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03.05.2010
 

Sprachsicherheit
Vorschau auf die Frühlingstagung der SOK

Am Donnerstag, den 20. Mai 2010, hält die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK) im Zunfthaus zur Waag, Zürich, ihre Frühlingstagung ab (Beginn 15 Uhr). Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber veröffentlichen wir hier die Vorschau auf diese Tagung, wie sie demnächst in den Mitteilungen 1+2/2010 des Sprachkreises Deutsch (Bern) erscheinen wird.

Eine sichere und klare Sprache ist Voraussetzung unseres Zusammenlebens. Arthur Schopenhauer schrieb: „Eine Sprache soll den Gedanken ausdrücken; nicht uns überlassen ihn zu rathen.“ Das gilt natürlich auch für die schriftliche Form der Sprache, und damit ist der Rechtschreibung ihr Platz bestimmt: es ist keineswegs der Platz in der Ecke. Auch wer die Orthographie mit heftigen Ausdrücken verdammen oder in herablassender Abgeklärtheit als unwichtig abtun möchte, hält sich an sie, wenn er seine Stellungnahme aufschreibt – damit er gelesen und verstanden werden kann.

Wie steht es mit der Sprachsicherheit im vierzehnten Jahr der Reform der Rechtschreibung? Wird der Kompromiß, den der Rat für Rechtschreibung ausarbeitete, angenommen? Sind Sprachrichtigkeit und Einheitlichkeit der Rechtschreibung wiederhergestellt? (In Klammern: Die Antwort lautet nein.) Ein Fachreferat von Stefan Stirnemann gibt einen Überblick: „Grundsätze, Grund-Sätze, grunzende Sätze - Bericht zur Lage der Rechtschreibungen im Jahre 2010“.
Anschließend findet eine Arena statt. Es leitet sie der unvergessene Herr der Arena: Filippo Leutenegger, Gründungsmitglied der SOK, Nationalrat, Leiter des Verlages neue-ideen.ch AG. Im Podium sind vertreten: Der Verein „Medienkritik Schweiz“, die Autorinnen und Autoren der Schweiz (AdS), die Interessengemeinschaft Österreichischer Autorinnen und Autoren (IGAA), der Rat für deutsche Rechtschreibung und die Arbeitsgruppe der SOK.
Wie es zu einer Arena gehört, sind alle Anwesenden Gesprächsteilnehmer. Thema: Sprachsicherheit in der Presse, in der Literatur, im Staat und in der Schule. Ein Imbiß und Umtrunk wird Gelegenheit für weitere Gespräche geben. Möglich gemacht wird die Tagung durch den Sprachkreis Deutsch SKD.

Ein paar Schlaglichter auf das Thema: In der Schweizer Presse wird der wichtigste Grundsatz der SOK, „Bei Varianten die herkömmliche“, zunehmend befolgt. Und eine wachsende Zahl von Zeitungen und Zeitschriften setzt auch weitere Empfehlungen der SOK um, auch jene Empfehlungen, mit denen sich die SOK vom Rat für Rechtschreibung entfernt. Damit wird die kluge Auswahl der Regeln, welche die NZZ seinerzeit getroffen hat und welche die Grundlage der Arbeit der SOK bildet, in der Schweiz immer fester verankert. Eine weitergehende Vereinheitlichung in der Schweiz wird die Verkrampfung lösen, in die Deutschland gefallen ist.

Wie steht es mit der Literatur? Die Autorinnen und Autoren Österreichs haben vertraglich erreicht, daß ihre Texte nicht einfach für Schulbuchzwecke an neue orthographische Normen angepaßt werden dürfen. Ihre Schweizer Kollegen und Kolleginnen werden ihnen hier folgen. Und zahlreich sind die Neuerscheinungen, die sich um die Reform und ihre Reformen nicht im geringsten kümmern. Zwei Beispiele: Die wunderbare, tausendseitige Gedichtsammlung, welche Wulf Kirsten im Ammann Verlag herausgegeben hat („Beständig ist das leicht Verletzliche“, Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan, 2009), und die Tagebuchfragmente aus dem Nachlaß von Max Frisch, bei Suhrkamp herausgegeben von Peter von Matt (Max Frisch, Entwürfe zu einem dritten Tagebuch, 2010).

In der staatlichen Verwaltung gilt nach wie vor der Leitfaden der Bundeskanzlei (3., vollständig neu bearbeitete Auflage, 2008). Die neue Auflage ist zwar in manchem besser als ihre beiden Vorgängerinnen, aber auch sie ist noch fehlerhaft genug. Mitglieder der Arbeitsgruppe der SOK haben sich mehrere Male in die Berner Bundesverwaltung bemüht und haben den Verfassern dieses Leitfadens und ihrer Vorgesetzten, der Bundeskanzlerin Casanova, ausführlich gezeigt, was alles zu verbessern ist (vgl. „Besser ist nicht gut genug“, Mitteilungen Nr. 1+2/2009). Man weiß in Bern, daß es nicht um Kleinigkeiten geht. Und dennoch hat Margret Schiedt, Autorin des Leitfadens und Mitglied des Rates für Rechtschreibung, gemäß einem Protokollentwurf im Rat für Rechtschreibung kaltblütig erklärt, daß Korrekturbedarf nur in wenigen Fällen bestehe.

Und die Schule? Lehrer und Schüler, welche die Rechtschreibung ernst nehmen, werden an der Nase herumgeführt. Als Beispiel sollen Ulrich Knobels „Übungen zur Rechtschreibung“ dienen, welche der Verlag der Sekundarlehrerkonferenz des Kantons Zürich herausgegeben hat. Wer das teure Werk heute kauft, kann auf vielen Seiten Regeln lernen und einüben, die zum Teil schon im August 2000, als das Buch erstmals erschien, überholt waren. Für Knobel ist immer noch „Es tut uns Leid“ richtig, und „Sie hat recht“ falsch. (Vgl. „Ulrich Knobel verbessert Reiner Kunze“, Mitteilungen Nr. 2/2005.) Daß solche Bücher angeboten werden, zeigt, was ihre Verfasser und Verleger von Schülern und Lehrern halten, nämlich nichts – für die Schule ist offenbar alles gut genug. Aber auch das sogenannte Referenzwerk, das der LCH, der Dachverband der Schweizer Lehrkräfte, mit den Erziehungsdirektoren aushandelte, ist unbrauchbar: der Schweizer Schülerduden. Seine Autoren fühlen sich auch solchen Grundsätzen der Reform verpflichtet, die der Rat für Rechtschreibung aufgehoben hat, und unterschlagen viele Schreibweisen, so daß einem Schweizer Schüler „seit langem“ als Fehler angestrichen werden muß, obwohl der Rat für Rechtschreibung die Kleinschreibung gelten läßt.

Das Grundproblem ist, daß die Öffentlichkeit nicht Bescheid darüber weiß, was unter dem Titel „Rechtschreibreform“ in den letzten Jahren getan wurde und wie die Lage heute ist. Wer Bescheid weiß, dessen Urteil steht fest. Die Öffentlichkeit zu unterrichten ist ein Hauptanliegen der SOK.

Es gibt also genug zu besprechen, und es gibt vor allem genug zu tun. Die Reise nach Zürich wird sich lohnen. Willkommen im Zunfthaus zur Waag!



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Kommentare zu »Sprachsicherheit«
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Kommentar von SOK, verfaßt am 10.05.2010 um 13.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=651#8200

Frühlingstagung 20. Mai 2010: Sprachsicherheit

Programm

14.30 Eintreffen und Kaffee

15.00 Begrüssung durch die Kopräsidenten der SOK:
· Peter Zbinden, Präsident Sprachkreis Deutsch (SKD)
· Filippo Leutenegger, Nationalrat (FDP)

15.15 Fachreferat Stefan Stirnemann,
Gründungsmitglied/Mitglied der Arbeitsgruppe der SOK:
Grundsätze, Grund-Sätze, grunzende Sätze
Bericht zur Lage der Rechtschreibungen im Jahre 2010

16.00 Arena:
Sprachsicherheit in der Presse, in der Literatur, im Staat, in der Schule
Moderation: Filippo Leutenegger
Es diskutieren:
· Frau Nicole Pfister Fetz, Geschäftsführerin des Verbandes Autorinnen und Autoren der Schweiz AdS
· Gottlieb F. Höpli, Präsident des Vereins Medienkritik Schweiz
· Ludwig Laher, Vertreter der Interessengemeinschaft Österreichischer Autorinnen und Autoren IGAA und Mitglied des Rates für Rechtschreibung
· Prof. Dr. Dr. Rudolf Wachter, Sprachwissenschaftler (Universitäten Basel und Lausanne), Gründungsmitglied/Mitglied der Arbeitsgruppe der SOK

17.00 Anschliessend: Aussprache
Beschluss zum weiteren Vorgehen
Ausblick auf die Herbsttagung in Basel
Urs Breitenstein, Gründungsmitglied/Mitglied der Arbeitsgruppe der SOK, Vorstand von LiteraturBasel

17.30 Apéro riche


Kommentar von B Janas, verfaßt am 10.05.2010 um 16.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=651#8201

Wirkliche Sprachsicherheit ist, so fürchte ich, im Deutschen nicht (mehr) auf breiterer Basis zu erreichen. Meine Sympathie wächst für das Öttingersche Konzept einer Aufgabenteilung: Das Englische für alles Exakte und Prägnante, wo man korrekt verstanden werden will, das Deutsche als Feierabendsprache, wo es nicht so drauf ankommt, was man und wie man es sage. Warum soll man das als Degradierung sehen, es kann doch zu einer neuen Blüte ganz anderer Art führen und auch viel besser in eine nun doch gründlichst gewandelte Zeit passen.
Und welche Sprache eignete sich denn besser als Feierabendsprache und könnte es darin womöglich zu Ansehen in der Welt bringen? Andere haben ein treffendes Wort für "Feierabend" doch gar nicht, bezeichnenderweise das Englische noch nicht einmal als Lehnwort, dafür aber "Zeitgeist" und "Weltanschauung" und solche Sachen.
Ich möchte doch sehr dafür plädieren, die Idee nochmal sine ira et studio zu ventilieren.


Kommentar von Profil 10/2008, verfaßt am 17.05.2010 um 16.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=651#8209

(Profil – Das Magazin für Gymnasium und Gesellschaft des Deutschen Philologenverbands)

10 Jahre Rechtschreibreform
Von Bernhard Fluck

Am 1. August 1998 wurde die Einführungsphase der neuen Rechtschreibung in Schulen und öffentlichen Verwaltungen gestartet, und am 1. August 2006 trat das modifizierte Regelwerk amtlich in Kraft. Nachdem inzwischen zehn Jahre vergangen sind, könnte es den Anschein erwecken, daß allgemeine Zufriedenheit eingekehrt sei und niemand mehr über die Veränderungen nachdächte. Offiziell mag das stimmen, denn die politisch Verantwortlichen haben sich vom Thema verabschiedet, allerdings mit einem merkwürdigen Satz der damaligen KMK-Präsidentin Johanna Wanka im Spiegel-Interview Januar 2006: „Die Kultusminister wissen längst, daß die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.“

Zwischenzeitlich ist dem Rat für deutsche Rechtschreibung unter dem Vorsitz von Dr. Hans Zehetmair, Staatsminister a.D., die Verantwortung für die weitere orthographische Entwicklung übertragen worden. Konkret lauten die Arbeitsziele: Bewahrung der Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum, Beobachtung der Entwicklung der Sprachpraxis, Weiterentwicklung des orthographischen Regelwerks im notwendigen Umfang. Mindestens zweimal im Jahr tritt das Gremium zur Beratung zusammen. Herbsttermin ist in diesem Jahr der 24. Oktober 2008. Sitzungsort ist in der Regel das Institut für deutsche Sprache in Mannheim, an dem auch die Geschäftsstelle des Rats für deutsche Rechtschreibung eingerichtet ist.

Daß im deutschen Sprachraum noch keine Ruhe eingetreten ist und die neuen Regeln weiterhin diskutiert werden, zeigt u. a. die Gründung der „Schweizer Orthographischen Konferenz“ (SOK). Dr. Urs Breitenstein aus Basel, Verleger und ehemaliger Präsident des Schweizer Buchhändler- und Verlegerverbandes (SBVV), berichtete auf der Jahresversammlung der Forschungsgruppe Deutsche Sprache e. V. am 26. Juli 2008 in Stuttgart über die Zielsetzung der SOK. Gründungsmitglieder waren Persönlichkeiten aus den Bereichen Verlag, Hochschulunterricht, Gymnasium, Politik und Sprachpflege: Dr. Urs Breitenstein (SBVV); Filippo Leutenegger, Nationalrat und Verleger Medienarena; Peter Müller, Direktor der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA) und deren Beauftragter für deutsche Rechtschreibung, ehemals zehn Jahre Chefkorrektor des „Tages-Anzeigers“; Robert Nef, Herausgeber der „Schweizer Monatshefte“; Stefan Stirnemann, Sprachkreis Deutsch (SKD), Gymnasiallehrer; Professor Dr. Rudolf Wachter, Sprachwissenschaftler, Universitäten Basel und Lausanne; Peter Zbinden, Präsident des Sprachkreises Deutsch. In der Arbeitsgruppe der SOK wirkt u. a. auch Stephan Dové, Chefkorrektor der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) und Delegierter des Verbands Schweizer Presse (VSP) im Rat für deutsche Rechtschreibung, mit.

Zielsetzung der SOK, der mehrheitlich qualifizierte Sprach-Fachleute und auch zahlreiche aktive Journalisten und Autoren angehören, ist, „die von der Rechtschreibreform beschädigte Einheitlichkeit und Sprachrichtigkeit der Rechtschreibung in Presse und Literatur der Schweiz wiederherzustellen“. Als dritter Aspekt, der für die Printmedien besonders wichtig ist, soll die Lesefreundlichkeit gefördert werden. Den Zugang zu den Texten für den Leser zu erleichtern, wird als wichtiger angesehen als Erleichterungen für Wenigschreiber, zumal es wesentlich mehr Lesende als Schreibende gibt. Die sogenannte neue Rechtschreibung, moniert die SOK, gewährleistet trotz vieler Verbesserungsversuche auch in ihrem zwölften Jahr keine Lesefreundlichkeit, Sprachrichtigkeit und Einheitlichkeit.

Das Vorgehen der SOK kann als pragmatisch bezeichnet werden. Die Konferenz will nicht einfach zur Orthographie vor 1996 zurückkehren. Reformierte Schreibweisen wie die Dreikonsonantenregel (helllicht) sowie die ck- und st-Trennung (Zu-cker, Meis-ter) und andere werden nicht beanstandet. Auch die s-Schreibung, die in der Schweiz schon längst Usus war, ist kein Diskussionsthema.

Änderungsbedarf sieht die Schweizer Orthographische Konferenz dagegen bei folgenden Problemfeldern: für sie ist die Einheitlichkeit der Rechtschreibung angesichts der um ein Vielfaches vermehrten Varianten nicht mehr gegeben, und die Sprachrichtigkeit wird durch die Aufgabe der Unterscheidungsschreibung (wohl bekannt / wohlbekannt, nahe liegend / nahe liegend), durch volksetymologische, also falsche Herleitungen (belämmert, gräulich, Tollpatsch) sowie die antiquierte Großschreibung von Nichtsubstantiven (im Voraus, jedes Mal) verletzt. Darunter leidet – dies ist entscheidend für die SOK – besonders die Lesefreundlichkeit: „ Der Leser wird vor Rätsel gestellt oder irregeführt, seine Aufmerksamkeit wird auf Nebensächliches gelenkt, aufgrund der vermehrten Varianten findet er Gleiches immer wieder unterschiedlich geschrieben.“

Empfehlungen der Schweizer Orthographischen Konferenz

Von der Vielzahl der Vorschläge und Empfehlungen der SOK zur Verbesserung der Rechtschreibsituation, die auf ihrer Homepage ausführlich nachzulesen sind, kann hier nur eine Auswahl von Beispielen und Begründungen aufgeführt werden:

Bei Varianten die herkömmlichen wählen. Die Variantenflut soll durch die Anwendung dieses Grundsatzes, der auch mit der neuen Rechtschreibung kompatibel ist, eingedämmt werden: aufwendig, nicht aufwändig; hochachten, nicht hoch achten usw. Die herkömmliche Variante ist bei Duden und Wahrig leicht zu erkennen, da die reformierten Änderungen farbig gekennzeichnet sind. Allerdings unterscheidet die SOK zwischen echten und unechten (keinen) Varianten. Echte sind nur solche mit unterschiedlichen Schreibweisen, die dasselbe bedeuten (Delphin / Delfin). Keine Varianten sind unterschiedliche Schreibweisen mit Bedeutungsunterschied: ein vielversprechender Politiker (von ihm wird viel erwartet) und ein viel versprechender Politiker (er verspricht vieles). Die SOK empfiehlt in diesen Fällen, den Bedeutungsunterschied kenntlich zu machen, da keine Austauschbarkeit, sondern eine andere Sinngebung zugrunde liegt. Daß der Rat für deutsche Rechtschreibung dieses wichtige Unterscheidungsmerkmal aufgegeben hat, hält die SOK für einen Fehler. – Der Grundsatz der SOK, bei den zugelassenen Varianten „die herkömmlichen“ zu wählen, aber auch andere Grundsätze, wie z. B. die ursprünglichen Kommaregeln zu verwenden, werden bereits weitgehend von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, dem Spiegel, der Schweizerischen Depeschenagentur und der Neuen Zürcher Zeitung angewendet.

Abkehr von den willkürlich herausgepickten ä-Schreibungen und Einzelfall-Regelungen. Die SOK stellt fest, daß die mit der Begründung der „Stammschreibung“ von e auf ä geänderten Schreibweisen willkürlich ausgewählt wurden. So wurde Gemse, die von Gams abstammen soll, in Gämse umbenannt. Mit dem gleichen Argument hätte man Dutzende, wenn nicht Hunderte Wörter umstellen (oder wie bei aufwändig die ä-Form als Variante zulassen) können: z. B. dänken (wegen Gedanken), frässen (wegen Fraß), mässen (wegen Maß), Spängler (wegen Spange), sätzen (wegen Satz) usw. – Ähnliches gilt für die Einzelfallregelungen wie Ass, Tipp und Mopp. Werden hier die auslautenden Konsonanten verdoppelt, müßte dies auch bei Flopp, Tripp, Hitt, fitt und anderen erfolgen. Daher empfiehlt die SOK, diese geänderten Schreibweisen nicht zu beachten.

Bei falsch hergeleiteten Wörtern die bisherige Schreibweise verwenden. Die SOK beanstandet, daß die Rechtschreibreform als angebliche Erleichterung für Primarschüler falsche Herleitungen nicht nur als Varianten erlaubt – was zur Not noch hinzunehmen wäre – sondern zur einzigen Schreibweise erklärt: belämmert (statt: belemmert); platzieren (statt: plazieren) usw. – Die SOK empfiehlt, diesen falschen Herleitungen nicht zu folgen, sondern die richtigen anzuwenden: Zierat; nicht Zierrat; numerieren, nicht nummerieren; Platitüde, nicht Plattitüde usw.

Ableitungen von Personennamen auf „-isch“ und „-sch“ grundsätzlich klein schreiben, außer bei zum Begriff gewordenen Ausdrücken wie „Halleyscher Komet, Ohmsches Gesetz“ usw. Also: goethesche Gedichte, bachsche Musik.

Bei Möglichkeitsformen, Versrhythmen u. ä. muß „e“ nach „ie“ möglich sein: vgl. Rilke Duineser Elegie: „Wer, wenn ich schriee…“

Sparsame Verwendung der Großschreibung. Die Reform macht hier einen Schritt zurück ins 19. Jahrhundert, etwa in „der Erstere“. Demgegenüber empfiehlt die SOK, Pronomen und Adverbien klein zu schreiben: verschiedenes, jung und alt, der erste beste, im folgenden, am besten, aufs beste. Die Rechtschreibreform führt zu unnötigen Komplizierungen: in einigen Fällen bleibt sie beim kleinen Buchstaben (ein bisschen, vor allem), verordnet in anderen den großen (im Übrigen, der Erstere) und erlaubt in anderen Fällen beide Möglichkeiten (der eine/Eine, der andere/Andere, bei Weitem/bei weitem, aufs Beste/aufs beste). Die SOK hält dieses Verfahren für sinnlos und plädiert bei pronominal und adverbial gebrauchten Ausdrücken für die Kleinschreibung.

Tageszeiten klein, nicht groß: heute abend, gestern vormittag. Mit Artikel aber: ein Sonntagabend, in der Montagnacht.

Zusammensetzungen mit „-mal“ klein: jedesmal, beidemal, einigemal usw.

Bei festen Redewendungen die herkömmliche Schreibung zulassen: z. B. auf dem laufenden / Laufenden sein; im dunkeln / Dunkeln tappen.

Bindestrich bei Ziffern weglassen: z. B. 19jährig, nicht 19-jährig; 8fach, nicht 8-fach.

Lateinische Fügungen: Erstes Wort groß, weitere klein: z. B. Angina pectoris, Curriculum vitae.

Diese Auswahl der Vorschläge und Empfehlungen zeigt, daß die SOK eine Kompromißlinie anstrebt, um Lesefreundlichkeit, Einheitlichkeit und Sprachrichtigkeit der deutschen Orthographie im Konsens mit einer breiten Befürworter-Mehrheit zu erreichen. Dabei geht es ihr nach eigenen Aussagen nicht um einen Kampf zwischen alter und neuer Rechtschreibung, zumal die angeblich neue Orthographie in vielen Fällen die alte des 19. Jahrhunderts ist. Es geht ihr um eine sachliche Auswahl der guten Schreibweisen. Auswahlkriterien sollen dabei Sprachgebrauch und Sprachrichtigkeit sein.

Was verspricht sich die SOK von ihrer Intervention?

Daß führende Zeitungen und die Nachrichtenagentur SDA bereit sind, die Empfehlungen der SOK zu übernehmen, kann als Indiz gewertet werden, daß bei einer wachsenden Zahl von Vertretern der Printmedien und Verlagen die augenblickliche deutsche Rechtschreibsituation als unbefriedigend und desolat angesehen wird. Dies zeigt auch die Einschätzung von Dr. h. c. Michael Klett, Vorstandsvorsitzender der Ernst Klett AG und Schulbuchverleger: „Es ist keine Frage, daß das Regelwerk des Rates für deutsche Rechtschreibung sehr verbesserungsbedürftig ist. Daher sind die Initiativen der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK) jetzt gerade das Richtige. Der Weg, den sie einschlägt, wird insbesondere den Schulen helfen, mehr Sicherheit im aktuellen Durcheinander zu gewinnen.“ (2008)

Die Arbeitsgruppe der SOK ist wie folgt vorgegangen: Sie hat das Regelwerk des Rates für deutsche Rechtschreibung geprüft und Empfehlungen und Wörterlisten ausgearbeitet. Dabei setzt sie die Verbesserungen des Rates für deutsche Rechtschreibung konsequent um und führt in einigen Bereichen weitere durch. Rechtschreibräten und Politikern ist nicht verborgen geblieben, wie das bereits erwähnte Zitat der KMK-Präsidentin Johanna Wanka von 2006 zeigt, daß die Rechtschreibreform mißglückt ist und erst die augenfälligsten Fehler korrigiert sind. Das bestätigt auch die Aussage von Dr. Hans Zehetmair, Vorsitzender des Rates für deutsche Rechtschreibung: „Durch den Rat für deutsche Rechtschreibung sind der gröbste Unsinn und die schlimmsten Fehler beseitigt worden.“ (2006)

Beim Rat für deutsche Rechtschreibung gibt es allerdings ein Strukturproblem. Dieser vor zwei Jahren eingesetzte Rat sollte die großen Schwachstellen der Reform beheben. Da er seine Beschlüsse mit Zweidrittelmehrheit faßt und im Rat überwiegend die bisherigen Mitglieder der aufgelösten Zwischenstaatlichen Kommission sitzen, alles Vertreter der ursprünglichen Rechtschreibreform, führte dies dazu, daß in vielen Fällen die herkömmlichen, sprachrichtigen Schreibweisen nur als Varianten und ohne Bedeutungsdifferenzierung neben die reformierten Schreibweisen gesetzt werden konnten. Dahinter spürt man die Tendenz, immer noch möglichst viel von der alten Reform zu retten. Die vielen möglichen Varianten verhindern jedoch eine allgemeine Akzeptanz der Schreibung. Sie sichern nicht die Einheitlichkeit der Rechtschreibung – wie es Auftrag wäre –, sondern haben sie zerrüttet.

Die SOK hat sich nun zur Aufgabe gemacht, den gordischen Knoten zu durchschlagen. Es wäre für die Schulen ein hoffnungsvoller Ausblick, wenn der Rat für deutsche Rechtschreibung durch die Schweizer Intervention zur Weiterarbeit ermutigt würde und die aus Rücksicht auf die deutsche Innenpolitik abgebrochene Verbesserung der Reform unter Berücksichtigung der Empfehlungen der SOK fortführte.


(Zur Person siehe www.dphv.de [Pressemitteilung zum 75. Geburtstag]; diesen Text als PDF-Datei hier)


Kommentar von Kurt Albert, verfaßt am 18.05.2010 um 18.49 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=651#8210

Rechtschreibung und Behörden – aus wiederholt gegebenem Anlaß

Dieser Tage fand ich bei Grillparzer eine schöne Stelle:

"Man will eine neue Rechtschreibung in den Schulen einführen. Ich bitte die Behörden, es zu unterlassen.
Man muß Neuerungen überhaupt nur einführen, wenn sie notwendig oder von wesentlichem Nutzen sind, sonst hat das Bestehende die Vorrechte des Natürlichen. [...]
Die Sprachen werden durch den Gebrauch und die großen Schriftsteller gemacht. [...]
Was für jedermann gilt, gilt vor allem für die Schule. Sie hat nichts vorzutragen, als was sich durch längere Geltung als gut und richtig erwiesen hat."

(Aus: "Sprachliche Studien", 1856; zitiert nach Band 15 der Ausgabe "Sämtliche Werke", hrsg. von Moritz Becker, Leipzig, ca. 1902.)


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.05.2010 um 09.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=651#8211

Auf die schöne Stelle bei Grillparzer hatte schon Manfred Riebe hingewiesen, mit längerem Zitat nachzulesen unter http://www.vrs-ev.de/forum/themaschau.php?t=546.

Versteht sich, daß bei Reclam usw. auch Grillparzer rigoros auf Reformschreibung umgestellt wird. Das vorausgesagte schnelle Veralten ist auch längst eingetreten.

Gerade fiel mir wieder auf, wie sämtliche germanistischen Institute hinter jeder Wendung der Reformer herhecheln, als gelte es einen Exzellenz-Preis in Unterwürfigkeit zu gewinnen.


Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 19.05.2010 um 10.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=651#8212

In diesem Forum hat Herr Birken-Bertsch schon auf diesen Text von Grillparzer hingewiesen und dort auch den Kontext erläutert.

Inzwischen ist übrigens auch die historisch-kritische Gesamtausgabe Grillparzers (herausgegeben von August Sauer) im Internet verfügbar, man kann den Text hier nachlesen.



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