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20.10.2008
 

Herbert E. Brekle
Kriteriengestützte Vorschläge zur Getrennt-/Zusammenschreibung und zur Groß-/Kleinschreibung

Lesen Sie hier eine revidierte Fassung* des Vortrags, den Prof. Brekle auf der Jahrestagung der FDS am 26. 7. 2008 in Stuttgart gehalten hat.


Im folgenden sollen einige Empfehlungen zu zwei notorisch problematischen Kapiteln der deutschen Orthographie gegeben werden. Dabei wird bewußt nicht auf die Ergebnisse der Kommission bzw. des Rates zur Reform unserer Rechtschreibung eingegangen (vgl. Theodor Icklers Kommentar dazu vom 31. 3. 2006). Bezug wird dagegen genommen auf Joachim Jacobs’ tiefschürfende Monographie zum „System der Getrennt- und Zusammenschreibung im heutigen Deutsch“ (2005), die mir leider erst nach Fertigstellung der ersten Fassung meiner Ausführungen bekannt geworden ist, und auf Horst Haider Munskes „Lob der Rechtschreibung“ (2005).

Die hier angegebenen Kriterien sollen dem Leser und Schreiber ermöglichen, wesentliche Gesetzmäßigkeiten und Tendenzen in den beiden Problemfeldern zu erkennen, um so in Problemfällen entscheiden zu können. Weiterreichende theoretische Ansprüche werden nicht erhoben.


1. Getrennt- und Zusammenschreibung

Zunächst ist systematisch zu unterscheiden zwischen der Ebene der Wörter mit ihrer morphologischen bzw. morphosyntaktischen Binnenstruktur (Wortsyntax) und der Ebene des Satzes mit seiner satzsyntaktischen Phrasenstruktur (syntaktische Gruppen) (vgl. Jacobs 2005, 4.1.1 Morphologische Bildung und 4.1.2 Interaktionen zwischen morphologischer und syntaktischer Bildung).
Auf der Wortebene gelten die verschiedenen Wortbildungsmuster mit ihren Konstruktionsregeln (Wortsyntax), weiters das Kriterium der Lexikalisiertheit (man beachte jedoch die Möglichkeit von ad hoc-Bildungen bei produktiven Wortbildungsmustern; hier können ständig neue Wörter erzeugt werden).
Aus wortsyntaktischen Strukturen können sich – je nach Grad der Lexikalisiertheit und der morphologischen Opazität – idiosynkratische Bedeutungen ergeben. Für unser Thema relevant sind insbesondere die Fälle, in denen scheinbar gleiche syntaktische Strukturen vorliegen: jemanden jemanden freísprèchen vs. freí spréchen, zusámmenr`ücken vs. zusámmen r´ücken (den Sack), zusámmenkòmmen vs. zusámmen kómmen. Die jeweiligen syntaktischen und semantischen Unterschiede zwischen den beiden Bildungstypen sind evident. Als weiteres Kriterium für orthographische Entscheidungen ergibt sich die Berücksichtigung der dem jeweiligen Wortbildungs- bzw. Satzbildungstypus eigenen Akzentuierungsmuster (vgl. Jacobs 2005, 4.1.3 Effekte syntaktischer Prozesse).

Grundregel: Wortsyntaktisch faßbare Ausdrücke sind Wörter und werden als solche zusammengeschrieben; Wörter als Bestandteile syntaktischer Gruppen werden getrenntgeschrieben.

Soweit der Idealfall. Nun gibt es jedoch im Deutschen bei Verbal- und Präpositionalphrasen ein Übergangsfeld zwischen rein satzsyntaktisch faßbaren und eher wortsyntaktisch zu deutenden Ausdrücken (Phraseologismen), die durch jeweils verschiedene Bindungen bzw. Beschränkungen zwischen den regierenden und den regierten Elementen gekennzeichnet sind. Man kann hier von einer Gradationsskala sprechen:

Kollokationen – Phraseologismen – morphologisch komplexe Wörter

Kollokationen (Gefahr laufen, Quartier machen; Wasser trinken, Brief schreiben, …) lassen sich oberflächlich nach der Typ-Häufigkeit der Kombinationen der satzsyntaktisch miteinander verbundenen Wörter erfassen. Sie fallen unter den zweiten Teil der Grundregel.
Phraseologismen (bunter Hund, schöne Bescherung, grüne Witwe; badengehen, …) mit dem ihnen je eigenen Akzentmuster sind in der Regel satzsyntaktische Gruppen, die sich im Sprachgebrauch in bestimmten Lesarten (z.B. metaphorisch, ironisch) verfestigt haben. Sie gehören insoweit in eine Unterabteilung des internen Lexikons. Wie die Kollokationen fallen sie normalerweise unter den zweiten Teil der Grundregel.
Zur dritten Gruppe gehören morphologisch komplexe Wörter, die sich aus satzsyntaktischen Gruppen und durch Anwendung von Wortbildungsverfahren wie Univerbierung, Rückbildung entwickelt haben. Solche Kombinationen können sich im Gebrauch verfestigen, mit dem Ergebnis, daß das Objekt der ursprünglichen Verbalphrase (Stand) mit dem Verb (halten) unter bestimmten satzsyntaktischen Bedingungen (infinite Konstruktion) in einem Wort verbunden erscheint: stándhàlten, standgehalten; im Falle einer finiten Konstruktion wegen satzsyntaktischer Zwänge jedoch nach ihren Bestandteilen getrennt erscheinen („Er hält dem Angriff stand“).

Die Entwicklung verläuft also von satzsyntaktischen Konstituenten über phraseologische Gruppen mit wachsenden syntaktischen und semantischen Beschränkungen bis hin zu – satzsyntaktisch bedingt – sogenannten trennbaren bzw. untrennbaren Wörtern (letztere in der Regel lexikalisiert).
Ablesbar sind solche Prozesse bei der Bereicherung der Menge der Präpositionen und Konjunktionen: anhand, inmitten; anstatt, sodaß, sofern. In einem Übergangsfeld befinden sich Bildungen wie zugunsten/zu ?Gunsten (bei Erweiterung schlagen satzsyntaktische Kriterien durch: zu deinen Gunsten vs. *zu deinen gunsten).

Bei anderen syntaktischen bzw. phraseologischen Gruppen auf verbaler Basis kommen zu deren Unterscheidung prosodische, grammatische und semantische Kriterien zum Tragen.

Adverb + Verb

zusámmen kómmen vs. zusámmenkòmmen, frei sprechen (intr.) vs. freisprechen (trans.), krank schreiben vs. krankschreiben; etwas blau machen vs. blaumachen, hübschmachen (vgl. verhübschen) („herausputzen“) vs. hübsch machen („nett“), leer laufen (Maschine) vs. leerlaufen (Faß), mies machen vs. miesmachen.
Die jeweils ersten Beispiele zeigen syntaktische Gruppen, die jeweils zweiten sind phraseologische Gruppen mit speziellen prosodischen (Kontrastakzent), grammatischen (Transitivierung, Resultativbildung) und semantischen Eigenschaften. Letztere gehören ins Lexikon, Abt. trennbare Phraseologismen (vgl. Jacobs 2005, 4.1.42).
Gleichwohl mag es auch echte Variantenschreibungen ohne Bedeutungsunterschied geben: sich wohl fühlen – sich wohlfühlen. Der Schreibgebrauch könnte sich zugunsten des letzteren entscheiden.

Objektsubstantiv + Partizip Präsens

Gewinn bringend vs. gewinnbringend, Aufsehen erregend vs. aufsehenerregend, Fleisch fressend vs. fléischfrèssend.
Syntaktische Gruppen sind intern erweiterbar, Phraseologismen können nur als ganze modifiziert werden, es sind insoweit Wörter: überaus aufsehenerregend; sie zeigen wie üblich den Kontrastakzent. Sie ermöglichen im Vergleich mit parallelen syntaktischen Gruppen komprimiertere Konstruktionen und weisen in der Regel keine semantische Besonderheiten auf (vgl. jedoch fléischfrèssend [habituell]).

Adverb + Partizip Präsens

Allein stehend vs. alleinstehend (Kontrastakzent, semantisch spezifiziert)

Adverb/Präpositionalphrase + Partizip Perfekt

Schwer behindert vs. schwerbehindert (per def.), gut gelaunt (kontingent) vs. gutgelaunt (habituell); frisch gebacken vs. frischgebacken (metaphorisch), hart gesotten vs. hartgesotten; (vom) Fußball begeistert vs. fußballbegeistert, (im) Krieg gefangen vs. kriegsgefangen (Fugen-s!).
Hierher gehört auch der häufig vorkommende Problemfall só genánnt („Warum hast du ihn so genannt?“) vs. sógenànnt („Die sogenannte Judensau am Regensburger Dom …“).
Die Beispiele unterscheiden sich nach Akzentmuster, syntaktischen Bedingungen und der Semantik.

Adjektivkomposita

Als Bestimmungsglieder können Elemente fast aller Wortarten dienen. Entsprechend inhomogen ist denn auch dieser WB-Typ. Je nach den satzsyntaktischen Beschränkungen sind parallele syntaktische Gruppen möglich, jedoch mit semantischer Differenzierung:
leicht fertig vs. leichtfertig, nicht öffentlich (kontingent) vs. nichtöffentlich (per def.) (Satz- vs. Wortnegation!), früh reif vs. frühreif (verschiedene syntaktische Umgebungen).
Ansonsten gelten die wortsyntaktischen Kriterien (Kontrastakzent, …). Nominalkomposita sind hinsichtlich Getrennt-/Zusammenschreibung problemlos; bei Rektionskomposita wie fruchtbringend, gottergeben gilt das oben Gesagte.

Zusammenbildungen

Das syntaktische, semantische und prosodische Verhalten ist jeweils unterschiedlich.
Só báld wird er uns nicht mehr stören vs. sòbáld er kommt …, só víel verdient er vs. Sòvíel ich weiß, … (Var.: Sòvìel); Sò wóhl es mir tut, sò wénig … (Kontrast) vs. sòwòhl schlécht als auch teuer.
Bei Komposita und syntaktischen Gruppen liegen jeweils andere Akzentmuster vor.

Aus den bei den einzelnen Kategorien zur Unterscheidung zwischen satzsyntaktischen Gruppen und wortsyntaktischen Bildungen angegebenen Kriterien (prosodisch, syntaktisch, morphologisch und semantisch) läßt sich ein – wenn auch komplexes – Regelwerk für Getrennt- und Zusammenschreibung formulieren (vgl. Jacobs 2005, 4.1.41, 5.).


2. Groß- und Kleinschreibung

Zunächst verweise ich auf das Kapitel „Groß oder klein?“ (S. 73–97) in Horst Haider Munskes Lob der Rechtschreibung (2005). Ich stimme mit seinen Analysen und den darauf basierenden orthographischen Empfehlungen weitgehend überein.


Substantive und Quasisubstantive

Grundregel: Im Deutschen werden alle Substantive mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben.

Def.: Substantive zeigen in ihrem Flexionsverhalten morphologisch realisierte Merkmale der grammatischen Kategorien Genus (m., f., n.), Numerus (sg., pl.) und Kasus. Dies gilt auch für abgeleitete Substantive und für Nominalkomposita, die jeweils zusammengeschrieben werden (darauf muß heute leider hingewiesen werden). Die Verwendung von Substantiven in Sätzen und Texten ist durch syntaktische Strukturregeln bestimmt (Satz- und Textsyntax).

Deutsche Sätze können jedoch auch Konstituenten aufweisen, in denen andere als satz- bzw. wortsyntaktische Beschränkungen gelten. Gemeint sind verschiedene Arten sog. fester/unfester Wendungen und Phraseologismen.
Zu ersteren gehören sog. Nominationsstereotype, das sind Wortgruppen mit einem substantivischen Kopf und einem attributiven Adjektiv. Sie zeigen ein eigenes Akzentmuster: das Wèiße Háus (anders im Englischen: the Whíte Hoùse) und unterscheiden sich schon dadurch von parallelen satzsyntaktischen Gruppen wie das wéiße Háus. Erstere lassen intern keine Erweiterungen zu, sie können nur als Ganze modifiziert werden: *das Wèiße, rosenumkränzte Háus; das allmächtige Wèiße Háus (institutionelle Lesart).
Im Gegensatz zu satzsyntaktischen Gruppen haben Nominationsstereotype eine spezifische, konventionell geprägte Bedeutung als Quasi-Eigennamen bzw. als Appellative. Ihr systematischer Ort ist das Lexikon. Zur Unterscheidung von parallel gebildeten satzsyntaktischen Gruppen werden die nominalen Bestandteile eines Nominationsstereotyps großgeschrieben.
Bei Eigennamen mit appositiver Ergänzung (Kàrl der K´ühne, Philipp der Schöne, Iwan der Schreckliche, …) gilt mutatis mutandis das oben Gesagte (mit gleichem Akzentmuster).

Grammatikalisierung und Phraseologisierung

Unter Grammatikalisierung wird gemeinhin der Übergang lexikalischer Einheiten in Wörter anderer grammatischer Funktion verstanden.
Ein Beispiel dafür ist die quantitative Erweiterung der Menge der Präpositionen: dank aus dem Substantiv Dank, falls aus Genitiv von Fall, zugunsten (+ Genitivphrase) aus der heute nicht mehr gebräuchlichen Form *Gunsten. Als Präpositionen werden sie natürlich kleingeschrieben. Bei zugunsten/zu ?Gunsten ist zu beachten, daß hier die Möglichkeit der internen Erweiterung gegeben ist: zu deinen/Peters Gunsten. Nur in dieser Konstruktion kann die genitivische Quasipluralform Gunsten auftauchen und wird dann großgeschrieben.

Deutlicher ausgeprägt ist die Erweiterung der Paradigmen der Demonstrativ-, Possessiv- und der sog. Indefinitpronomina sowie der quantifizierenden bzw. reihenbildenden Ausdrücke (Numeralia).

Demonstrativa

Der (hier, da), dieser, jener, derjenige, solch ein(er), ein solcher, so etwas. Sie können attributiv und substantivisch gebraucht werden: dieses Haus, dies ist gut. Rein pronominal verwendet, haben sie anaphorische oder kataphorische Funktion.
Einige davon sind mit dem bestimmten Artikel verbunden (derjenige, derselbe) und verweisen definit auf vorher Erwähntes oder sonst Bekanntes. Hierher gehören Ausdrücke, die ebenfalls das Paradigma der Demonstrativa erweitern und stets mit dem bestimmten Artikel verwendet werden: der eine, der andere, der gleiche, das folgende, das weitere; derartiges, anderes, ähnliches, obiges, folgendes.
In der Berliner Rechtschreibkonferenz von 1901 wurde für diese Ausdrücke Kleinschreibung vereinbart (vgl. Munske 2005, S. 82).

Possessiva

Das ist meiner/der meine/der meinige (Hut). In der entsprechenden Kommunikationssituation wird mit solchen pronominalen Ausdrücken auf Hut referiert.
In lexikalisierten Ausdrücken tritt die Referenzfunktion zugunsten der einfachen semantisch-identifizierenden zurück: Grüß mir die Deinigen/die Deinen. Das Meine geht dich nichts an.

Sog. Indefinitpronomina

Dies ist eine heterogene Gruppe von Pronomina, mit denen a) unscharfe Mengen verschiedener Mächtigkeit: einige, viele, (ein) wenig, etliche, …; b) alle einzelnen Elemente einer Menge bekannter Mächtigkeit: alle, sämtliche, jeder bzw. die Gesamtheit einer Menge: alles, sämtliches, jegliches; c) das Fehlen von Elementen einer Menge: kein(er), niemand oder d) die Nullmenge nichts erfaßt werden können.
Merkwürdigerweise werden in neueren Grammatiken auch die Kardinal- und Ordinalzahlen zu den Indefinitpronomina gerechnet: eins, zwei, …; der erste, der zweite, …; einer, der eine, ein einziger, der erste/letztere.
Das referenzsemantische Merkmalpaar „definit/indefinit“ wird hier nicht differenziert.
Wie in den Regeln von 1901 festgelegt, sind alle pronominal verwendeten Adjektive kleinzuschreiben.
Echte Substantivierungen werden natürlich großgeschrieben: ein gewisses Etwas, Der Einzelne verschwindet in der Menge. Dies gilt auch für andere Konversionsbildungen aus anderen Wortarten: das Aufgehen der Sonne, das Blau von Rottmann, Ein Zurück gibt es nicht, das Grün (beim Golf), liebe deinen Nächsten, er will nur dein Bestes, eine Vier im Zeugnis, der Geringste unter euch. Diese Substantivierungen sind lexikalisiert oder in Idiomatismen/Sprichwörtern/Zitaten fest eingebettet. Vgl. zu diesen Ausdrucksarten und zum nächsten Abschnitt die grundlegenden Ausführungen bei Helmut Feilke, Sprache als soziale Gestalt. Ausdruck, Prägung und die Ordnung der sprachlichen Typik (1996).

Phraseologismen

Es geht hier um sog. feste mehrteilige verbale oder adverbiale Ausdrücke, deren Bedeutung sich nicht (mehr) aus der semantischen Analyse ihrer phrasensyntaktisch verbundenen Bestandteile erschließt (Idiomatizität). Beide Arten von Phraseologismen sind nicht in dem Sinne als fest oder unveränderlich zu verstehen, daß sie nicht im Einzelfalle erlaubten, eines ihrer Elemente zu modifizieren:
Das tut mir (sehr) leid, ich bin es leid; Er ging (radikal) pleite, Da hast du (aber ganz und gar) den kürzeren gezogen. Verbale Phraseologismen (z.B. das beste aus etwas machen) können eine pronominale Leerstelle enthalten, die mit geeignetem lexikalischem Material aufzufüllen ist (Mach das beste daraus/aus deinen Fehlern/aus dem Mist).
Phraseologismen sind gleichwohl als komplexe lexikalisierte Ausdrücke zu verstehen, die als solche ins Lexikon gehören.
Aus all dem ergeben sich die Kriterien für die Kleinschreibung der darin enthaltenen Pseudosubstantive (not leiden, leid tun, pleite gehen, den kürzeren ziehen, aus dem vollen schöpfen, …).
In den Regeln von 1901 wurde diese Sachlage im wesentlichen schon erkannt.
Festzuhalten ist auch die Tatsache, daß manche Phraseologismen (noch) nicht fest lexikalisiert sind, tendenziell schon: zu ?Gunsten/zugunsten, zu Lasten/?zulasten (interne Modifizierbarkeit). Hier erscheint eine gewisse Varianz in der Orthographie tolerabel.
Munske (S. 89) hat dankenswerterweise den Versuch gemacht, die ca. 40 von ihm aufgelisteten phraseologischen Adverbien in vier formale Gruppen unterzubringen:

1. Flektierte Adjektive + Präposition: binnen kurzem, seit langem, von neuem, von weitem, ohne weiteres, …
2. Adjektive im Genitiv mit Artikel: des langen und breiten, des öfteren, des weiteren, …
3. Flektierte Adjektive nach im und aufs: im folgenden, im nachhinein, im übrigen, im wesentlichen; aufs neue, aufs geratewohl, …
4. Unflektierte Adjektive mit Präposition (auch in Paarformeln): gegen bar, von fern, durch dick und dünn, grau in grau, …

Alle diese Phraseologismen enthalten keine Substantivierungen, sie gestatten keine satzsyntaktischen Erweiterungen; es sind morphologisch komplexe Adverbien, deren Herkunft aus syntaktischen Gruppen (Präpositionalphrasen) nur mehr schwach durchschimmert. Sie werden als Adverbien kleingeschrieben und gehören ins Lexikon, Abteilung Phraseologie.

Eine kleine Anmerkung zum Schluß: warum sollen fremdsprachliche syntaktische Gruppen wie ultima ratio, a tempo, à la bonheur etc. (das erste Wort oder alle Substantive?) mit großen Anfangsbuchstaben versehen werden? In den betroffenen Sprachen gibt es das nicht. Üblich ist von alters her die Kennzeichnung durch Kursivierung bzw. durch Wechsel der Schriftart (Fraktur/Antiqua).

sapienti sat


*Ich danke Herrn Jan-Martin Wagner für nützliche Hinweise.


Literatur

Bredel, Ursula/Günther, Hartmut (Hrsg.) 2006. Orthographie und Rechtschreibunterricht. LA 509
Feilke, Helmut 1996. Sprache als soziale Gestalt. Ausdruck, Prägung und die Ordnung der sprachlichen Typik. Suhrkamp
Fuhrhop, Nanna 2007. Zwischen Wort und Syntagma. Zur grammatischen Fundierung der Getrennt- und Zusammenschreibung. LA 513
Geilfuß-Wolfgang, Jochen 2007. Über die deutschen Worttrennungsregeln, ihr Erlernen in der Grundschule und das Lesen getrennter Wörter. LA 518
Ickler, Theodor. Kommentar zu den „Empfehlungen des Rates für deutsche Rechtschreibung“ vom 31. März 2006
Jacobs, Joachim 2005. Spatien. Zum System der Getrennt- und Zusammenschreibung im heutigen Deutsch. De Gruyter
Munske, Horst Haider 2005. Lob der Rechtschreibung. Warum wir schreiben, wie wir schreiben. C. H. Beck



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Kommentare zu »Kriteriengestützte Vorschläge zur Getrennt-/Zusammenschreibung und zur Groß-/Kleinschreibung«
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 20.12.2008 um 19.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=606#7457

Übergeneralisierungen der herkömmlichen Rechtschreibung:
Angeblich dürfe vor "und" nie ein Komma stehen, auch wenn ein neuer Hauptsatz (mit neuem Subjekt) folgt.
Angeblich seien Dreifachkonsonannten immer verboten, auch wenn ein anderer Konsonant folgt.


Kommentar von R. M., verfaßt am 19.12.2008 um 09.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=606#7456

Grundlage der Kritik an der Rechtschreibreform muß immer zunächst eine korrekte Darstellung derselben (wie auch der herkömmlichen Orthographie) sein. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den kritikwürdigen regelgerechten Schreibungen und von einem Mißverständnis der Reformregeln hervorgerufenen Falschschreibungen und Übergeneralisierungen. Diese sind Reformfolgen, ohne Reformbestandteile zu sein.

Der Frage, welche Übergeneralisierungen in der Praxis der herkömmlichen Rechtschreibung eine Rolle spielen, sollte vielleicht auch einmal nachgegangen werden.


Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 19.12.2008 um 03.27 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=606#7454

R.M. bemerkte:

"Dem Regelwerk zufolge ist elf Jähriger falsch und drei Maleine Variante zu dreimal."

Natürlich ist das erste falsch, aber durch die RSR überhaupt erst möglich geworden. Erklärt man indessen drei Mal als "Variante" des (Reihen)adverbs dreimal geht man den Deformern auf den Leim. Es gibt das expandierbare Syntagma drei Mal nur unter der Bedingung der Pluralisierung des Nomens Mal, also etwa drei lustige Male.

Desiderat bleibt ohnehin zu belegen, woher denn die reihenbildend mit dem Suffixoid -mal gebildeten Wiederholungszahladverbien kommen; jedenfalls nicht vom gewähnten Syntagma drei Mal, da Syntagmen nie Ableitungsbasis sind. Erst ihre Univerbierung kann sie zum virulenten Element machen. Univerbierung wiederum beruht u.a. auf der Elimination von Flexemen.


Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 23.11.2008 um 18.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=606#7417

Mir ist vor allem diese Feststellung sehr sympathisch:
"Alle diese Phraseologismen enthalten keine Substantivierungen, ..."
Sie enthalten also keine Wörter, die eigentlich klein, dann groß, schließlich aber doch wieder klein zu schreiben sind, sondern es sind alles von Anfang an keine Substantive.
Die einfachste Erklärung ist immer die beste.


Kommentar von R. M., verfaßt am 20.11.2008 um 18.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=606#7416

Dem Regelwerk zufolge ist elf Jähriger falsch und drei Mal eine Variante zu dreimal.


Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 19.11.2008 um 19.35 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=606#7415

Was übrigbleibt

Nach Herbert E. Brekles Darlegung zu

»Adjektivkomposita

Als Bestimmungsglieder können Elemente fast aller Wortarten dienen. Entsprechend inhomogen ist denn auch dieser WB-Typ. Je nach den satzsyntaktischen Beschränkungen sind parallele syntaktische Gruppen möglich, jedoch mit semantischer Differenzierung:
leicht fertig vs. leichtfertig, nicht öffentlich (kontingent) vs. nichtöffentlich (per def.) (Satz- vs. Wortnegation!), früh reif vs. frühreif (verschiedene syntaktische Umgebungen).
Ansonsten gelten die wortsyntaktischen Kriterien (Kontrastakzent, …). Nominalkomposita sind hinsichtlich Getrennt-/Zusammenschreibung problemlos; bei Rektionskomposita wie fruchtbringend, gottergeben gilt das oben Gesagte.«

bleibt noch einiges übrig,

so etwa "drei elf Jährige Jungen spielen Ball" (nach der RSR), die keinesfalls 33 Rangen am Leder sind;

oder auch das Problem, woher denn das deutsche Lexikon nunmehr Adjektive wie dreimalig hat oder nimmt, wo doch dreimal von den Deformern geopfert wurde zugunsten von drei Mal.

Will sagen: Allein im Bereich der Numeralia bzw. quantifikativen Indefinita, gleich welcher, wurden Schäden angerichtet, die den Unbedarften der RSR wohl bis heute nicht klar geworden sind.

Von volksbeglückenden Lexemliquidationen per sog. "Getrenntschreibung" soll zunächst geschwiegen werden.

Herbert E. Brekle fordert einiges ein; sein Beispielensemble nähert sich allerdings nur dem Kern der Sache.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 29.10.2008 um 14.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=606#7389

Ich schlage vor, daß die Fragen zu fachsprachlichen Begriffen nicht hier, sondern unter "Linguistisches Glossar" im Forum geklärt werden.


Kommentar von Germanist, verfaßt am 29.10.2008 um 13.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=606#7388

Wissenschaftliche Aufsätze und Bücher müssen einige für Außenstehende unverständliche Fremdwörter enthalten, denn wenn sie von jedermann verstanden würden, könnten sie als populärwissenschaftlich angesehen werden. Aber ganz so schlimm sind die auch in Hochschullehrbüchern nicht aufgeführten Fremdwörter auch nicht: Jeder Opa ist eine (mittellateinische) "Opazität", weil er undurchsichtig ist. (So wie jede Ente eine Entität ist, weil ihr als Objekt Informationen zugeordnet werden können, und eine Menge Enten eine Entitätsmenge sind.) "Idiosynkratisch" heißt "eigentümlich zusammengemischt". (In der neugriechischen Volkssprache heißt der Wein "krasi", und ein Schuft sei, wer Schlechtes dabei denkt.)


Kommentar von Karl-Heinz Isleif, verfaßt am 28.10.2008 um 20.22 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=606#7387

Das Sachliche hat hier die Oberhand gewonnen, das ist gut, es freuen sich die Verwalter, die Bedächtigen und die Korrekten. Neben ihrem unbestrittenen Einfluß auf den Nickreiz hat Sprache aber auch eine gewisse Weckfunktion, der sie am besten mittels Provokation gerecht wird. Hier kommt eine:

Sprachbeherrschung ist (nicht nur in dem einen Punkt) verwandt mit Musik: wer anderen wortreich Bestandteile einer Fuge erkärt, sollte möglichst auch eine spielen können.

„...Aus wortsyntaktischen Strukturen können sich – je nach Grad der Lexikalisiertheit und der morphologischen Opazität – idiosynkratische Bedeutungen ergeben. ...“

So fließt dieser Ausschnitt aus dem (und der Rest des) hier präsentierten Ergusses in habermasisch adornischer Diktion dahin. Er enthält zwar auch deutsche Wörter, aber Deutsch ist das deswegen noch lange nicht. Auf deutsch kann dieser Autor keine Fuge spielen. Wieso soll man solch schiefen Tönen zuhören? Wahrscheinlich sind die wie in so ziemlich jeder Äußerung deutscher Akademiker unvermeidlichen (in Amerika gibt es diese peinliche Sitte nicht) lateinischen Floskeln ja alle einigermaßen korrekt. Aber hat außer Herrn Schatte jemand verstanden, was da steht? Dabei galt der Aufsatz gar nicht ihm. Denn er konnte gewiß schon vor der Lektüre „wesentliche Gesetzmäßigkeiten und Tendenzen in den beiden Problemfeldern“ erkennen und „so in Problemfällen entscheiden“. Falls einer von den anderen das aber jetzt besser kann als vorher: Chapeau!



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