auch für das erst im Februar 2016 erschienenen Buch "Ungläubiges Staunen. Über das Christentum".
Man darf wohl davon ausgehen, daß Navid Kermani hierauf großen Wert gelegt hat. Bei Beck und Hanser wurde die sog. Neue Rechtschreibung ohnehin sehr zögerlich eingeführt, aber von Kritik oder gar Widerstand war von beiden Verlagen nichts zu vernehmen.
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