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26.08.2005
 

Eckhard Hoog
Hoher Lerneffekt oder eine Katastrophe?
Wie die Deutschlehrer in der Region nach dem NRW-Sonderweg mit der Rechtschreibreform umgehen

Kaum hatten die Sommerferien begonnen, da wurde in Bayern und Nordrhein-Westfalen ein neues, eigentümliches Kapitel in Sachen Rechtschreibreform aufgeschlagen.

Edmund Stoiber und Jürgen Rüttgers verordneten den Lehrern in ihren Ländern ein Ausscheren beim Umsetzen. Die Übergangsfrist, in der alte Schreibweisen bei Korrekturen nur angemerkt und nicht als Fehler gewertet wurden, wird erst einmal verlängert. Wie gehen die Lehrer, die in der Gewissheit in die Ferien gingen, dass die Reform ab 1. August gelten würde, jetzt mit der unerwarteten Situation um? Wir befragten eine Reihe von Deutschlehrern in der Region. Das Ergebnis ist denkbar breit gestreut und reicht von der Einschätzung der Rechtschreibreform als »Katastrophe« bis hin zur Überzeugung: »Wie man schreibt, ist egal, Hauptsache der Gedanke ist gut«.

Maria Behre vom Aachener Einhard-Gymnasium markiert damit zweifellos die Extremposition: Für sie ist die Rechtschreibung lediglich ein »Spielsystem«, dessen Normen auf Vereinbarung beruhen und sich eben ändern können. In dieser Sicht wertet sie die ganze Rechtschreibreform positiv als gute Gelegenheit für die Schüler, Sprache als historisches Phänomen in seiner Wandlungsfähigkeit hautnah erleben zu können. »Das ist ein hoher Lerneffekt.« Im Übrigen sei Sprache lediglich ein »Hilfsmittel«: »Viel wichtiger sind gute Gedanken.« Wie die geschrieben werden, »ist eigentlich egal. Wir sind ja keine Fehlerzähler«. Kein Problem also mit der Verlängerung der Übergangsfrist – darin stimmt die Aachener Deutschlehrerin mit allen von uns Befragten überein. »Wir machen einfach so weiter wie bisher«, heißt es allenthalben. Schwierigkeiten haben die Lehrer indessen mit der Reform selbst. Und sogar Maria Behre merkt in ihrer rechtschreiblichen Laissez-faire-Haltung an, dass die reformierten Regeln »widersprüchlich« und in den verschiedenen Wörterbüchern zum Teil »sehr unterschiedlich« dargestellt sind. Macht aber letztlich nichts: »Man muss mit den Schülern darüber sprechen.« Für sie geht die Reform gar nicht weit genug: »Eine durchgängige Kleinschreibung wäre eine echte Hilfe, um sich ganz auf die Inhalte konzentrieren zu können.«

»Totale Verwirrung«

Für die Extremposition in anderer Richtung steht Gerit Langenberg-Pelzer vom Mädchengymnasium Jülich: Sie hält die Reform schlichtweg für »unsinnig« und eine »Katastrophe«. »Unterschiedliche Bedeutungen zum Beispiel von 'auseinandersetzen' und 'auseinander setzen' fallen einfach weg.« Die Schüler meinten jetzt, alles wäre erlaubt. »Es herrscht die totale Verwirrung.« Eine solche »Sprachlenkung« habe es seit Jahrhunderten nicht gegeben. »Der Duden ist immer nur deskriptiv vorgegangen, aber niemals normativ.« Sich jetzt daran halten zu müssen, entspreche lediglich der Amtspflicht der Landesbeamten, sagt sie, und reiht die Rechtschreibreform entsprechend ein: »Wir müssen als Lehrer täglich mit unsinnigen Vorgaben umgehen.« Als abgeordnete Mitarbeiterin am Germanistischen Institut der RWTH Aachen hat sie die Folgen hautnah miterlebt: »Selbst angehende Deutschlehrer machen zum Entsetzen der Dozenten schwerste Rechtschreibfehler.«

Ernst Neulen vom Burgau-Gymnasium Düren kann kaum fassen, welche Schreibweisen auf einmal gelten sollen: Dass man »heute früh« jetzt als »heute Früh« schreiben soll, hat er soeben erst beim Nachschlagen entdeckt. »Die zugrunde liegende Regel kenne ich nicht«, gibt er unumwunden zu. Sein Generalurteil: »Alles ist viel komplizierter geworden als vorher. Es herrscht die totale Konfusion, zumal wir ja immer nur auf dem vorletzten Stand sind.« Die Rechtschreibreform in ihrer Wiedersprüchlichkeit, so Neulen, habe deutlich dafür gesorgt, dass die Rechtschreibung allgemein heute einen deutlich geringeren Stellenwert einnimmt als früher. Dass Schüler aber Schwierigkeiten bekämen, wenn sie etwa von Nordrhein-Westfalen nach Hessen wechseln, glaubt er nicht. »Dazu spielt die Rechtschreibung ohnehin eine viel zu kleine Rolle in der Gesamtdeutschnote.«

Entsprechend gelassen geht Winfried Gelder vom Aachener Pius-Gymnasium mit der Reform um: Trotz der »unklaren Regelung« hält er den Anteil der »reformierten« Schreibweisen am Gesamtaufkommen geschriebener Wörter und Sätze für viel zu gering, als man sich darüber aufregen sollte. »Es gibt zwar eine große Verunsicherung, aber geändert hat sich eigentlich nichts. Wer vorher in Rechtschreibung schwach war, der ist auch jetzt noch schwach.« Die Reform habe letztlich weder eine Erleichterung noch eine Erschwernis gebracht. Schwierigkeiten durch den NRW-Sonderweg vermag er nicht zu erkennen: »Gelehrt wird ja schließlich in allen Ländern nach den neuen Regeln.«

Und was sagt die Grundschullehrerin? Rebecca Radajewski von der Gemeinschaftsgrundschule Driescher Hof in Aachen bemerkt, dass eigentlich »lesefitte« Kinder, die Bücher in alter Schreibweise lesen, benachteiligt sind – denn sie übernähmen teilweise Versionen, die nach gegenwärtigem Stand der Reform nur als »veraltet«, später als Fehler zu werten sind. »Die Rechtschreibreform ist kein Gewinn, sie hat eher zu einem Durcheinander geführt.« Im Übrigen benutzt sie weiterhin Bücher und Arbeitsblätter in alter Schreibung. »Die waren viel zu teuer. Warum soll ich sie wegwerfen, nur weil auf einer Seite vielleicht mal zwei, drei Wörter anders geschrieben sind?«

Aufschlussreich ist auch die Frage, nach welcher Wörterbuch-Grundlage gearbeitet wird: Die Lehrer konnten zum Teil nicht sagen, aus welchem Jahr und welcher Auflage ihr Duden stammt. Einer stellte sich als Ausgabe von 1996 heraus – und gibt mit Sicherheit nicht den aktuellen Stand der Rechschreibreform wieder.

Aachener Zeitung/Nachrichten, 26. 8. 2005



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Kommentare zu »Hoher Lerneffekt oder eine Katastrophe?«
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Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 26.08.2005 um 13.40 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1572

»Wie man schreibt, ist egal, Hauptsache der Gedanke ist gut«.

Autofahren: "Wie einer fährt, ist egal. Hauptsache er kommt an."
Ärztliche Behandlung: "Wie der Arzt den Patienten behandelt, ist egal. Hauptsache er meint es gut."
Friseur: "Wie die Friseuse schneidet, ist egal. Hauptsache sie wollte es gut machen."

Hausaufgabe: Finde mindestens zehn weitere Beispiele.



Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 26.08.2005 um 13.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1573

»In dieser Sicht wertet sie die ganze Rechtschreibreform positiv als gute Gelegenheit für die Schüler, Sprache als historisches Phänomen in seiner Wandlungsfähigkeit hautnah erleben zu können.«

Fast muß man über solchen Sätzen seine mühsam errungene und nach längerer Zeit ziemlich stabile Fassung verlieren: Wie sollen denn Schüler die "Wandlungsfähigkeit" einer Sprache nachvollziehen können, wenn sie die alte Rechtschreibung nicht kennenlernen? Sie werden doch nur mit der neuen konfrontiert und können schon allein deswegen keine vergleichenden Studien über "Wandlungen" anstellen - übrigens auch nicht über besser oder schlechter.
Was Schüler allenfalls aus der RSR lernen, ist, daß es wirklich nicht darauf ankommt, wie man schreibt. Mit lehrerlichem Segen. Das belegen ja die folgenden Sätze in berauschender Deutlichkeit. Wozu, Himmelherrgottsakrament, sollen Schüler dann überhaupt noch schreiben lernen, wenn es "egal ist", wie man schreibt? Das kann jedes Kleinkind! Glücklich die Mutter, die es "lesen" kann. Wo hören Normen auf, wo fangen sie an? Was denkt ein Mensch, der solche Unbedarftheiten von sich gibt?

Herr, Wasser hat's jetzt genug hier unten. Laß bitte auch mal Hirn regnen!


Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 26.08.2005 um 14.13 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1574

Sprachfreie Gedanken

Gut, daß es so vorbildliche Schullehrer gibt, die das Hilfsmittel Sprache nicht so wichtig nehmen. Der Gedanke, zumal der gute Gedanke, bedarf der Sprache nicht. Da übertreffe ich mich doch einfach einmal selbst und teile hier einen nicht nur guten, nein, einen wirklich brillanten Gedanken mit, der in der Menschheitsgeschichte wohl einzigartig ist:



Wenn ich das noch einmal in Ruhe bedenke, finde ich das - bei aller gebotenen Bescheidenheit - wirklich großartig. Und Sie wissen das jetzt auch! Wir bilden quasi eine elitäre Wissensgemeinschaft.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 26.08.2005 um 15.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1575

Noch schlimmer, als in der Schule das Falsche gelehrt zu bekommen, ist sicher die Etablierung der Beliebigkeit. Irrtümer und Fehlinformationen kann man, der Schule entkommen, korrigieren, eine Haltung und innere Einstellung aber ist viel schwerer zu wenden. Von da zum "legal-illegal-sch...egal" ist es nur ein kleiner Schritt. Die Schule als "Garantin des Richtigen" demontiert sich so selbst, aber den Schaden haben die solchen "Pädagogen" anvertrauten jungen Menschen zu tragen.


Kommentar von David Weiers, verfaßt am 26.08.2005 um 16.18 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1576

»Eine durchgängige Kleinschreibung wäre eine echte Hilfe, um sich ganz auf die Inhalte konzentrieren zu können.«

Wie soll denn das gehen, wenn ich die Inhalte gar nicht mehr klar und eindeutig erfassen kann?

Ist aber auch irre, wie borniert ein Mensch sein kann...


Kommentar von NRZ, verfaßt am 29.08.2005 um 21.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1597

»"In vielen Teilen ärgerlich"

INTERVIEW / GEW-Chef Meyer-Lauber zum Gerangel um die Rechtschreibreform.


Andreas Meyer-Lauber, Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft NRW und Deutschlehrer, fordert eine schnelle, verbindliche Regelung zur Rechtschreibreform.

NRZ: Welche Erfahrungen macht man an den Schulen?

Meyer-Lauber: Aus Sicht der Schulen und der Lehrer ist die Rechtschreibreform in vielen Teilen außerordentlich ärgerlich. Seit 1996 wird daran herumgebastelt. Heute ist die Verunsicherung groß. Was ist in der neuen Rechtschreibung nun verbindlich und was nicht? Diese Frage ist selbst für viele Lehrer schwer zu beantworten.

NRZ: Welche Folgen hat das für die Schüler?

Meyer-Lauber: Die Mehrheit unserer 2,9 Millionen Schüler in NRW ist auf die neue Rechtschreibung geeicht. Allerdings stoßen sie in Büchern, der Presse und im Internet immer noch auf die alte Schreibweise. An den Schulen haben wir das Problem noch etwa sieben Jahre lang, bis alle Schulbücher mit alter Rechtschreibung ausrangiert sind. Auch die Schulbuchverlage folgen noch nicht alle der Reform, sondern warten teilweise ab, was passiert. Selbst die Lexika handhaben die Rechtschreibung unterschiedlich.

NRZ: Hat die Rechtschreibreform auch positive Seiten?

Meyer-Lauber: Es gibt Vereinfachungen, etwa dass das "ß" durch "ss" ersetzt wurde. Die Zeichensetzung wird erleichtert. Das Getrennt- und Zusammenschreiben ist extrem schwer, weil sich nichts nach dem Sinn richtet. Dann gibt es Grässlichkeiten wie drei Konsonanten hintereinander -siehe: Schifffahrt. (jub/NRZ)«


( Neue Rhein/Ruhr Zeitung, 29.08.2005 )


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolzx, verfaßt am 30.08.2005 um 08.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1598

Meyer-Lauber: Es gibt Vereinfachungen, etwa dass das "ß" durch "ss" ersetzt wurde. Die Zeichensetzung wird erleichtert. Das Getrennt- und Zusammenschreiben ist extrem schwer, weil sich nichts nach dem Sinn richtet. Dann gibt es Grässlichkeiten wie drei Konsonanten hintereinander -siehe: Schifffahrt.

Wissen die Leute eigentlich, was sie da so von sich geben? Das "ß" sei durch "ss" ersetzt! Für die Schweiz mag dies zutreffen, und zwar schon seit Jahren. Nicht aber nicht für die Reformschreibung von 1996, nach der sich auch die Schweiz nicht zu richten gedenkt (trotz der ständigen Beschwörungen der Vereinheitlichung der Schreibweisen im deutschen Sprachraum). In Deutschland und Österreich gibt es nach wie vor Wörter, die mit "ß" geschrieben werden.

Komisch auch die Klage über die "Grässlichkeiten" der Dreifachkonsonanten wie in Schifffahrt. Ist das sss kein Dreifachkonsonant? Stört dieser nicht? Wörter mit der Dreifachkombination sss begegnen uns weitaus häufiger als die immer wieder bemühte "Schifffahrt".

Dazu ein humorvoller Beitrag aus dem Spiegel-Forum: Ein Forist beklagte sich über die erschwerte Lesbarkeit von sss-Wörtern. Die belehrende Antwort eines unbeirrten Reformanhängers lohnt es, hier festzuhalten:

"Aber es handelt sich auch nicht um 3 Buchstaben, sondern um 2 + 1 Buchstaben, es sind Begriffe, die sich aus zwei Wörtern zusammensetzen - das mit den 3 aneinander gereihten Buchstaben ist viel Lärm um nichts."


Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 30.08.2005 um 09.28 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1599

Ärgerlich sind halbgare, in sich widersprüchliche Bekundungen von Gewerkschaftlern, deren Job die Orthographie nun wahrlich nicht sein kann.
Ärgerlich ist, daß dergleichen gedruckt wird.
Ärgerlich ist, wenn die, zu deren Job die Schriftsprache gehört, ebenfalls dummes Zeug reden oder sich zwar ärgern, aber nicht äußern und nichts tun.


Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 30.08.2005 um 12.02 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1600

Wenn ich Radio höre, dann ist es zu einem großen Teil der Deutschlandfunk: gleichermaßen eloquente wie kompetente Journalisten berichten aus den Sparten Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik in wirklich informativer Weise.
Aber selbst von diesen hellen Köpfen habe ich in den letzten Tagen beiläufige Bemerkungen aufgeschnappt, was in Bayern und Nordrhein-Westfalen jetzt vorgeführt werde, sei so etwa der letzte Beweis für die gemäß der Ansicht unseres Bundespräsidenten ja überholte föderale Ordnung unserer Republik.
Das kommt so unbetont und selbstverständlich daher, daß der Eindruck entstehen muß, wer selbst so etwas noch diskutieren wolle, stünde jenseits jeder Vernunft.
Ich finde so etwas ärgerlich.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 30.08.2005 um 13.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1601

Das mit den drei bzw. 2+1 s ist wirklich zu köstlich. Genauso könnte man einer jungen Mutter sagen, sie habe gar keine Drillinge geboren, sondern Zwillinge plus Einzelkind. Ob ihr das bei der Bewältigung ihres Alltags hilft?


Kommentar von Martell, verfaßt am 30.08.2005 um 14.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1602

Das meiste bei Deutschlandradio kommt ja aus der Hauptstadt. Deren existentiellen Nöte sind hinlänglich bekannt. Lösungen kommen bestenfalls vorübergehend aus Karlsruhe. Langfristig aber lebt man dort besser, wenn zukünftig Geld nicht nur von Touristen dorthin getragen, sondern von Finanzämtern dorthin geleitet werden wird. Die von Ihnen beobachteten etatistischen Tendenzen haben daher auch diesen handfesten existentiellen Ursprung, dessen Wirkmächtigkeit man draußen im Lande nicht unterschätzen sollte.


Kommentar von Wiesbadener Kurier, verfaßt am 03.09.2005 um 11.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1606

KMK verteidigt neue Schreibweisen

Unstrittige Teile der Rechtschreibreform sind seit August auch in Hessen verbindlich in Kraft

Ab diesem Schuljahr werden Rechtschreibfehler im Unterricht nicht nur angestrichen, sondern auch als Fehler mit Auswirkung auf die Benotung gewertet.

(dpa) Johanna Wanka, Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) verteidigte erneut die Reform. Endlich habe das Hin und Her für die Schüler ein Ende, sagte die brandenburgische Wissenschaftsministerin (CDU). Sie wies darauf hin, dass hunderttausende Schüler bereits seit 1998 nach den neuen Regeln lernen.

"In den Schulen ist das Problem überhaupt nicht so, wie es in der Gesellschaft insgesamt gesehen wird." Wanka sprach auch von einer Mentalitätsfrage. In Österreich sei die Debatte im Vergleich zu Deutschland viel weniger aufgeregt. "Wir haben hier immer ein Problem bei allen Reformen."

Der Vorsitzende des Rates für deutsche Rechtschreibung, Klaus Zehetmair, hat die Schulen gemahnt, die ab sofort verbindlich geltenden neuen Rechtschreibregeln vorerst nicht zu streng auszulegen. Mit dem Stichtag 1. August sind die so genannten unstrittigen Teile der Rechtschreibreform in 14 Bundesländern verbindlich in Kraft getreten. Nur in Bayern und Nordrhein-Westfalen gilt noch die Übergangsregelung. Alte Schreibweisen werden allein in den Schulen dieser beiden Länder auch künftig noch nicht als Fehler gewertet. Der Rechtschreibrat will bis zum Schuljahr 2006/2007 sämtliche Veränderungsvorschläge für die neue Rechtschreibung vorlegen. Nach Zehetmairs Einschätzung ist bei der Reform allerdings nur noch mit geringfügigen Änderungen zu rechnen. Trotzdem hätte es der Rat vorgezogen, die neuen Regeln erst später verbindlich werden zu lassen.

Die neue Rechtschreibung wird nach Überzeugung des Korrektors Helmut Becker noch über Generationen hinweg im Alltag weitgehend ignoriert werden. Viele Bürger empfänden sie als zu kompliziert, sagte Becker einem Interview: "Wegen der vielen Optionen muss man viel zu viel überlegen. Die Leute fühlen sich unwohl, darum wird die neue Rechtschreibung nicht gerne angewandt." Aus der Diskussion um die Reform hätten die meisten Menschen bis jetzt nur den Schluss gezogen, es sei egal, wie man schreibe.

Als Beispiel für das Schreib-Durcheinander nannte der freiberuflich tätige Korrektor die Kommaregeln: Zwar könne jetzt auf viele Kommata verzichtet werden. Gleichzeitig gebe es jedoch zahlreiche Ausnahmen von den Regeln. Bei den "Leuten auf der Straße", fehle die Bereitschaft, sich mit den neuen Bestimmungen zu befassen: "Keiner hat die 40 Seiten amtliches Regelwerk je gelesen!" Um Chaos in der persönlichen Korrespondenz zu vermeiden, rät der Experte zur Einheitlichkeit der Schreibweise - entweder alt oder neu, aber konsequent: "Nicht Potenzial, Potential und potenziell durcheinander."

Zu den schwierigsten neuen Regeln gehört nach Ansicht des Fachmanns das Zusammen- oder Getrenntschreiben von Wörtern. Schreiber stolperten aber oft auch über die Wandlung von "ß" in "ss", die Verdreifachung von Buchstaben wie in "Schifffahrt" sowie über die Groß- und Kleinschreibung von Personalpronomen. "Als höfliche Anrede bleibt das "Sie" groß. Dagegen werden "du", oder "euer" im Brief klein geschrieben. Aber auch das ist wieder jedem freigestellt", monierte Becker.

Privat praktiziert der Korrektor, der sich als kritisch-radikaler Reformer einstuft, seine persönliche Rechtschreibreform: Seit 1970 schreibt er alles klein - und würde ansonsten lieber den alten als den neuen Regeln folgen.



Kommentar von Karsten Bolz, verfaßt am 03.09.2005 um 14.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1607

Wiesbadener Kurier am 03.09.2005: "Nach Zehetmairs Einschätzung ist bei der Reform allerdings nur noch mit geringfügigen Änderungen zu rechnen."

Wann hat er das denn gesagt? Habe ich da etwas nicht mitbekommen, oder ist das aus der Propagandaabteilung?


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 04.09.2005 um 15.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1608

Wahrscheinlich haben sowohl die Präsidentin der Kultusministerkonferenz wie der freiberufliche Korrektor Helmut Becker recht: In den Schulen gibt es allem Anschein nach keine Probleme mit der neuen Rechtschreibung, und im Alltag wird sie weitgehend ignoriert. Ob das freilich noch generationenlang so weitergehen sollte, ist eine andere Frage. Seit der Auflösung der Zwischenstaatlichen Kommission und der Berufung eines Rates für deutsche Rechtschreibung hat es vorübergehend eine etwas lebhaftere Diskussion zumindest in den Medien gegeben. Jetzt ist die alte Ruhe wieder eingekehrt. Am 1. August 2005 hat typischerweise niemand gefragt, wie viele "alte" Schreibungen denn genau für die Regelungsgebundenen "falsch" geworden seien.

Man hat den Eindruck, die vorherrschende Rede von den "neuen Regeln" habe ihre Wirkung nicht verfehlt. Daß diese neuen Regeln in der Hauptsache die "alten" Schreibungen generieren, ist dabei völlig in den Hintergrund getreten. Das ist merkwürdig, denn in seiner in vielen Millionen Exemplaren verbreiteten Darstellung der Neuregelung (Sprachreport-Extraausgabe, Juli 1996 bzw. Juli 2004) erweckt Klaus Heller durchgehend den Eindruck, die neuen Schreibungen schlössen sich ausnahmslos an die üblichen an. Von "Analogie" ist die Rede, nur beiläufig von "Regeln". Eine "Rechtschreibanleitung" ist dies also nicht, aber dieser Umstand scheint sämtlichen staatlichen Stellen entgangen zu sein, die den "Sprachreport" als Umlernhilfe an ihre Bediensteten weitergaben. Für die Lehrerinnen und Lehrer gab es ebenfalls eine "Handreichung" der KMK, die 1998 noch einmal von Burkhard Schaeder und Gerhard Augst überarbeitet wurde. Selbst hier herrschen allgemeine Aussagen, bestenfalls Faustregeln, vor. Die neuen Sprachlehrbücher orientieren sich dagegen am Regelwerk von 1996, sehr zu ihrem Schaden, denn die schon beschlossenen und noch in Aussicht genommenen Revisionen werden demnächst eine gründliche Überarbeitung erforderlich machen.

In der Praxis hat sich jedoch weder für allgemeine Schreiber noch für die Schule etwas geändert: Die "richtige" Schreibung steht in den Rechtschreibwörterbüchern. Merkwürdigerweise hat noch kein Verlag die Marktlücke entdeckt, daß nach der Umstellung der beiden führenden Wörterbücher Bedarf für ein umfangreiches Universalwörterbuch in traditioneller Rechtschreibung besteht. Mir ist nicht bekannt, ob es schon Textverarbeitungsprogramme für Computer gibt, die nur die neue Rechtschreibung berücksichtigen. Bisher jedenfalls hatte der Benutzer die Wahl, und außerdem war die benötigte Software leicht zu beschaffen. Dies alles verweist jedoch darauf, daß die deutsche Rechtschreibung sich trotz aller Verwerfungen durch die Reform in einem treu geblieben ist: Sie weist in ihren Randbezirken einen Schwierigkeitsgrad auf, der für normale Schreiber nicht beherrschbar ist. Damit könnte man leben, wenn zugleich eine marginale Uneinheitlichkeit der geschriebenen und gedruckten Texte toleriert würde. Überkomplizierung und die Forderung nach Einheitlichkeit passen jedoch nicht zusammen.

1996 wird in die Geschichte der deutschen Sprache nicht als das Jahr der mißratenen, sondern als das der verpaßten Rechtschreibreform eingehen. Schuld daran sind nicht nur die inkompetenten Kultusbehörden und die ideologiebesessenen Reformer. Die gesamte Schreibgemeinschaft muß sich fragen lassen, warum sie die frühere Gängelung geduldet hat und den neuen Oktroi weiterhin duldet. Einer unserer Mitstreiter wird den Besuchern von "Schrift & Rede" demnächst seinen Essay vorstellen, in dem er die tieferen Ursachen der deutschen Rechtschreibmisere als anachronistische Züge in unserer kollektiven Volksseele darstellt. Die Auseinandersetzung zwischen Reformern und Traditionalisten ist in dieser Sicht ein Familienstreit. Um wirklich zum ersehnten Rechtschreibfrieden zu finden, müßten wir alle über unseren Schatten springen. Vielleicht hat Herr Becker doch recht, wenn er meint, bis dahin könnten noch Generationen vorübergehen.

[Zum Spaß habe ich diesen Text als "neue Rechtschreibung" untersuchen lassen. Ergebnis: In Zeile 2 wurde "recht" übersehen, ansonsten siebenmal "falsches ß". Was würden Johanna Wanka und Helmut Becker dazu sagen?]




Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 04.09.2005 um 18.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1609

Wenn Prof. Jochems den Blick von der Rechtschreibung selbst auf unser Verhältnis zu ihr lenkt, so scheint das zunächst einmal einen Weg aus der beiderseitigen Starrheit der "Traditionalisten" und der "Neuschreiber" zu weisen. Dies betrifft ganz besonders die Schule als den Ort, wo Rechtschreibung im eigentlichen Sinne "bewertet" wird. Vielleicht ist unsere "Obrigkeitshörigkeit" (sei die Obrigkeit nun das Wörterbuch oder ein Kultusminister) in Sachen Orthographie ja wirklich spezifisch deutsch und Ausfluß eines (unausrottbaren?) Untertanengeistes. Die Frage ist aber doch, ob der "Normalbürger" sich wirklich bisher durch Rechtschreibvorschriften so sehr gegängelt gefühlt hat, wie es hier beschworen wird. Ist es nicht so: Wer wenig schreibt, im Schreiben ungeübt ist, dem wurde doch auch bisher schon mit Toleranz begegnet. Je mehr und häufiger dagegen einer schreibt, desto drängender die Erwartung, auch die "Randgebiete" (was immer man darunter verstehen mag) zu beherrschen. Das Postulat, jeder müsse die deutsche Rechtschreibung nach dem Ende der Pflichtschulzeit (fehlerfrei) beherrschen, ist unerfüllbar und illusorisch - da können noch x Reformen kommen. Es ist oft gesagt worden: Das Wesen der Rechtschreibung ist Einheitlichkeit und Verbindlichkeit. Das heißt aber nicht, daß alle sie gleichermaßen gut beherrschen müßten. Wie in jeder anderen Kulturtechnik auch gibt es zwischen null Fähigkeiten und Vollkommenheit alle Stufen. Das wahrhaft "Demokratische" ist, daß der Weg zur Verbesserung und Annäherung an das Ideal jedem offensteht, falls er beruflich veranlaßt oder aus innerem Bedürfnis danach strebt. Auch ein bescheidener Hausmusikant schaut auf zu den Könnern und nicht neben sich zu seinesgleichen - und ist doch nicht unheilbar frustriert und entmutigt.


Kommentar von Martell, verfaßt am 04.09.2005 um 20.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1610

Vielleicht heißt die Sache ja nur falsch. Wer sich Rechtschreibung nennt, darf nämlich die nicht untertänig nennen, die in ihr das Rechte suchen. Lieber kratzbaum: Tun Sie nur so, oder wollen Sie wirklich nicht verstehen, welche Randbereiche Jochems meint? In der Tat: „Randbereiche des Rechts“, klingt nicht sehr gerecht oder gar zuverlässig. Und doch wäre nur das aufzuklären gewesen: Das rechte Regelsystem für die Sache, woran sehr viele – zu viele ? – immer noch zu glauben scheinen, kann eben nur ein Gott verfassen. Lediglich auf den menschlichen Rest hätte man sich verständigen müssen; zugegeben: schwer genug.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 05.09.2005 um 01.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1611

In einem früheren Kommentar hat Professor Ickler sich zu dem Standpunkt bekannt, für geübte Schreiber müsse der beständige Griff zum Wörterbuch überflüssig sein. Sein eigenes Regelwerk läßt bei der Getrennt- und Zusammenschreibung den Schreibern Freiheiten, die es in der Dudenregelung nicht gab und schon gar nicht in der Rechtschreibreform. Ein Beispiel: Professor Gallmann geht davon aus, daß bei Annahme der Zehetmairschen Revision demnächst "abhandenkommen" zu schreiben sei. Nach Duden 1991 ist dies ebenso falsch wie nach Duden 2004. Doch auch Professor Ickler will hier getrennt schreiben.
Dies ist ein typischer Fall aus der "Randzone" der GZS. Hier steht das Verständnis nicht auf dem Spiel, und um Differenzschreibung geht es auch nicht. Was soll die "Einheitlichkeit" an dieser Stelle bringen?

Ein anderer Fall - diesmal aus der "Randzone" der Groß- und Kleinschreibung - ist "jung und alt". Duden 1991 ließ nur diese Schreibung zu, Duden 2004 nur "Jung und Alt". Professor Ickler dokumentiert beides - weil er es so in der ungegängelten Schreibpraxis antrifft. Wiederum: Was soll hier der Ruf nach Einheitlichkeit?

In den nächsten Jahren wird es darauf ankommen, "sinnvolle" und "weniger sinnvolle" Schreibungen zu unterscheiden. Diesem Kriterium haben sich alte wie neue Schreibungen zu stellen. Unsere Rechtschreibung hat in bezug auf Veränderungs- oder Entwicklungsfähigkeit der englischen oder der französischen nichts mehr voraus. Radikale Vereinfachungen, wie sie noch Konrad Duden in seinen letzten Lebensjahren vorschwebten, haben keine Chance, von der Schreibgemeinschaft für konsensfähig gehalten zu werden. Hat aber je jemand nach der Konsensfähigkeit so mancher spitzfindigen Dudenfestlegung gefragt?
Wo der Regulierungsdrang der staatlich privilegierten Wörterbuchmacher übers Ziel hinausgeschossen ist, müssen Rücknahmen möglich sein. Am besten wäre es, wenn die KMK das vom Duden ausdifferenzierte Regelwerk von 1901 wie auch den unglücklichen Versuch von 1996 für aufgehoben erklärte - und sich selbst aus der Rechtschreibregelung zurückzöge. Dann wäre wirklich der Zustand erreicht, den der Bundestag schon 1998 als Forderung feststellte. Die Schreibgemeinschaft müßte dann jedoch den Nachweis erbringen, daß sie wirklich verantwortungsvoll mit dieser Freiheit umgehen kann.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 05.09.2005 um 08.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1612

Vielleicht könnte man sich darauf einigen, sehr verehrter Her Prof. Jochems, daß mit "Einheitlichkeit" (natürlich) nicht das Festhalten an einer auf alle Zeiten kodifizierten Schreibweise gemeint sein kann. Es gibt aber einen Kernbestand des "Richtigen" - nicht obrigkeitlich aufgezwungen und Werkzeug der Gängelung, sondern als Gepflogenheit kompetenter, ja als vorbildlich geltender Schreiber. (Dabei denke ich übrigens nicht an die Schriftsteller...) Also: Verbindlichkeit, Einheitlichkeit müssen Freiheit und Entwicklungsfähigkeit nicht ausschließen. Ich wage zu behaupten: Erst eine gewisse Normierung erlaubt überhaupt eine Weiterentwicklung der Orthographie im Sinne der steten Optimierung und Differenzierung. Änderungen können aufgrund des Postulats der Verständlichkeit und Eindeutigkeit immer nur in kleinen Schritten erfolgen. - "Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben..."



Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 05.09.2005 um 11.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1615

Kratzbaums verständnisvolle Kritik gibt mir Gelegenheit, ein paar für unser gemeinsames Nachdenken wichtige Begriffe noch genauer zu erläutern. Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen natürlicher Sprachentwicklung und der Einwirkung regulierender Institutionen. Da jede Sprache ein selbstregulierendes System ist, sind Eingriffe von außen eigentlich unnötig. Was sich in der Kommunikationspraxis durchsetzt, wird auch Teil des auf Konsens in der Sprachgemeinschaft beruhenden abstrakten Systems. Das gilt vor allem für den Wortschatz und die Grammatik. Dies sind dennoch die Felder, denen sich die akademische Sprachpflege in erster Linie zuwendet, in neuerer Zeit hauptsächlich durch Abblocken von Weiterentwicklungen. Die Rechtschreibung wird dagegen fast überall von der Sprachwissenschaft für sekundär gehalten. Bei der Herausbildung der europäischen Nationalsprachen war zwar in einer frühen Phase das Problem ihrer Verschriftlichung mit Hilfe des lateinischen Alphabets zu lösen, aber das liegt mehr als ein Jahrtausend zurück. Da sich die Lautung der Sprachen seitdem enorm weiterentwickelt hat, ging es danach nur noch um die Frage, inwieweit die Schreibung immer wieder anzupassen oder um der Kontinuität der Texte willen konstant zu halten sei. Letzteres ist die Lösung für das Englische und das Französische, die seit dem Einsetzen des Buchdrucks durchgehalten wurde. In den entsprechenden zentral regierten Staaten war die Einheitlichkeit des geschriebenen Sprachgebrauchs deshalb nie ein Problem. In Deutschland ereignete sich dies alles phasenverschoben, vor allem aber setzten Sonderentwicklungen ein, die anderswo keine oder nur eine geringe Rolle spielen: die Herausbildung der Substativgroßschreibung mit ihrem Sonderbereich der Substantivierung anderer Wortklassen und die Zusammenschreibung der nach Bedeutung und Betonung als einheitliche Wörter empfundenen Wortgruppen, die sogenannte Univerbierung. Diese Entwicklungen sind bis heute nicht abgeschlossen und könnten nicht einmal durch einen künstlichen Eingriff zum Stehen gebracht werden. Dies hat zur Folge, daß eine einfache und uneingeschränkt konsensfähige Verschriftlichung weiterhin große Probleme macht. Natürlich kann man Normierungsinstitutionen damit beauftragen, auch auf diesen Feldern für provisorische Einheitlichkeit zu sorgen, was besonders für amtliche und informative Texte sogar von Nutzen wäre, das spontane Schreiben in alltäglicher Kommunikation aber in unverhältnismäßigem Maße erschwerte.

Kratzbaum rät nun, die Hauptsache nicht zu vergessen: Es gibt aber einen Kernbestand des "Richtigen" - nicht obrigkeitlich aufgezwungen und Werkzeug der Gängelung, sondern als Gepflogenheit kompetenter, ja als vorbildlich geltender Schreiber. Ich füge präzisierend hinzu: Dieser "Kernbestand des Richtigen" besteht aus dem riesigen Arsenal der Einzelwortschreibungen, die nach der Aufgabe regionaler Varianten gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Schreibgemeinschaft unumstritten sind. Hierauf kann sich nicht die nachfolgende Bemerkung Kratzbaums beziehen: Erst eine gewisse Normierung erlaubt überhaupt eine Weiterentwicklung der Orthographie im Sinne der steten Optimierung und Differenzierung. An den "Kernbestand des Richtigen" haben erst die Normierer unserer Tage zaghaft versucht Hand anzulegen, hier gibt es auch nichts weiterzuentwickeln. Das "h" in "Weihnachten" ist ihnen entgangen, und ihr gekapptes "rau" hat keine Zukunft - ebensowenig wie in der englischsprachigen Welt "people" oder "business" je der "Verstärkung von Grundregeln" geopfert würden. Was wäre hier auch zu optimieren und zu differenzieren?

Der "Optimierung und Differenzierung" verdanken wir jedoch Dudenschreibungen wie "auf dem laufenden sein" - um den Lesevorgang durch den graphischen Hinweis auf den übertragenen Gebrauch zu erleichtern. Leben wir in einem Land von Analphabeten? Was soll man sich denn konkret unter dem "Laufenden" vorstellen? Die Redensart ist ohnehin eine blamabel schlechte Lehnübersetzung von französisch "être au courant" - "in der Strömung sein". Die Narretei fängt also nicht erst bei der Kleinschreibung an. Gibt es daneben nicht ein fast gleichbedeutendes "im Bilde sein"? Warum nicht "im bilde sein"? Das sei aber doch ein wirkliches Substantiv? Schreibt man nicht "Das spricht aller Erfahrung hohn"? Natürlich, aber das habe doch seinen Grund in "hohnsprechen"? Hoffentlich hat inzwischen der eine oder andere Leser Professor Icklers Normale deutsche Rechtschreibung aufgeschlagen: "auf dem laufenden oder Laufenden sein"; "sprichst hohn/Hohn". Na also.

Noch einmal Kratzbaum: Vielleicht könnte man sich darauf einigen, daß mit "Einheitlichkeit" (natürlich) nicht das Festhalten an einer auf alle Zeiten kodifizierten Schreibweise gemeint sein kann. Sollten wir nicht lieber sagen: Im "Kernbestand des Richtigen" ist nichts zu kodifizieren, im Gegenteil: Jeder Schreiber hat ein natürliches Interesse daran, durch gewissenhafte Benutzung der überkommenen Schreibungen für deren unbeschädigte Weiterreichung zu sorgen. Aber auch in den beiden quirligen deutschen Sonderbereichen herrscht keine Anarchie. "Leitfäden" könnten ein übriges tun, hier zu sinnvollem Schreibgebrauch anzuleiten, und natürlich aufgeklärte Wörterbücher wie das gerade genannte. Mit Vorschriften von kaiserlichen Reserveoffizieren, deren Rigorismus noch ein Hauch von Pickelhaube anhaftet, möge man aber im 21. Jahrhundert der demokratischen Schreibgemeinschaft vom Halse bleiben.



Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 05.09.2005 um 12.04 Uhr   Mail an
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Im Namen des Herrn unterwegs

Beim Überdenken der peinlichen Lage, in der sich die Deutschlehrer gegenwärtig befinden, fällt mir unwillkürlich der durchgehende Leitspruch eines Kultfilms („Blues-Brothers“) ein: „Ich bin im Namen des Herrn unterwegs!“ Eine herrliche Parodie.

In der prekären Situation der verbeamteten Lehrerschaft, die verpflichtet ist zur Loyalität, die andererseits dem Lehrstoff Genüge tun muß, die drittens nach der Entscheidung der zwei Ministerpräsidenten (Stoiber und Rüttgers) zusätzlich einem Außenvergleich standhalten muß, sind Charaktereigenschaften, Individualität und Originalität mehr denn je gefragt, wobei sich jenes innere Dilemma möglicherweise nur mit einer ordentlichen Beimischung von Humor und Ironie lösen kann. Motto: „Wir sind im Namen des Herrn unterwegs!“

Eine der wichtigsten Fragen, der sich die Lehrerschaft stellen muß, ist diese:
„Wozu unterrichten wir Rechtschreibtechniken?“
(Eine „Warum-Frage“ würde hier viel zu kurz greifen!)

Eine mögliche Antwort könnte lauten: „Wir Lehrer erteilen einen lehrplanmäßig spiralartig aufgebauten Rechtschreibunterricht, damit unsere heranwachsenden Schreibexperten vom größtmöglichen Anteil der lesenden Adressaten trotz allmählich reifender individueller Schreibgewohnheiten verstanden werden.“
Ich denke, daß mit dieser Grobzielformulierung dem „Fetisch Norm“ zumindest ein kleiner Riegel vorgeschoben wäre, doch müßten letztlich die Kultusminister ins Boot zurückgeholt werden, weil ausschließlich jene für die Eintragung derartiger Sätze in den kulturhoheitlichen Lehrplan verantwortlich zeichnen.

Aber da erhebt sich abschließend die Frage:
„Im Namen welches Herren ist eigentlich die KMK unterwegs?“



Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 05.09.2005 um 13.44 Uhr  
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Der Widerspruch zwischen freier, spontaner, alltäglicher Kommunikation und normiertem Schreiben muß nicht unauflöslich sein oder bleiben. In der mündlichen Rede ist er doch auch kein unlösbares Problem. Es geht in beiden Sphären um die Identifizierung des Kontextes, also um die Frage des angemessenen Codes ("Wie benehme ich mich bei welcher Gelgenheit?"). Mir scheint dieser differenzierende Ansatz sehr hilfreich, wenn es um Fragen des richtigen Schreibens, der Bewertung, der Toleranz in Rechtschreibdingen geht. Nehmen wir mal an, ich finde beim ALDI einen verlorenen Einkaufszettel irgendeines Kunden. Da stehen nun abenteuerliche Schreibweisen drauf. Wer von uns wollte sich darüber auch nur eine Sekunde mokieren? Hingegen in einem Fachtext oder auch nur einer Bedienungsanleitung erwarten wir korrektes Deutsch. (Herr Wrase kann da ein Wörtchen mitreden.) Die Verfasser müssen aber wissen, woher sie die richtige Orthographie beziehen können. Sicher kann man nicht von ihnen verlangen, nun umfangreiche Recherchen über die gültigen Schreibweisen anzustellen. Der Schreibgebrauch entwickelt sich zwar "von selbst", aber sozusagen als Momentaufnahme muß er irgendwo von einer anerkannten Autorität festgehalten, also doch "normiert" sein. Das Problem bleibt dabei die Art der Normengewinnung, wie es uns ja die ganze Debatte um die Reform lehrt.


Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 05.09.2005 um 14.11 Uhr   Mail an
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"Eine Momentaufnahme des Schreibgebrauchs" - genau das haben wir momentan gerade nicht. Man müßte auch davor erschaudern. Duden 23 ist veraltet, Wahrig welkt voraussehbar auch bald dahin. Immerhin: Wahrig läßt noch die "alten" Schreibweisen erkennen. Nimmt man also Wahrig und vermeidet die himmelblauen Varianten, ist man für den Moment auf der sicheren Seite: man geht dann immer noch konform mit dem letzten noch ungestörten Konsens, der sich aus 100 Jahren Schreibgebrauch herausgebildet hatte, der letzten Momentaufnahme mit schmaler Grauzone. Jede andere Strategie produziert Texte mit sehr begrenzter Halbwertszeit.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 05.09.2005 um 16.18 Uhr  
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Kratzbaum bringt das Problem auf den Punkt: ...in einem Fachtext oder auch nur einer Bedienungsanleitung erwarten wir korrektes Deutsch. Die Verfasser müssen aber wissen, woher sie die richtige Orthographie beziehen können. Sicher kann man nicht von ihnen verlangen, nun umfangreiche Recherchen über die gültigen Schreibweisen anzustellen. Der Schreibgebrauch entwickelt sich zwar "von selbst", aber sozusagen als Momentaufnahme muß er irgendwo von einer anerkannten Autorität festgehalten, also doch "normiert" sein.

Fragen wir zuerst: Wer sind die Verfasser von Fachtexten in deutscher Sprache? Gestandene Männer und Frauen, die als Kinder und Jugendliche in 13 Schuljahren gründliche Kenntnisse in vielen Fächern, unter anderem auch in deutscher Rechtschreibung, erworbenen haben. Sie haben in diesen Jahren viel geschrieben und noch mehr gelesen. Sie beherrschen also die deutsche Sprache so kompetent, daß sie jeder gemeinsprachlichen Kommunikationssituation gewachsen sind - mündlich wie schriftlich. In einem mehrjährigen Studium wird diese Kompetenz noch einmal erweitert, und zwar fachlich und fachsprachlich. Lehrbücher und fachliche Nachschlagewerke spielen hier eine große Rolle. Wenn sie ins Berufsleben hinausgehen, wird dies alles noch einmal auf ein engeres Fachgebiet hin vertieft. Beim Verfassen von Fachtexten brauchen sie keine umfangreichen Recherchen über die gültigen Schreibweisen anzustellen - sie haben sie alle im Kopf. Gelegentlich werden sie in den in ihrem Betrieb vorhandenen fachlichen Handbüchern nachsehen, wenn es um das genaue Fachwort in einem bestimmten Zusammenhang geht. Fachliche Normierungseinrichtungen wachen nämlich darüber, daß es in komplizierten Fachtexten nicht zu Mißverständnissen kommt. Da der Text am Computer entworfen wird, stellt dessen Korrekturprogramm sicher, daß keine Verschreiber allgemeiner Art stehenbleiben. Leider gibt es so etwas nicht für die Zeichensetzung. Wer da aus Schule und Studium nicht einwandfreie Kenntnisse mitbringt, produziert leicht Merkwürdigkeiten. Irgendwo liegt im Büro vermutlich auch ein alter Duden herum, der so weltbewegende Fragen wie die beantwortet, ob man "um so" zusammen- oder getrennt schreibt. Auch Fachtexte bestehen nämlich nicht nur aus Lexemen, die im strengen Sinne fachlich sind.

Nur diesen letzten Aspekt kann Kratzbaum meinen, wenn er schreibt: Das Problem bleibt dabei die Art der Normengewinnung, wie es uns ja die ganze Debatte um die Reform lehrt. Auch hier ist die Antwort einfach: Es geht überhaupt nicht um Normierung, sondern um die Dokumentation des üblichen Schreibgebrauchs. Wie man so etwas anstellt, wissen ausgebildete Lexikographen in allen Sprachen. Bei uns galt bisher die Sonderregelung, daß so zusammengetragene Wortschatzsammlungen eine staatliche Prüfplakette benötigen. Das hat im Augenblick dazu geführt, daß hierzulande pflichtvergessene Sprachwissenschaftler einen Teil des üblichen Schreibgebrauchs für falsch erklären durften. Strenggenommen liegt hier Amtsanmaßung vor. Aber das wäre im Handumdrehen aus der Welt zu schaffen, wenn der Staat auf die Anerkennung von Winkelautoritäten verzichtete.



Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 05.09.2005 um 20.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1620

Das Normenproblem gibt es ja wirklich in der gesprochenen und geschriebenen Sprache. Damit meine genau das, was ich als Frage der "Normengewinnung" apostrophiert habe: Wie kommt die Norm zustande - als willkürliche Setzung (wie in Teilen der jüngsten Reform) oder als auf- und vorgefundene Normalität des Sprachgebrauchs? Dies, die Frage nach der Legitimität, führt unmittelbar zur Frage der Verbindlichkeit, die sich jedenfalls da stellt, wo Rechtschreibung bewertet wird, also vor allem in der Schule. "Nulla poena sine lege", könne man sagen. - Das mit der "Amtsanmaßung" stimmt natürlich, verehrter Herr Prof. Jochems. Der Sündenfall der MK bestand darin, daß sie endlich einmal Kultur nicht nur verwalten, sondern gestalten wollten. Das konnte nur schiefgehen. - Im übrigen bleibe ich bei meinem Konzept der abgestuften Rechtschreibkompetenz und den dazu komplementären Anforderungen an die einzelnen Schreiber.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 06.09.2005 um 00.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1621

Wir dürfen in der gegenwärtigen Diskussion nicht vergessen, daß wir uns um ein praktisches Problem bemühen. Unser Ausgangstext aus dem Wiesbadener Kurier vom 3. 9. stellte bekanntlich fest, daß in den Schulen (und nicht nur dort) die veränderte deutsche Rechtschreibung seit 1996 bzw. 1998 angewandt wird, während die breite Öffentlichkeit nicht nur mangels geeigneter Informationsmöglichkeiten die umgestellten Schreibungen ignoriert. Kann es dabei bleiben, zumal die schriftliche Kommunikation kaum behindert zu sein scheint, oder sollte die Wiedererlangung einer einheitlichen Rechtschreibung angestrebt werden? In den Anfangsjahren ihres Widerstandes forderten die Gegner der Rechtschreibreform verständlicherweise deren sofortige und vollständige Rücknahme. Es fragt sich, ob dieses Ziel heute noch erreichbar ist. Andererseits hat die Kritik an der Rechtschreibregelung vor 1996 schon deshalb bei uns nie eine Rolle gespielt, weil den Befürwortern der Rechtschreibreform keine Argumente für deren Beibehaltung an die Hand gegeben werden sollten. Auch dies ist inzwischen hinfällig geworden, so daß die deutsche Rechtschreibproblematik seit dem 1. August gelassener und vor allem objektiver diskutiert werden kann.

Unser Mitstreiter Kratzbaum nimmt in dieser Situation kein Blatt vor den Mund: Das Postulat, jeder müsse die deutsche Rechtschreibung nach dem Ende der Pflichtschulzeit (fehlerfrei) beherrschen, ist unerfüllbar und illusorisch - da können noch x Reformen kommen. Es ist oft gesagt worden: Das Wesen der Rechtschreibung ist Einheitlichkeit und Verbindlichkeit. Das heißt aber nicht, daß alle sie gleichermaßen gut beherrschen müßten. Wie in jeder anderen Kulturtechnik auch gibt es zwischen null Fähigkeiten und Vollkommenheit alle Stufen. Das wahrhaft "Demokratische" ist, daß der Weg zur Verbesserung und Annäherung an das Ideal jedem offensteht, falls er beruflich veranlaßt oder aus innerem Bedürfnis danach strebt. [...] Im übrigen bleibe ich bei meinem Konzept der abgestuften Rechtschreibkompetenz und den dazu komplementären Anforderungen an die einzelnen Schreiber. Dieser Standpunkt wurde auf einer befreundeten Webseite noch vor zwei Jahren als "Schwachsinn" abqualifiziert. Man darf gespannt sein, ob bei uns inzwischen wirklich ein Lernprozeß stattgefunden hat.

Kratzbaum bestimmt das Wesen der Rechtschreibung als "Einheitlichkeit", "Normalität", "Legitimität" und "Verbindlichkeit". Puristen werden einwenden, damit ließe sich die Vorstellung einer abgestuften Kompetenz nicht vereinen. Der empirische Befund widerspricht dem aber. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, den komplementären Begriff "abgestufte Obligatorik" mit konkreten Inhalten zu füllen?


Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 06.09.2005 um 08.14 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1622

"Abgestufte Kompetenz"? Welche Schriftsprache hat so etwas? Kann man sich ein dreifarbiges Wörterbuch dabei vorstellen? Schwarz muß jeder drauf haben (Ortografie), blau ist gesundes Mittelmaß (Orthografie), grün wird nur von Spitzenkönnern erwartet (Orthographie). Aus der Sicht von Lernenden, Ausländern zumal, sicher nicht unattraktiv. Nebenproblem: darf einer, der sich mit schwarz begnügt, auch mal eine blaue Schreibung und sonntags gar eine grüne nehmen?
Vergessen wir doch nicht: "Die Schrift ist nicht zum Schreiben da."
Wollen wir ständig Mischmasch lesen? Wollen wir noch öfter nachschlagen müssen, um nicht zu buntscheckig zu schreiben? Wir wissen jetzt schon, wie das ist. Wenn abgestufte Kompetenz, dann so, daß für Printmedien und im öffentlichen Raum grün verbindlich wird.



Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 06.09.2005 um 08.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1623

Mit solchen Begriffen wie "Einheitlichkeit", "Verbindlichkeit" usw. meine ich ein Ideal, wenn ich diesen Ausdruck einmal ganz unfeierlich gebrauchen darf. Dem muß eine graduelle Kompetenz oder schlicht: unterschiedlich ausgeprägte Rechtschreibfähigkeit im Einzelfall nicht widersprechen. Orthographie als mehr oder weniger gut beherrschte, ständig verbesserungsfähige Praxis - so ist es ja schon immer gewesen. Ich kann mich mit bescheidenen Fähigkeiten begnügen, wenn ich mit anderen auf gleichem Stand kommuniziere. Will ich hingegen "aufsteigen", z. B. in gebildeten Kreisen mich öffentlich äußern, so wird mir nichts anderes übrigbleiben, als meine Kompetenz zu steigern. (The medium is the message, könne man beinahe sagen...) Ich sagte es schon: Es geht eigentlich ums richtige Benehmen. Ansetzen sollte man bei der Bewertung und den Sanktionen, das scheint unser deutsches Problem zu sein. Hier müßte Toleranz einkehren - aber "abgestuft"! Die unselige Reform hat zur Zeit unfreiwillig für große Unsicherheit und damit Toleranz (eher:Gleichgültigkeit ,also das Gegenteil) in den Schulen gesorgt.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 06.09.2005 um 11.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1626

Ein Vivat hoch auf unseren vorurteilsfreien Denkanreger Kratzbaum! Wer ein wenig zurückdenkt, erinnert sich an Noam Chomskys "Ideal Speaker", dessen "competence" er beschreiben will - sozusagen eine kollektive Kompetenz, die bei den einzelnen Sprachteilhabern natürlich nur in unendlich vielen Abschattierungen existiert. Saussures "langue" ist übrigens genau so ein kollektives Phänomen, doch in der "parole" kommt die individuelle Vielfalt zutage. "Abgestufte Kompetenz" braucht man also nicht zu erfinden, sie existiert einfach, wir müssen uns nur von der Vorstellung lösen, daß damit zwangsweise ein Werturteil verbunden ist. Genau das sagt auch Kratzbaum. Für die Beschreibung einer Rechtschreibung folgt daraus, daß dies bei der Darstellung der Regularitäten zu berücksichtigen ist. Bei Professor Ickler steht dafür das Begriffspaar "Obligatorik" und "Fakultativität". Der Rigorismus der Dudenorthographie ist längst Makulatur, nur einige haben es noch nicht gemerkt.

Bernhard Eversberg hält dem entgegen: Wollen wir ständig Mischmasch lesen? Wollen wir noch öfter nachschlagen müssen, um nicht zu buntscheckig zu schreiben? Wenn abgestufte Kompetenz, dann so, daß für Printmedien und im öffentlichen Raum grün (= die Orthographie der "Spitzenkönner") verbindlich wird. Auch dies beschreibt die gängige Praxis. Ein Schriftsteller, der sein "schwarzes" oder "blaues" Manuskript vom Lektorat seines Verlags orthographisch überarbeiten läßt, paßt genau hierher. Soll man denn wirklich einem intelligenten Schreiber zumuten, im Duden nachzuschlagen, ob "den Weg freimachen oder frei machen" zu schreiben ist? Der entsprechende Duden-Eintrag - vor wie nach der Reform - ist kabarettreif: Um das obsolete "eine Postsendung freimachen" als "Differenzschreibung" zu ermöglichen, ist in allen anderen Kollokationen kontraintuitiv getrennt zu schreiben! So etwas kann man nur mit autoritätsgläubigen deutschen Schreibern machen. Andere Schriftsprachen haben so etwas nicht und benötigen deshalb auch keine abgestufte Obligatorik.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.09.2005 um 11.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1627

Die Spitzenkompetenz sollte wohl nicht darin bestehen, jede Einzelheit eines spitzfindigen Dudens zu kennen. Denn was kümmert den kompetenten Sprachteilhaber der Duden? Dagegen könnte ich mir vorstellen, daß im normalen Sprachgebrauch die Entscheidung zwischen "stehen bleiben" und "stehenbleiben" ins Belieben gestellt ist (meine Unterscheidung von Obligatorik und Fakultativität ist allerdings nicht im Sinne von abgestufter Kompetenz gemeint), daß aber unter Spitzenkompetenten sich eine Unterscheidungsschreibung verbreitet, zu deren Würdigung natürlich auch die entsprechende Kompetenz des Lesers nötig ist.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 06.09.2005 um 12.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1628

Und wenn es plötzlich gar keine verbindlich vorgeschriebene Orthographie mehr gäbe, so würde sich doch in einem absehbaren Zeitraum wieder eine als vorbildlich empfundene und damit Einheitlichkeit herausbilden - wie es schon immer der Fall war. Es herrscht eben in der Sprache das Gewohnheitsrecht oder der allgemeine Brauch. Die Folge ist Konvergenz.


Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 06.09.2005 um 15.35 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1630

Das Ins-Belieben-Stellen hat ja nun die Reform auf die Spitze getrieben. Spitzenprodukte des Schreibhandwerks zeichnen sich aber wohl unverändert durch sehr bewußten Einsatz von Differenzschreibungen aus.
Als Problem sehe ich: je breiter die tolerierte Grauzone ist, in der sich der Normalanwender tummeln kann, desto leichter führt gleiche Gültigkeit zu Gleichgültigkeit, zu einem Breiterwerden der Grauzone und einem Abbau der Sensibilität auch in der Wahrnehmung der Differenzen. Daß Differenzen bes. in der GZS mit Bedeutungsunterschieden zu tun haben, das darf ein Wörterbuch nicht länger unterschlagen, wie es Duden und auch Wahrig immer noch tun.

Und kennt jemand irgendeine Schriftsprache mit so breiter Grauzone wie wir sie jetzt haben? Das Englische ganz sicher nicht, trotz (aber vielleicht gerade wegen) seiner grotesken Inkongruenz von Schrift und Aussprache. Zumindest weiß noch keiner, welche Risiken und Nebenwirkungen das auf die Dauer haben wird..
Jeder kann schon jetzt eine Nebenwirkung der Variantenschreibungen sehen. Ortografie, Orthografie, Ortographie, und Orthographie kommen alle vier vor, natürlich auch in ihren flektierten Formen. Good luck, wenn Sie eine Google-Suche mit einem solchen Wort machen wollen, und dann noch in Kombination mit einem anderen, ebenfalls betroffenen Wort. Ich möchte fast behaupten, man hätte neue Varianten sorgsam gemieden, wäre Google schon dagewesen. Vielleicht wird es noch wieder zu einem konvergenzfördernden Faktor...
(Nein, die Funktion "Meinten Sie vielleicht ..." löst das Problem nicht. Sie greift nicht immer (nicht bei GZS und nicht, wenn man "brennessel" eingibt, nur umgekehrt!), und den Ärger bei Kombinationen hat man trotzdem.


Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 06.09.2005 um 16.35 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1631

Leergut

Die Diskussion um den deutschen Rechtschreibfrieden ist offensichtlich noch nicht zu Ende, selbst nach neun Jahren, in denen die Schullehrer eine zweifelhafte Norm predigten, einem kompletten Schülerjahrgang seit 1996 den Einblick in ein zuvor jahrzehntelang funktionierendes System verwehrten, und in denen sich die Politik mit der Doktrin der einseitigen Unterrichtung jede Menge Multiplikatoren beschaffte.

Währenddessen haben die Rechtschreibreformkritiker eine Art Metatoleranz entwickelt, haben als notwendig eingesehen, daß man dem Dudenverlag sein Monopol abgenommen hat, haben akzeptiert, daß ein Einzelwort mehrfach lizenziert sein darf, haben sich dem Gedanken angeschlossen, daß es obligatorische und fakultative Wortdarstellungsmöglichkeiten gibt, und zusätzlich waren sie doch aufgrund ihrer Vorbeschäftigung mit dem Gegenstand Rechtschreibung, vor allem aber aufgrund des rigorosen staatlichen Eingriffs in das Rechtschreibsystem weit davon entfernt, Häme zu empfinden, wenn andere einen Verstoß gegen die je gültige Rechtschreibnorm begingen.

Inzwischen sind wir noch elf Monate von der endgültigen Verabschiedung des neuen Regelsystems entfernt, denn am 1. August 2006 werden auch die abtrünnigen Ministerpräsidenten Stoiber und Rüttgers endgültig einlenken.

Es fällt schwer, zu glauben, daß künftighin die Sitzungen des aufgeblähten Rates für deutsche Rechtschreibung reibungslos und zielbestimmt verlaufen könnten; schließlich waren bislang die Taktiken des Verschleppens, der Ignoranz und der Verleumdung durch die im Hintergrund Fäden ziehenden Bürokraten und Wirtschaftsmagnaten von Erfolg gekrönt.

Und falls sich heute noch einflußreiche Persönlichkeiten wohlwollend der Sache zuwenden, dann geschieht dies doch ausschließlich ultimativ – also wohl wollend, aber nicht allzu lange könnend.

Unter diesen Umständen habe ich persönlich keine Hoffnung mehr, daß Vernunft und Mut gegen die gewaltige Allianz von Profit, Macht und verführter Jugendlicher siegen könnte, zumal einige meiner wiederholten Appelle an das Verantwortungsbewußtsein der Lehrerschaft wirkungslos verhallten und verhallen.

Die Zeit für eine letztmögliche Mobilisierung verstreicht, während wir intern über feine Nuancen und Optimalforderungen reden, aber gleichzeitig den Rechtschreibreformbetreibern das Recht einräumen zur Information, die ihrer Klientel eine vorgeformte Einheitsmeinung suggeriert.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 06.09.2005 um 17.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1632

Die Mitstreiter scheinen vergessen zu haben, daß der eindeutigste Beitrag zum Thema Kompetenz und Norm von Gerhard Augst stammt. Zur Erinnerung: Er schrieb 1998 in seiner Rechtschreibdidaktik (zusammen mit Mechthild Dehn, ebenfalls Mitglied der Zwischenstaatlichen Kommission):

Ist sonst für alle sprachlichen Theorien der sprachlich kompetente Erwachsene das Maß aller Dinge, so ist es in der Rechtschreibung das amtliche Regelbuch. Ja, der Schreiber selbst kann und darf sich im kritischen Entscheidungsfall nicht trauen, auch er muss im amtlichen Regelbuch oder in einem daraus abgeleiteten Rechtschreibwörterbuch nachschlagen. Genauer formuliert: Der Schreiber muss nicht den einzelnen amtlichen Regeln folgen, es bleibt ihm überlassen, wie er das macht. Nur das Resultat, die normierte Schreibung, ist amtlich bindend. Auch die amtlichen Regeln sind nur eine Möglichkeit von vielen, die normierte Schreibung zu erzeugen. Sie können ebenfalls auf linguistische Theorien a, b, c, ... Bezug nehmen. Deshalb müssen in der Schule auch nicht die (amtlichen) Regeln gelehrt werden. Entscheidend ist die richtige amtliche, normgerechte Schreibung! (Rechtschreibung und Rechtschreibunterricht, S. 49)

In den aufmüpfigen Jahren der Studentenrevolte wäre dies als ein Musterbeispiel für autoritäre Herrschaftssprache gebrandmarkt worden. Siebenmal "amtlich" (darunter "amtlich bindend"), dreimal "normiert", bzw. "normgerecht", dazu die Charakterisierung des Rechtschreibens als Handlung unter Zwang! In dieser korrumpierten Sicht ist das Rechtschreibwörterbuch keineswegs die Dokumentation der üblichen Schreibungen bzw. der Leitfaden zum traditionellen Schreibusus, sondern die Umsetzung des amtlichen Regelbuchs. Die amtlichen Rechtschreibregeln erzeugen die normierte Schreibung. Für Schreibgeschichte und Schreibkultur und ihren Träger, das Schreibvolk, ist in diesem Kontext kein Platz.

Eine solche Darstellung aus der Feder eines Wissenschaftlers, der nach Lebenserfahrung und Lebensdaten der 68er Generation zuzurechnen ist, mag verblüffen. Ich schätze vielmehr ihre Ehrlichkeit. So sieht - unverblümt dargelegt - die Wirklichkeit der amtlichen deutschen Rechtschreibnormierung aus, deren Fetisch seit 1902 das Duden-Wörterbuch war und auch unter den 1996 veränderten Bedingungen weiterhin ist. Die Neuregelung war kein Ausrutscher, sondern die konsequente Fortführung des deutschen Irrwegs in Sachen Rechtschreibung.


Kommentar von Reinhard Markner, verfaßt am 06.09.2005 um 18.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1633

Bevor sich die Legende, daß nur die Deutschen eine amtliche Regelung ihrer Rechtschreibung hätten und insofern einen irgendwie analistischen Sonderweg beschritten, noch weiter auswächst, sei an dieser Stelle zur Abwechslung einmal auf die von keinem Geringeren als De Valera in Auftrag gegebene irische Staatsorthographie verwiesen, wie sie zunächst im Lamhleabhar an Chaighdeáin Oifigiúil und 1957 dann in dem Werk Gramadach na Gaeilge agus Litriú na Gaeilge niedergelegt worden ist.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 06.09.2005 um 20.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1634

Es ist nicht so wichtig, ob eine Rechtschreibung amtlich ist oder nicht. Der Staat kann schließlich alles Mögliche für "amtlich" erklären. Entscheidend ist die Genese. - Wenn Wörterbücher bei uns mit dem Verkaufsargument "amtlich" glauben werben zu können, so wirft das jedenfalls ein bezeichnendes Licht auf das (vermutete) Verhältnis der Deutschen zur Orthographie.


Kommentar von H. J., verfaßt am 06.09.2005 um 22.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1635

Auch zu dem hier diskutierten Vorschlag einer gestuften Obligatorik gibt es eine Stellungnahme von Gerhard Augst, die den Besuchern von "Schrift & Rede" nicht vorenthalten werden sollte:

Die Reformer sind der Ansicht, dass alle Rechtschreib-Regeln genau dann auf den Prüfstand gestellt werden können und müssen, wenn sie dem Leser zwar einen kleinen Vorteil bescheren, dem Schreiber aber große Probleme machen. Es muss zu einem Interessenausgleich kommen! Dies gilt umso mehr, wenn die Rechtschreibung in den letzten 100 Jahren durch die Normierung mit einer großen Fülle feinsinniger Unterscheidungen befrachtet worden ist, deren Sinn für den Leser kaum einzusehen ist, für den Schreiber aber subtile Regelkenntnis - teilweise auf der Basis einer sehr genauen grammatischen Analyse - bedeutet. [...] Genau diese vielfach nutzlose Kasuistik zu beseitigen, war und ist in der Mehrzahl aller Fälle ein Ziel der Reformer. Dies ist besonders dann geboten, wenn der Staat durch eine Normierung die Rechtschreibung für die Schreiber verbindlich festlegt. Diese Festlegung muss u. E. so gestaltet sein, dass ein Schreiber nach dem Ende der allgemeinen Schulpflicht in der Lage ist, diese Norm befolgen zu können. Die Rechtschreib-Norm darf auf keinen Fall große Teile des Volkes von dem Gebrauch der richtigen Schreibung ausgrenzen, und dies erst recht nicht in einem demokratischen Gemeinwesen, wo jeder Bürger das grundgesetzlich verbriefte Recht hat, sich in Wort und Schrift frei zu äußern. [...] Bei dem ungeheuren gesellschaftlichen Stellenwert, den die Rechtschreibung hat, ist es auch nicht möglich, eine einfache Rechtschreibung für das einfache Volk und eine sophistizierte Rechtschreibung für die Gebildeten zuzulassen. [...] Eine Rechtschreibung für jedermann muss bestimmt sein durch klare Grundregeln, die möglichst wenig Ausnahmen oder gar Ausnahmen von den Ausnahmen haben. (Ausarbeitung [zusammen mit Burkhard Schaeder] für den damaligen KMK-Präsidenten Wernstedt, Frühjahr 1997)


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 06.09.2005 um 23.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1636

Das sind so diese pseudodemokratischen Phrasen. Richtig rechnen zu können, ist womöglich noch wichtiger, als richtig schreiben zu können. Trotzdem hat man noch nie von Forderungen nach einer "Vereinfachung" gehört. Auch können nicht alle gleich gut Englisch, obwohl sie es alle in der Schule gelernt haben. Irgendwer wird immer "ausgegrenzt" sein. Entscheidend ist, ob er diese Grenze kraft eigener Anstrengung überwinden kann. - Wenn man sich außerdem ansieht, welche subtilen grammatikalischen Proben laut Regelwerk vom Schreiber z.B. im Hinblick auf die Getrennt- und Zusammenschreibung verlangt werden, führt sich die ganze Argumentation selbst ad absurdum. Mehrere Reformer haben das Regelwerk, das doch die Lösung aller Probleme garantieren sollte (Wernstedt: 90% unserer Fehler sind wir los) selbst als untauglich für den praktischen Gebrauch bezeichnet.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.09.2005 um 06.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1637

Peccavi! Eigentlich habe ich mich um die Frage, ob und wie die Rechtschreibung in den Staaten der Welt amtlich geregelt ist, noch zu wenig gekümmert. Bisher war er es mir auch nicht möglich, darüber eine zuverlässige Darstellung zu finden - kann jemand helfen?

Man muß auf jeden Fall unterscheiden, ob der Staat - und für welche Bereiche - eine vorhandene und anderweitig schon beschriebene Orthographie für verbindlich erklärt oder ob er sich selbst mit den Schreibweisen beschäftigt wie die deutschen Ministerialbeamten in ihrer "Arbeitsgruppe", in der Amtschefskommission und KMK. Die Anweisung, sich nach dem Duden zu richten, war von anderer Qualität als die Diskussion unter Ministerialräten, ob "Gämse" zu schreiben sei.

Was die düstere Perspektive von Hern Schäbler betrifft (1. August 2006), so liegt dazwischen ja noch einiges. Das nächste Ereignis wird die Vorlage der revidierten GZS bei den "Verbänden" sein - welche auch immer es sein mögen. Und dann die weitere Behandlung durch die Ministerien.

Spannend bleibt die Frage nach der Bearbeitung der angeblich unstrittigen Teile. Und gerade hier werden die ersten Gerichtsverfahren ansetzen.

In den nächsten beiden Wochen sollte man keine großen Aktionen machen, sie würden im Wahlkampfgetöse untergehen.


Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 07.09.2005 um 09.17 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1638

Wir haben doch jetzt amtlich verordnete Vielfalt, ist das nicht was wirklich Neues und Erfrischendes? Und es wird noch nicht einmal irgendwo gesagt (oder doch?), daß man nicht im selben Text einmal aufwendig und einmal aufwändig schreiben soll, hier Fotografie und dort photogen, oder einerseits hoch konzentriert und andererseits tiefempfunden - das sind ja jeweils gleichwertige Varianten. Das "dass" allerdings, das muß nun immer genau so geschrieben werden - in ihm sticht die Amtlichkeit unübersehbar hervor wie in nichts anderem, unverrückbar wie ein umgekipptes Matterhorn (die Gämse, obwohl auch festgeschrieben, kommt ja viel zu selten vor).

Nüchtern betrachtet: Wenn die Zeitungen dabei bleiben, in sich homogen schreiben zu wollen (aber warum sollten sie das noch wollen?), bleibt auch nach Abschluß der Reform nichts übrig, als eine Hausorthographie zu pflegen.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 07.09.2005 um 12.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1641

Es ist nicht zu begreifen, daß der Kernpunkt im deutschen Rechtschreibstreit einfach nicht begreifbar zu machen ist. Natürlich beschränken wir uns auf Deutschland. Ob in Irland kein Geringerer als De Valera seine Unterschrift unter die Liste der empfohlenen Schreibungen setzte, tut hier nichts zur Sache. Wir haben doch auch einen "Kernbestand des Richtigen", der unstrittig ist, obwohl er "Vieh", "Frevel" und "Kaninchen" enthält. Neun Schuljahre genügen völlig, um ihn einzuüben. Ganz am Rande ist er etwas ramponiert, nachdem die Reformer "Stängel", "rau" usw. eingeschmuggelt haben, aber das wird sich geben. Was sich nicht geben wird, sind die Probleme mit einigen Teilbereichen unserer Getrennt- und Zusammenschreibung bzw. Groß- und Kleinschreibung. Würde man hier "amtlich" der Intuition der Schreibenden freien Lauf lassen, wäre der Rechtschreibfrieden über Nacht hergestellt. Übrigens nicht "wiederhergestellt". Gerhard Augst erzählte vor kurzem dem SPIEGEL, die "alte" Rechtschreibung habe wie eine Pest unter Arbeitern und Bauern gewütet. Dieser Vergleich ist denkbar schief, denn die Betroffenen haben davon nur ausnahmsweise etwas gemerkt. Herr Augst hätte lieber die verstohlene Scham vieler gebildeter Schreiberinnen und Schreiber erwähnen sollen, die in ihrer Unsicherheit immer wieder zum amtlichen Rechtschreibwörterbuch greifen mußten. Man nehme sich bitte einen alten Duden vor und lese geduldig den langen Eintrag unter "letzt". Augst und sein Kreis haben an dieser Abhängigkeit vom Duden nichts geändert. Gäbe es nicht den täglichen augenzwinkernden Anschauungsunterricht in der Zeitung, daß ein vernünftiger Mensch heutzutage die Rechtschreibung nicht mehr über die Maßen ernst zu nehmen braucht, könnten der ehedem privilegierte Wörterbuchverlag und sein glückloser Nebenbuhler alle paar Jahre Verkaufsorgien feiern. Aber endlich fängt die – feierlich gesagt - deutsche Schreibgemeinschaft an, sich auf ihre Intuition zu verlassen.

Anders als eigentlich beabsichtigt hat die Rechtschreibreform eine in Deutschland für unmöglich gehaltene Schreibemanzipation bewirkt. Ist dadurch die schriftliche Kommunikation zusammengebrochen? Wie sollte sie, der "Kernbestand des Richtigen" hat doch (fast) unbeschädigt den amtlichen "Schildbürgerstreich" überstanden. Gerade lese ich in unserer Regionalzeitung: "Das Haus überzeugt durch flexible Formen und eine durchdachte Grundrissgestaltung. Verschiedene Varianten, wie zum Beispiel eine Raum öffnende Galerie im Wohn- und Flurbereich, sind möglich. Das üppige Raumangebot sorgt dafür, dass in diesem Haus alle Familienmitglieder von jung bis alt glücklich werden können." An den beiden kursiv gesetzten Stellen mußte der Schreiber oder die Schreiberin sich auf seine/ihre Intuition verlassen. "Familienmitglieder von jung bis alt" ist weder in den amtlichen Regelungen von 1901 noch von 1996 vorgesehen, für "eine Raum öffnende Galerie" gab es dagegen eine Dudenregel und natürlich den § 36 (1) von 1996, der jedoch 2004 amtlich liberalisiert wurde, ohne daß "Raum öffnend/raumöffnend" in irgendeinem Wörterbuch seinen Niederschlag gefunden hätte. Merkt man dem Zitat nicht an, daß sich hier die Schreibung aus dem Kontext ergibt, und eben nicht einer amtlichen Normierung folgt? Wer nun die beiden "ss" moniert, sollte bei der Fahrt in den Süden einen weiten Bogen um die Schweiz machen. Was hier am Ende bleibt, sollte man getrost der Zukunft überlassen.

Noch eine Anmerkung: Die Wahlmöglichkeiten an einigen Stellen der GZS und der GKS haben sich im Deutschen entwickelt, weil intelligente Schreiber irgendwann die Chance sahen, ihr besonderes Ausdrucksanliegen auch graphisch auszudrücken. Sie machten von einer Freiheit Gebrauch, als es diese noch gab. Erst die amtliche Festschreibung machte aus der Freiheit eine Bürde. Davon kommen wir jetzt los. Ob die jungen Menschen, die heute noch unter dem absurden Oktroi von 1996 stehen, sich als Erwachsene der in unserer Zeit entstehenden neuen Tradition des befreiten Schreibens anschließen werden, ist vorläufig noch offen. Das wäre aber die große Hoffnung für die Zukunft.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 07.09.2005 um 13.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1642

Da möche ich doch gelinde Zweifel äußern, Herr Prof. Jochems:

Von "Schreibemanzipation" zu sprechen, wo allgemeine Unsicherheit und Ratlosigkeit herrschen, scheint mir doch gar zu wohlwollend geurteilt. Vergessen Sie nie den Schulunterricht. Sich emanzipieren, also Regeln hinter sich lassen, kann man erst, wenn man sie beherrscht und befolgt hat. Emanzipation wäre bewußte Nichtbeachtung von Regeln im Dienste einer Weiterentwicklung. Davon kann doch in der augenblicklichen Situation im Ernst nicht die Rede sein. Wenn viele an dem Haus "Sprache" mitbauen, aber jeder nach einem anderen Plan - was soll dabei herauskommen?


Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 07.09.2005 um 14.22 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1643

Kriegstreiber, wie ist Dein Name?

Prof. Jochems spricht von einem Rechtschreibfrieden, der sozusagen über Nacht hergestellt werden könnte, doch bitte ich an dieser Stelle um Aufklärung darüber, wer diesen Frieden nachhaltig gestört hat.

Sind das etwa der Freiherr von Bismarck und sein Antipode Kaiser Wilhelm? Sind das etwa die bösen 68er, welche sich mit den Slogans „Rechtschreibung dient als Rohrstockersatz“, „elaborated code“, usw. in die Köpfe der Schicksalszufriedenen und letztlich Friedlichen einmischten? Sind das die Institutionen, die in den Nachkriegsjahren durchmarschiert wurden (GEW, KMK, BverfG ...)?

Und wer sind sie; die nachhaltig Betrogenen, die zwanghaft Genormten, die Oktroiierten? Sind es die, die zu Hause noch ein Wörterbuch benutzen? Oder sind es tatsächlich die so genannten geringgeschätzten Bevölkerungsschichten, deren Wert niemals an normierter Faktenlage, sondern immer schon an ihren unschätzbaren, individuellen und reell erbrachten Leistungen für das Gemeinwohl gemessen wurde?

Wer sind die, die sich einsetzen für die Bedürfnisse anderer, und dies zu einem Zeitpunkt, an dem der/die andere noch gar nicht gemerkt hat, daß er/sie tatsächlich Bedürfnisse hat?

Und wer sind wir, die wir uns ebenfalls mit großer Sensibilität und ggf. fundiertem Verantwortungsbewußtsein Bedürfnissen annehmen, ohne auf Gegensensibilität zu stoßen?

Es wäre wichtig, daß die Botschaft fertig wird, damit man nach dem 18. September missionieren kann mit einer schlichten Aussage, die über alle Anfechtungen der ewig am Frieden Herumnörgelnden und zwanghaft Unglücklichen erhaben ist!

Nachsatz: Mir scheint, daß die Gruppe der am Zwang Unglücklichgewordenen überhaupt nicht existiert.


Kommentar von H. J., verfaßt am 07.09.2005 um 14.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1644

Nachtrag: Ich drücke mich nicht so diplomatisch aus wie Professor Ickler, sage aber nichts anderes als er: Aus dem Kreise wohlwollender Kritiker ist vorgeschlagen worden, die Getrennt- und Zusammenschreibung „eindeutiger" zu regeln. Dagegen sprechen zwei Gründe. Erstens berechtigt das Material nicht zu Festlegungen, wie sie der Duden in zahllosen Einzeleinträgen getroffen hatte. Noch wichtiger ist aber der zweite Grund: Entschiede der Lexikograph im Sinne der „Eindeutigkeit" bei jedem Wort, ob es getrennt oder zusammenzuschreiben sei, dann wüßte der Benutzer zwar, daß eine Festlegung existiert, er müßte aber jedesmal nachschlagen, um herauszubekommen, wie sie aussieht. Diese geradezu monströse Erschwerung würde zum vielbeklagten früheren Zustand zurückführen, der allmählich eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Dudennorm erzeugt hatte. [Vorwort zu Normale deutsche Rechtschreibung, S. 12]


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 07.09.2005 um 15.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1645

"Diejenigen, die professionell mit ihr umgehen und sie annähernd vollständig beherrschen, interessiert sie wenig. Diejenigen, die sich damit schwertun, interessiert sie meistens noch weniger." (H. Kuhlmann, Orthographie und Politik). - Genau so ist es, lieber Herr Schäbler: Die unter der Rechtschreibung unerträglich Leidenden gab es gar nicht. Hätte man eine Umfrage unter Tausenden gemacht, was sie als ein besonders drängendes Problem, dessen Lösung keinen Aufschub dulde, empfänden - die Rechtschreibung wäre garantiert nicht genannt worden. Nicht einmal von Lehrern. In Abwandlung eines Aphorismus von K. Kraus - "Der Skandal beginnt, wenn die Polizei ihm ein Ende setzt" - könnte man sagen: Die deutsche Rechtschreibung wurde in dem Moment zur Staatsaffäre (im wahrsten Sinne des Wortes), als man sich anschickte, sie zu erleichtern und "logischer" zu machen.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 07.09.2005 um 16.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1646

Herr Jochems behauptet, die schriftliche Kommunikation sei nicht zusammengebrochen. Das mag er so sehen. Ich für meinen Teil weigere mich, Korrektur an einem von mir verfaßten Text zu lesen, nachdem die von mir bewußt gewählte Rechtschreibung von der Redaktion der wissenschaftlichen Zeitschrift, für die der Artikel bestimmt war, geändert wurde. Ist das kein Zusammenbruch von Kommunikation? Können wir Naturwissenschaftler nur noch in Pidgin-English veröffentlichen?


Kommentar von R. M., verfaßt am 07.09.2005 um 17.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1647

Hat jemand behauptet, daß die schriftliche Kommunikation zusammengebrochen sei? Hat es jemand irrtümlich prognostiziert? Klassischer Fall von straw man fallacy -- und doch eine der Grundlagen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.


Kommentar von H. J., verfaßt am 07.09.2005 um 17.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1648

Sehr geehrterGlasreiniger, für unsere Diskussion wäre es nützlich, wenn Sie die von der Zeitschriftenredaktion beanstandeten Schreibungen hier ins Internet stellten; dann könnten wir uns etwas genauer über den Zusammenbruch der schriftlichen Kommunikation aussprechen. Kratzbaum findet immer wieder ein ausgleichendes Wort, und ihm sei Dank dafür. Unter "Schreibemanzipation" verstehe ich allerdings etwas anderes. Ich meine das gute Gewissen, nach langjähriger Lese- und Schreibpraxis eigenständig intuitiv zu entscheiden, wie ein gelegentlich auftauchendes Schreibproblem zu lösen ist. Beide Fälle in meinem Beispieltext sind von dieser Art. Wer ohne Duden hilflos ist, schließt sich aus der Riege der kompetenten Schreiber aus. Vor einiger Zeit schrieb mir einer der Besonnensten aus unserem Kreis, er habe immer gemeint, in der deutschen Rechtschreibung firm zu sein. Erst die Beschäftigung mit der Rechtschreibreform habe ihm die Augen geöffnet dafür, was er alles nicht wußte. Mir ist es genauso ergangen, und ohne die intensive Auseinandersetzung der letzten neun oder zehn Jahre wäre auch Professor Ickler heute nicht die führende Autorität in Fragen der deutschen Rechtschreibung. Nun gilt es, den richtigen Weg zu einer konsensfähigen Lösung des gegenwärtigen Dilemmas zu finden, die aber nicht in einer Restauration der alten Zustände bestehen kann. Wie sagte der General de Gaulle doch 1940: "La France a perdu une bataille. Mais la France n'a pas perdu la guerre."


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 07.09.2005 um 21.09 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1649

>für unsere Diskussion wäre es nützlich, wenn ...

Lieber Herr Jochems, nicht wirklich.

Ich habe den Text des Korrekturabzugs - genauer gesagt, der PDF-Datei - nur bis zur ersten Heyse-Schreibung gelesen; es wird wohl ein "dass" gewesen sein. Damit war die Einstellung der Redaktion zu meinem ästhetischen Empfinden ausreichend klargestellt. Aus Zeitgründen habe ich mich mit dem Fall dann nicht mehr weiter befassen mögen; die Zeit drängte, so wurde der Artikel eben ohne weitere Mitwirkung meinerseits in Druck gegeben.

Sicher, man mag mir da eine übertriebene Radikalität vorhalten. Und ich sei ja auch nicht ein Schreiber von solchem Format, daß ich mir solche Eigenwilligkeit leisten dürfe. Bei Zeitungsartikeln verweigere ich deren Kenntnisnahme ja auch nicht aus so nichtigen Gründen.

Aber einen Zusammenbruch der Kommunikation darf ich doch konstatieren.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 07.09.2005 um 21.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1650

Noch ein Zitat: "Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) - L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 6.54. (Danach kommt dann nur noch das berühmte Bonmot vom Sprechen und vom Schweigen). "Die Leiter wegwerfen..." kennzeichnet das nicht auch den kompetenten Schreiber?

(Gruß vom Ewigen Meer ins Siegerland!)


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 08.09.2005 um 02.10 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1651

Ich möchte meinen Beitrag beginnen, indem ich das Zitat des ersten Kommentars von Karin Pfeiffer-Stolz vom 26.08. noch einmal aufgreife.

Immer wieder erheben sich nämlich auch Stimmen wohlwollender Kritiker der Rechtschreibreform, welche nicht noch mehr Einheitlichkeit in der Rechtschreibung fordern - teilweise auch in Bereichen, wo dies leider nicht sinnvoll zu erreichen ist -, sondern die umgekehrt sagen, wie man schreibe, sei in vielen Fällen egal. Oder jedenfalls nicht so wichtig. Man könne sich mit vielem abfinden, was die Reform nun einmal über uns gebracht habe. Das werde sich geben, es lohne jedenfalls kein Engagement. Überdies sei mit mehr Varianten sogar eine Möglichkeit eröffnet, mit Rechtschreibung insgesamt liberaler und emanzipierter umzugehen.

Da mag ein Körnchen Wahrheit dabei sein, aber insgesamt scheint mir das doch reichlich verzerrt, eigentlich geradezu absurd. Ich lehne diese Sichtweise ab.

Zur Veranschaulichung unterstelle oder erfinde ich eine Änderung, die die Reform zufällig gar nicht enthält, den Tieger. Sieger, Flieger, Krieger, Schwiegermutter - da fällt Tiger aus dem Rahmen. Eine Schwierigkeit. Abhilfe: der Tieger. Ich bin als Reformer menschen- und lebewesenfreundlich und entscheide mich (in diesem Fall) dafür, den Tiger nicht gleich auszurotten, sondern ihn gleichberechtigt neben dem fortschrittlichen Tieger leben zu lassen. Genau wie etwa aufwendig neben fortschrittlich aufwändig, Potential neben fortschrittlich Potenzial. Die Sprachgemeinschaft wird langfristig entscheiden, welcher Variante sie den Vorzug gibt.

Dieser schöne Plan zur Befreiung der Kinder aus dem Zwang, ausnahmsweise Tiger nur mit i zu schreiben statt mit ie, hat zur Folge, daß sich die Sprachgemeinschaft jahrzehntelang nicht über die Schreibweise einig ist. Die einen schreiben Tieger, die anderen Tiger.

Was immer man mit diesem Vorgang für positive Effekte assoziieren mag - ich kann eine solche Maßnahme und ihre Folgen nur als absoluten Schwachsinn empfinden und bewerten. Ich kann nichts damit anfangen, wenn jemand angesichts solcher Veruneinheitlichungen von Emanzipation oder Liberalität spricht oder die Harmlosigkeit des Geschehens hervorhebt, ganz nach dem Motto:

Wie man schreibt, ist egal!


Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 08.09.2005 um 03.09 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1652

Empor auf die Leiter der Intuition!

In den nächsten Gesprächen des Rats für deutsche Rechtschreibung wäre im Prinzip lediglich zu regeln, daß es in aller Zukunft in der deutschen Rechtschreibung Optionen für einzelne Worte geben darf, daß man Begriffe aus dem Bereich der GKS und GZS (welche beim Schreiben Zweifel verursachen) künftighin als Option darstellen kann (als Wortgruppe oder als Einzelwort, mit oder ohne Zuhilfenahme von Versalien).
Wichtig dabei, daß dem Fehlansatz der staatlichen Reglementierungswut unbedingtestens widersprochen wird, denn es kann und darf keine Gültigkeit behalten, was gemeinhin als Oktroi, Beliebigkeit und kompetenzüberschreitende Einzellizenzierung empfunden wird.

Wer Icklers Schaffen verfolgt, der weiß genau, daß erst im zweiten Ansatz eine didaktische Anleitung für die Behandlung von Zweifels- und Sonderfällen erscheinen wird – und jene kann nicht erstellt werden innerhalb eines Ultimatums.
Eine „Stoppuhr“ gefährdet das gesamte Vorhaben! Schließlich handelt es sich nicht um irgendeinen sportlichen Wettbewerb, sondern um Wesenszüge der Kommunikation, mit all ihren Wertmaßstäben der gegenseitigen Rücksichtsnahme bzw. des Einfühlungsvermögens sowie einer vollkommen fehlenden Konkurrenzmentalität.
Eine zu erwartende didaktische Anleitung wird sich sehr stark mit Intuitionen beschäftigen müssen, denn die Prozesse des rechten Schreibens sind oftmals der Vernunft verborgen und in einem methodischen Lehrbuch nicht verfügbar. Das heißt: Was der Bauch entscheidet, kann oftmals nicht versprachlicht und nachvollziehbar gelehrt werden, obwohl der Bauch doch nahezu immer treffsicherste Lösungen bereithält.

Ein Beispiel dazu: Versuchen Sie einem in Zweifel befindlichen motivierten Rechtschreiber den Unterschied zwischen der Konjunktion „daß“ („dass“), dem Artikel „das“ und dem Relativpronomen „das“ deutlich zu machen.
In der gesamten didaktischen Literatur werden Sie kein funktionierendes Lehrbeispiel für diesen exemplarischen Fall finden, und wenn überhaupt, dann sind diese Lehr- und Lernmuster auf phonetischer Kackologie aufgebaut.
Was dem Lösungsansatz der Rechtschreibreform angeht, so ist der doch eher als ein Davonlaufen vor diesem speziellen Problem abzuqualifizieren - denn es liegt auf der Hand, daß das Unterscheidungsmerkmal im tief wurzelnden Sprachgefühl, mitnichten im Bereich der Grammatik zu suchen ist. Keineswegs kann durch die Veränderung des Wortbildes eine Lösung bewerkstelligt werden.

Hunderte von Leuten kenne ich, die den rechten Gebrauch von „das“ oder „daß“ nahezu hundertprozentig beherrschen, doch ich kenne keinen, der in der Lage wäre, mir eine Lehrstunde zu fertigen, bei der auch nur fünfzig Prozent meiner Zuhörer spontan sicher würden beim Gebrauch dieses homonymverdächtigen Wortes.



Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 08.09.2005 um 12.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1654

Vergessen wir nicht, daß wir auf der Webseite der Forschungsgruppe für Deutsche Sprache diskutieren. Ein für jedermann offenes Internetforum kann verständlicherweise nicht den Grad fachlicher Exaktheit erreichen, der für eine wissenschaftliche Gesprächsrunde selbstverständlich wäre, aber aufeinander hören und vorgetragene Argumente nüchtern bedenken sollten wir doch. Falls jedoch der Vorwurf auf einer befreundeten Webseite zuträfe, hier ginge es nur um Selbstdarstellung, sollten wir die Diskussion abbrechen.

Wir sind uns doch wohl einig in der Ansicht, daß es sich beim Schreibenkönnen, also beim gewohnheitsmäßigen Gebrauch der Schriftform einer Sprache, um eine Fertigkeit handelt. Man erwirbt sie im Rahmen des jeweils individuellen Sozialisationsprozesses, d. h. in der durch schulisches und außerschulisches Lernen geprägten Kindheit und Adoleszenz. Die erworbene Fertigkeit kann zwar durch Nichtbenutzung wieder (teilweise) verlorengehen, einer besonderen Stützung bedarf sie aber nicht. (Kratzbaum: "Die Leiter wegwerfen..." kennzeichnet das nicht auch den kompetenten Schreiber?) Nur eine verschwindend kleine Minderheit deutscher Familien oder Alleinstehender besitzt ein Rechtschreibwörterbuch. Bestsellerlisten und Sonderverkäufe wie zu Weihnachten 1996 sollten uns da nicht täuschen. Die deutsche Rechtschreibung, vor allem das Riesenarsenal an Wortbildern, existiert in den Köpfen der Menschen. Niemand denkt beim Schreiben über Rechtschreibung nach, es ist ein automatischer Vorgang, vergleichbar mit dem Sprechen. Fertigkeiten sind bewußtseinsfähig, d. h. wir können uns Rechenschaft darüber ablegen, warum wir so und nicht anders schreiben. "Rhythmus " bekommt im Deutschen und Englischen eben zwei "h", im Französischen nur eins und in den übrigen romanischen Sprachen gar keins. Da Sätze in unseren Köpfen als lautliches Phänomen entstehen, bereiten gleichlautende Wörter gelegentlich Schwierigkeiten. Bei nebensatzeinleitendem "das" überprüft der Schreiber - wie im 3. Schuljahr gelernt -, ob es durch "welches" ersetzt werden kann; geht das nicht, ist "daß" zu schreiben. Auf ähnliche Weise wird der automatische Schreibprozeß unterbrochen, wenn das betreffende Wort oder die Wendung im erworbenen Vorrat der Wortbilder fehlt. In dem Falle hilft die sprachliche Kreativität im Ausgang von den geläufigen Schreibmöglichkeiten weiter. Dies nennen wir Intuition. Häufig hört man auch, wir richteten uns nach dem Sprachgefühl. (Herr Schäbler: Was der Bauch entscheidet, kann oftmals nicht versprachlicht und nachvollziehbar gelehrt werden, obwohl der Bauch doch nahezu immer treffsicherste Lösungen bereithält.) Wenn das nichts bringt, wäre der Griff nach dem Wörterbuch - falls vorhanden - angebracht. In der Schule lernt man eben nicht, wie man "Borreliose" schreibt (das Wort fehlt übrigens im neuesten Duden).

Was wir bis jetzt dargelegt haben, trifft auf alle Sprachen zu. Die Schreiber hängen an ihren Wortbildern und lassen sie sich nicht nehmen, auch wenn sie, wie Herr Eversberg kürzlich sagte - grotesk sind. Diese Kennzeichnung trifft allerdings auf den Versuch unserer Rechtschreibreformer zu, traditionelle Schreibungen durch Regeln zu generieren - als ob das Jahr 1996 die Stunde Null der deutschen Rechtschreibung gewesen wäre. Nun kommen wir aber zu den beiden deutschen Sonderbereichen: Getrennt- und Zusammenschreibung sowie Groß- und Kleinschreibung. Auch hier könnten wir die Leiter wegwerfen, wenn es nur diese beiden Regeln gäbe: "Zusammensetzungen schreibt man zusammen" und "Substantive schreibt man groß". Schwierigkeiten tauchen aber auf, weil wir gelegentlich auch zusammenschreiben, was überhaupt keine Zusammensetzung ist, und wir andererseits (seltener) Substantive und (häufiger) Substantivierungen klein schreiben. Obwohl hier die Stützung durch die Lautung fehlt, prägt sich eine Menge solcher Fälle ebenfalls ein, aber ein nicht zu übersehender Unbestimmtheitsbereich bleibt. Nur um den geht es in unserer Diskussion. "Tieger" haben hier nichts zu suchen. Was in der GZS und GKS außerhalb der durch die Grundregeln abgedeckten Felder gleichsam am Rande existiert, beruht auf verbreiteten Tendenzen in der Schreibgemeinschaft (z. B. die Univerbierung), auf geistreichen Entscheidungen einzelner Schreiber und auf dem verzweifelten Versuch der Wörterbuchredaktionen, in das scheinbare Chaos Ordnung zu bringen. Einer Abweichung von den beiden Grundregeln ist im Text leider nicht immer anzusehen, ob hier jemand bewußt seine Ausdrucksabsicht präzisieren will, oder ob es sich nur um eine Lexikographenentscheidung handelt, die vielleicht sogar schon einen gewissen Grad von Habitualisierung erreicht hat.

Herr Schäbler hat gewiß nicht nachzudenken brauchen, als er "bereithält" schrieb; hätte er aber auch gewußt, daß Duden 1991 (und vorher) für "sich bereit halten" die Getrenntschreibung vorschreibt? Fragen wir uns alle: Hätten wir "Sie sollten sich bereithalten" als Falschschreibung erkannt? Herrn Augsts "fertig stellen" und "heilig sprechen" erkennen wir leicht als vom Usus abweichend. Wie reagieren wir aber auf das vom Duden 1991(und vorher) vorgeschriebene "schuldig sprechen"? Wie schon 1996 abzusehen war, hat besonders in den Randbereichen der GZS und der GKS die Neuregelung das deutsche Rechtschreibdilemma eher verschärft. Von den im Gang befindlichen Revisionsarbeiten sind ebenfalls keine Wunder zu erwarten. Es fragt sich aber, ob Herrn Schäblers nachfolgende Beschreibung die gegenwärtigen Bemühungen richtig charakterisiert: Wichtig dabei, daß dem Fehlansatz der staatlichen Reglementierungswut unbedingtestens widersprochen wird, denn es kann und darf keine Gültigkeit behalten, was gemeinhin als Oktroi, Beliebigkeit und kompetenzüberschreitende Einzellizenzierung empfunden wird. Herrn Wrase ist mit "Tieger" ein Versehen unterlaufen, weshalb sein Vorwurf auch nicht greift. Immerhin: Ich kann nichts damit anfangen, wenn jemand angesichts solcher Veruneinheitlichungen von Emanzipation oder Liberalität spricht oder die Harmlosigkeit des Geschehens hervorhebt, ganz nach dem Motto: Wie man schreibt, ist egal! Kratzbaums Lösungsvorschlag sieht bekanntlich anders aus, nämlich "abgestufte Kompentenz". Früher sagte man, in Frankreich sprächen die Dienstmädchen wie Königinnen. Schrieben sie aber auch so? Es ist herzlos, bei der Rechtschreibung die "soziale Komponente" (wie es im politischen Jargon heißt) zu übersehen. Man bleibe aber auch der Crème der deutschsprachigen Schreibgemeinschaft mit Absurditäten wie "etwas bereithalten" vs. "sich bereit halten" vom Halse.



Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 08.09.2005 um 13.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1655

Herrn Prof. Jochems ist wieder einmal für seine klaren, klärenden Worte zu danken. Bei der Diskussion um alte und neue Rechtschreibung und deren Kodifizierung geht es um die Randbereiche, die Zonen des Übergangs und der "Unsicherheit". (Mal abgesehen von sich schnäuzenden Gämsen und anderen Albernheiten). Außerdem geht es um die Schüler, denen, bevor sie eine tragfähige Intuition vulgo Sprachgefühl entwickeln können, die Grundlagen und -regeln der deutschen Orthographie (die ja so unsystematisch und unlogisch nicht ist und durchaus gelehrt werden kann) irgendwie beigebracht werden müssen. Ich glaube, Prof. Jochems selbst hat es einmal gesagt: Rechtschreibung ist eher ein Können als ein Wissen. Ich gehe noch weiter und sage, sie ist reine Praxis, die der stützendenTheorie nicht bedarf. Gerade in den Zonen der Unsicherheit kann naturgemäß nichts rigoros geregelt werden. Das ist ja wohl auch der Ansatz Prof. Icklers in seinem Wörterbuch. In manche Köpfe will es nur schwer hinein, daß eine Materie in gewissen Bereichen relativ streng geregelt und gleichzeitig in anderen Teilbereichen quasi sich selbst und dem "Wildwuchs" (auch so ein schöner Begriff der Reformer) überlassen bleiben kann. Im Dienste einer funktionierenden Kommunikation hält man sich an das Übliche. Die notwendige Weiterentwicklung und Vervollkommnung des schriftlichen Ausdrucks ist Aufgabe der Eliten, die dem Sprachgeist auf der Spur sind.


Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 08.09.2005 um 21.54 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1658

Die Rechtschreibfalle „daß“


Der Rechtschreibfall „das, daß, dass“ – wobei auch der Ansatz der Rechtschreibreformer: „Schreibe ‚das’ in jedem Falle“ zu beachten wäre – bleibt weiterhin ungelöst.

Allerdings wäre es für Fall- und Fall(l)ösungs-Süchtige in jedem Falle diskussionswürdig, ob es richtig wäre, im Zuge der Fehlervermeidung eine Einheitsschreibung zu verwenden, oder ob es statt dessen richtig wäre, der Unterscheidungsschreibung dort Raum zu gewähren, wo sie notwendig ist. (Hierzu hat Maria Therese Rolland mit ihrem Buch „Neue deutsche Grammatik“ einen hervorragenden Beitrag geleistet.)

Vielleicht fällt ja aus der von mir hiermit betriebenen Kleinstinselbetrachtung (Sprachfall „das oder daß“) gar eine taugliche Erkenntnis ab, die sogar überlappt in die Historie (1871: Gründung des Kleindeutschen Reiches; 1989/90: "wieder kleine Vereinigung“).

Herr Prof. Jochems hat meinen Sprachfall/meine Sprachfalle in Bezug auf die hundertprozentige Unterscheidungsfähigkeit zwischen „das und daß“ nicht gelöst. Er bietet zwar als Unterscheidungsmöglichkeit die folgende Ersatzprobe an (paßt „welches“ dann handelt es sich um das Reflexivpronomen „das“), doch geht er doch an dem Tatbestand vorbei, daß das Wörtchen „das“ ein Dreifach-Scheinhomonym ist.
„Das“ steht nämlich stellvertretend für den Begleiter (Artikel/z.B. das Kind); stellvertretend für ein Fürwort (Pronomen/z.B. das – eine bestimmte oder unbestimmte Sache); und es steht letztlich stellvertretend für einen Rückbezug (Reflexivpronomen/vor welchem ebenso wie vor dem „daß“ ein Komma steht, weil es letztlich zum Bindewort wird, das den Voraussatz abkoppelt).

Es zeigt sich, daß insbesondere an jenen von Prof. Jochems nicht bedachten Stellen (Pronomen und Artikel) die häufigsten „Fehler“ gemacht werden und zwar deshalb, weil hier nicht ein durchgängig grammatisches, sondern unvermittelt ein phonologisches (regional unterschiedliches/süd-norddeutsches) Unterscheidungsprinzip angewandt wird. Und es erweist sich zudem als nachteilig, ein Satzzeichen (das Komma) zum Unterscheidungskriterium hochzustilisieren resp. hoch zu stilisieren, wobei die Frage bleibt:
Lohnt es sich in Unterscheidungsschreibungen zu investieren, oder sollte man die Einzelwortlizenzierung weiter vorantreiben?

Was letztlich mein Engagement für die Sache angeht, so denke ich von unten und ich bleibe unten. Äußerungen in Bezug auf angebliche Selbstdarstellung oder jederzeit möglichen Gesichtsverlust – neudeutsch „Exponierung“ – interessieren mich nicht und sollten auch den hiesigen Kreis der Diskutanten nicht interessieren.



Kommentar von J, verfaßt am 09.09.2005 um 09.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1659

Nun gut, die vollständige Probe aus dem 3. Schuljahr lautet "dieses oder welches", was für "Daß das das darf!" wichtig ist. So etwas kommt aber bekanntlich nur höchst selten vor.


Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 09.09.2005 um 10.42 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1660

Die Probe aufs Exempel

Mit meiner Hartnäckigkeit in der „Daß-Angelegenheit“ trete ich exemplarisch für eine wichtige Bestimmungsmethode der Rechtschreibung ein und zwar in einem Bereich, in dem die üblichen Rechtschreibsinne (visuell und akustisch) versagen. Das trifft im übrigen auch für die GKS und die GZS zu.
Ich bekenne mich dabei ausdrücklich zur „Regelformulierung in einer kindgemäßen Form“ und ich erinnere ein weiteres Mal daran, daß ein didaktisch wirksames Modell der Vermittlung von Rechtschreibfällen erst noch geschaffen werden muß. Das benötigt Zeit, denn das setzt ein gründliches Verstehen, ein nahezu ehrfürchtiges Betrachten und eine verantwortungsvolle, lückenlose und gründliche Analyse des je vorliegenden Sprachfalles voraus.

Wir Lehrer haben bzgl. von Fallbehandlungen einen ziemlichen Tic entwickelt. Wir versuchen die Erkenntnisgewinnung (sie ist so etwas ähnliches wie die Kratzbaum´sche Leiter) in einem kurzen prägnanten Satz zu fassen, der am Ende der Unterrichtsstunde eingerahmt und farbig gestaltet wird.
Und bevor wir Lehrer zu jenen markanten Sätzen vordringen, müssen wir zunächst den Fall studieren und analysieren. Wir betreiben Quellenstudium und halten selbstverständlich auch nach bereits existierenden Merksatzformulierungen Ausschau.
In der Daß-Angelegenheit, in der GZS und in der GKS gibt es das Gesuchte nicht. Alles ist oberflächlich, respektlos, verantwortungslos!

Schauen wir uns z.B. die kindgemäße Wortspielerei an, auf die Professor Jochems abhebt:
„Darf das das? Daß das das darf?“
Mit Verlaub: Auf dieser Spielwiese fehlen wesentliche Spielgeräte!
Das Spielen macht erst richtig Spaß, wenn die Wiese so aussieht.
„Das Kind, das das gemacht hat, weiß nicht, daß man das nicht darf.“
Da kann man die Kinder dazu animieren, jedes „das“ anders zu zischeln, bis sie herausfinden, daß sie sich ja gar nicht im „Zischelpark“ befinden.
Bliebe am Ende die Erkenntnis, daß man auf dieser Spielwiese ausschließlich Schutzkleidung tragen darf, will sagen: man muß sich die Grammatik überstülpen!




Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 09.09.2005 um 10.58 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1661

Wenn man sich an die Rechtschreibwirklichkeit vor der Reform gut erinnert, so hat es eine hier so verbissen diskutierte Problematik der Schreibungen »das« bzw. »daß« überhaupt nicht gegeben. Vielleicht hat man das in den Schulen mit manchen Kindern besonders intensiv üben müssen, aber in der Erwachsenenorthographie kamen bei Lese- und Schreibgewohnten Fehler an dieser Stelle allenfalls durch versehentliches Verschreiben oder Unachtsamkeit vor. Eine tiefsinnige Erörterung, in welchen Fällen man das eine oder das andere schreibt, zeigt nur, daß die meisten Leute, auch Lehrer, durchaus sehr gut wissen, wie das richtig gemacht wird, aber kaum erklären können, weshalb das so ist. Das ist der Idealzustand einer funktionierenden Rechtschreibung. Ich weiß ja auch, daß ich gesund bin, weiß aber nicht weshalb.
Heute sind solche Fehler häufiger, das zeigt u.a. die Zeitungslektüre, und die Gründe sind dieselben wie vor der Reform, nur die Wahrscheinichkeit, daß sich jemand verschreibt, ist größer, weil der Unterschied von »das« und »dass« viel geringer ist als zwischen »das« und »daß«. Das hatten wir doch alles schon herausgefunden.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 09.09.2005 um 13.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1662

In den ersten Volksschuljahren ( kurz nach dem Kriege) bekamen wir einen Lehrer aus dem Sudetenland, der uns anhielt, Artikel und Pronomen "das" unbedingt "daas" auszusprechen, im Gegensatz zur Konjunktion. Ich weiß nicht, ob das meinen Klassenkameraden geholfen hat. Mir jedenfalls kam das damals schon recht künstlich und "unwirklich" vor. - Die richtige Schreibweise gewinnt man als Erwachsener gerade in diesem Fall mühelos aus dem Satzganzen, das man sich innerlich vorspricht. Da braucht es keine Grammatikproben, sondern nur einen ausreichend großen Vorrat verinnerlichter Satzmuster.


Kommentar von Reinhard Markner, verfaßt am 09.09.2005 um 14.15 Uhr  
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Meines Wissens haben die Deutschböhmen wirklich so gesprochen. Leider macht der Digitale Wenker-Atlas an der österreichischen Grenze halt.


Kommentar von WL, verfaßt am 09.09.2005 um 15.06 Uhr  
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Die Schwaben sprechen heute noch so.


Kommentar von nos, verfaßt am 09.09.2005 um 17.45 Uhr   Mail an
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Chaos in der Schulstube

Ich glaube, das einmal geträumt zu haben, daß in meinem Klassenzimmer 15 verschiedene Pärchen saßen mit je unterschiedlicher Nationalität. Da lümmelten Bayern, die immer „dös“ sagten; tummelten sich Hessen, die immer „dess“ skandierten, hockten Franken, die „dos“ ganz anders sahen; Norddeutsche, die „datt“ noch anders sahen, und neben einigen Zugereisten, die alles irgendwie gut fanden, gab es auch eine sog. große „Daas-Koalition“ zwischen Böhmen und Schwaben.

„Freunde“, habe ich zu denen gesagt: „Babbeln ist etwas anderes als Schreiben, und das Rechtschreiben soll uns irgendwie zusammenführen, so daß (so datt, dess, damit) jeder jeden auf Anhieb versteht, und deshalb suchen wir heute einen Einheitscode."

Irgendwie im Laufe des Unterrichts sind wir dann auf das sog. Hochdeutsch und auf die Grammatik gekommen. Mei, was haben sich dabei die Bayern und Franken schwergetan, aber sie haben es gerafft.

Über zwei Grammatikverpfuschte muß ich auch noch reden, die kamen meines Wissens aus den neuen Bundesländern und waren richtig aufsässig, was ich dann bei der Hausaufgabenkontrolle gemerkt hatte. (Hausaufgaben dienen im übrigen dazu, entsprechende Satzmuster anzuhäufen, um die später wegwerfbare Regel bzw. den methodischen Vorschlag abzusichern).

Die zweie haben konsequent statt der Konjunktion „daß“ das Bindewort „damit“ verwendet. Auszugsweise einige Sätze: „Ich gehe in die Schule, damit ich etwas lerne. Ich will, damit du heute abend zu mir kommst. Du schaffst es, damit ich wütend werde ...“

Vom Chaos in der Schulstube habe ich tatsächlich nur mit offenen Augen phantasiert, aber, und das formuliere ich im Hinblick auf den Leitkommentar dieser Diskussion von Herrn Hoog: "Die Katastrophe wird um so größer, je mehr man sich von der verbindenden (ich meine hier keineswegs die verbindliche!) Norm entfernt – und dabei jenen Marktschreiern das Wort überläßt, die letztlich keine Ahnung von Normenstrukturen haben."


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 09.09.2005 um 21.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1667

nos erinnert an den Ausgangstext unserer Diskussion und schlägt ein Schlußwort vor: "Die Katastrophe wird um so größer, je mehr man sich von der verbindenden (ich meine hier keineswegs die verbindliche!) Norm entfernt – und dabei jenen Marktschreiern das Wort überläßt, die letztlich keine Ahnung von Normenstrukturen haben."

"Katastrophe" steht in der Überschrift, und eine Lehrerin sieht so auch die gegenwärtige Rechtschreibsituation in der Schule. Die Lehrer unter den Mitstreitern sollten entscheiden, ob dies eine angemessene Bezeichnung ist. Wir anderen aber sollten uns fragen, ob es angebracht ist, die Schreibform der Texte, denen wir täglich in den Zeitungen und sonstwo begegnen, als "Chaos" zu bezeichnen.

Der Gegenbegriff in der gegenwärtigen Diskussion ist "Norm", so auch bei nos. Übersehen wir nicht, daß es bewußt gesetzte Normen gibt (z. B. die technischen Normen in der Industrie) und im gesellschaftlichen Konsens entstandene (z. B. moralische Normen). Sprachliche Normen sind selbstverständlich von letzterer Art, was sogar auf die Schreibnormen zutrifft, wenn sie sich wirklich spontan herausgebildet haben. Wir wehren uns zu Recht gegen den Versuch der staatlichen Stellen, am linguistischen Reißbrett entworfene Veränderungen unserer traditionellen Rechtschreibung als "amtliche" Norm für verbindlich zu erklären. Vergessen wir darüber aber nicht, daß nach 1901 der gewachsenen Norm unserer Rechtschreibung unter der Ägide des "amtlichen" Rechtschreibwörterbuchs künstliche Regelungen übergestülpt wurden, die alle Eigenschaften von technischen Normen haben. Einzelne Beispiele habe ich in den letzten Tagen angeführt, ganze Listen ließen sich so zusammenstellen. Wer nun feststellt, diese fragwürdige Norm sei doch in der Vergangenheit nicht ernsthaft in Frage gestellt worden, habe sich also des stillschweigenden Konsenses der Schreibgemeinschaft versichern können, räumt der noch künstlicheren Norm von 1996 eine Chance ein: Bis zu neun Schülerjahrgänge praktizieren sie bereits, und fast jedes neuerscheinende Druckerzeugnis bestätigt ihnen, daß sie es mit einer neuen Norm zu tun haben. Sollte da nicht längst ein Konsens entstanden sein, der für "natürliche" Normen charakteristisch ist?

Zwei Schreibnormen in einer Sprache sind gewiß ein Dilemma, obwohl der Umfang der Abweichungen weit unterhalb der Schmerzgrenze liegt. Wer mithelfen möchte, daß es irgendwann wieder eine einheitliche Rechtschreibung hierzulande gibt, darf sich nicht auf die Kritik an der Neuregelung beschränken. Es besteht nicht die geringste Aussicht, daß die hinter ihr stehende Allparteienkoalition eines Tages zerbricht. Es kann nur darum gehen, aus der Neuregelung solche Züge zu entfernen, die unsere Rechtschreibung in eine frühere Entwicklungsstufe zurückwerfen oder aber sprachlogisch inakzeptabel sind. Zwei führende deutsche Rechtschreibforscher sind inzwischen Mitglieder des neuen Rats für deutsche Rechtschreibung. Nur mit ihrem Zutun und ihrer Zustimmung wird es bei der "amtlichen" Rechtschreibnormung weitergehen. Beider Anliegen ist die Wiederherstellung der "üblichen" deutschen Rechtschreibung. Wer darin die Dudennorm von vor 1996 sieht, irrt sich. Noch besser wäre es, der Staat gäbe die Vorstellung einer "amtlichen" Norm auf und überließe die Rechtschreibung der Schreibgemeinschaft. Das wäre wie der Zustand in den angelsächsischen Ländern und selbst in Frankreich. Sprachliche Normen benötigen nicht den Staat, aber auch nicht die Vormundschaft einer privilegierten Wörterbuchredaktion.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 10.09.2005 um 05.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1668

Walter Lachenmann: "[Nur] die Wahrscheinlichkeit, daß sich jemand verschreibt, ist größer, weil der Unterschied von »das« und »dass« viel geringer ist als zwischen »das« und »daß«. Das hatten wir doch alles schon herausgefunden.

Man hat zum Beispiel gute Chancen mit der Wette, daß dieser Fehler im nächsten SPIEGEL auftaucht (während er früher in so einer Publikation kaum je vorkam). Im aktuellen Heft zu lesen:

Seite 41: Es ist ein Menschenbild, dass in vielen Teilen der Welt längst gilt, in Amerika, in Asien, neuerdings auch in Osteuropa.

Seite 48: Es ist das letzte Wort, dass einem zu Angela Merkels Auftritten einfallen kann.

Wenn es den Korrektor oder Schlußredakteur nicht gäbe, könnte ich wahrscheinlich 30 bis 50 Beispiele pro Heft auflisten.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.09.2005 um 05.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1669

"Chaos" ist sicher übertrieben, wird allerdings auch von Reformbetreibern benutzt, wenn sie es so recht apokalyptisch haben wollen.
Übertrieben ist aber auch die Aussage, neun Schülerjahrgänge praktizierten die Neuregelung. Außer ein bißchen ss ist da nicht viel los. Und ein großer Teil der Zeitungen und Zeitschriften bescheinigt den Schülern, daß sie auf dem falschen Dampfer sind. In diesem Bereich kann sich noch mehr ereignen, und dann wird sich zeigen, ob der Rückbau im Rat der einzige mögliche Weg ist. Nicht zu vergessen die erfreulichen Vorgänge in der Schweiz.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 10.09.2005 um 11.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1670

Noch eine Anmerkung zu "Norm": Wie eine Rechtschreibnorm aussieht, läßt sich auf zwei Weisen darstellen: als Wörterverzeichnis oder als Regelwerk. Letzteres gibt es für das Englische nicht; der Sprachbenutzer findet jedoch die "normgerechten" Schreibungen im Concise Oxford Dictionary of Current English (und natürlich in den stärker didaktisch orientierten Wörterbüchern anderer Verlage). In der angelsächsischen Welt ist der Terminus "normgerechte Schreibung" allerdings völlig unbekannt, aufgeführt werden die üblichen Schreibweisen mit einer langen Schreibgeschichte. Unsere "Neuregelung" von 1996 bietet dagegen ein außerordentlich detailliertes Regelwerk mit zahlreichen Beispiellisten, in denen die betreffende Regel abschließend oder beispielhaft belegt wird - und dazu ein 12.000 Einträge umfassendes Wörterverzeichnis. Ob auch aus ihm Schreibungen ableitbar sind, bleibt umstritten. Vor 1996 besaß niemand mehr das "Regelbuch" von 1901, an seine Stelle war der Duden-Leitfaden getreten. In ihm ging es zwar unpedantischer zu als in der Neuregelung, und vor allem fehlte die bewußte Abweichung vom Usus, angeblich um "Grundregeln" zu stärken. Da es aber hier wie dort um die "amtliche" Norm ging/geht, war die Nähe zu einer staatlichen Verwaltungsvorschrift immer unübersehbar. Deren Verfasser müssen eine ernüchternde Erfahrung gemacht haben: In einigen Bereichen oberhalb der Einzelwortschreibungen ist die deutsche Rechtschreibung so quirlig, daß sie sich der eindeutigen Normierung entzieht. Im Kommentar zur GZS von Herberg/Baudusch (Leipzig, 1989) lesen wir:

Zweifel über die normgerechte Schreibung entstehen vor allem, dadurch, daß die Regelung in manchen Fällen auf diesem relativ sicher zu handhabenden syntaktischen Kriterium* (mit dem das Betonungskriterium korrespondiert) beruht, in anderen Fällen aber dem semantischen Kriterium mit Getrenntschreibung bei konkreter und Zusammenschreibung bei übertragener Bedeutung der oberste Rang eingeräumt wird. So kommt es zu Konflikten. *[...der adjektivische Bestandteil semantisch nicht auf das Verb, sondern auf das Substantiv (Objekt) bezogen]

Konflikte in der Norm, die nur mit Hilfe des amtlichen Wörterbuchs zu lösen sind! Wird hier nicht der Gedanke der verbindenden, verbindlichen, gar staatlich durchzusetzenden Norm ad absurdum geführt? Der Revisionsvorschlag des Rats für deutsche Rechtschreibung ist praxisnäher als alles Vorausgegangene und macht vor allem dem Zweifelnden ein besseres Gewissen. Eine rigide Norm, die zu Spitzenprodukten des Schreibhandwerks führt, bietet er aber auch nicht. Am ehrlichsten dokumentiert Professor Icklers Wörterbuch in dieser Hinsicht die deutsche Schreibwirklichkeit: mit Bindebögen, die Fakultativität ausdrücken. Gewiß ist dies vor allem ein akademisches Problem aus der obersten Etage des Hochhauses "Deutsche Rechtschreibung". Immerhin ist hier zu lernen, bis zu welchem Punkt der Anspruch "normgerecht" sinnvoll ist, und ab wo er absurd wird. Wer so etwas sagt, gerät leicht in den Ruf, keine Ahnung von Normstrukturen zu haben. Sollte hier aber nicht eher Realismus als Gesinnungstreue gefragt sein?


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 10.09.2005 um 13.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1671

Normen, im Sinne von verbindlichen Vorschriften, sind kein Selbstzweck, sondern nur im Hinblick auf mögliche Adressaten sinnvoll und diskutabel. Die Straßenverkehrsordnung z. B. geht den einsamen Wanderer im Gebirge nichts an. Lassen wir das Problem der Genese und Gültigkeit von Rechtschreibnormen einmal beiseite, so ist zu fragen: Wer braucht Rechtschreibnormen? Damit untrennbar verbunden: Welche Folgen hat ein Nichtbeherrschen der Norm? Da gibt es doch je nach Adressatenkreis sehr unterschiedliche Antworten: Schüler, Anleitungs- und Gesetzestextverfasser, Schriftsteller, schreibende Wissenschaftler... Ich überlasse es einmal den geschätzten Diskutanten dieses Kreises, sich darüber Gedanken zu machen. Daran anschließend kommen wir natürlich wieder zu der Frage, woher man die Norm bezieht: Regelwerk, Wörterbuch, assoziativ-intuitiv usw.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 11.09.2005 um 11.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1675

"Abgestufte Obligatorik" hat längst den deutschen Schul- und Behördenalltag erreicht. Was für die Betroffenen seit dem 1. August 2005 aus dem Wust der Neuschreibungen wirklich verbindlich geworden ist, kann man aus Frau Gütherts Liste der veränderten Schreibungen entnehmen (www.rechtschreibkommission.de - wirklich dort, nicht unter www.rechtschreibrat.de). Diese Zusammenstellung läßt sich als sprachgeschichtliches Dokument lesen. Vertauscht man nämlich die Spaltenüberschriften "alte Schreibung" und "neue Schreibung", dann könnte die Liste aus dem k.u.k. Kultusministerium zu Wien aus dem Jahre 1902 stammen - nach dem Beitritt Österreichs zu den Beschlüssen der 2. (Berliner) Orthographischen Konferenz. Damals wurde der Einheitlichkeit "im deutschen Sprachraum" willen die Heysesche s-Schreibung nach 25 Jahren wieder aufgegeben und die verstärkte Kleinschreibung eingeführt. Vielleicht wiederholt sich dieser Vorgang ja irgendwann wieder - in naher oder in ferner Zukunft. Sprachhistoriker werden dann sagen, Rechtschreibung sei eben ein zyklischer Prozeß.

Ansonsten führt uns Frau Güthert ein Sammelsurium vor, das allenfalls als Spaß für die letzte Deutschstunde vor den großen Ferien geeignet ist, keinesfalls jedoch als Merkblatt für Lehrer oder gar für Schüler. Sage man aber nicht, für erfahrene "Altschreiber" sei hier nichts zu lernen. Außer Wörtern, von denen man noch nie gehört hat, oder die man nie benutzen würde, schreibt Frau Güthert auch den Orthographiesenioren einiges hinter die Ohren. Was zu dem eigentlichen Problem führt: Wir haben eine Universalorthographie, in der alles aufgelistet wird, was irgendwo in einem versteckten Winkel unseres Hauses der Sprache ein vergessenes Mauerblümchendasein führt. Die Kompetenz der Schreiber richtet sich jedoch auf einen Wortschatzausschnitt, der für sie relevant ist. In einem Rechtschreibwörterbuch für Menschen wie du und ich würden so manche alte Spitzfindigkeit und neue Ungereimtheit fehlen. Ich habe in meinem langen Leben noch nie Business mit "ß" geschrieben, und "belemmert" und "schneuzen" überhaupt nicht. Amtliche Rechtschreibregelungen gehen natürlich ebenfalls von der Vorstellung einer Universalorthographie aus und sorgen so dafür, daß sich die Auseinandersetzung darüber im Nebulösen verliert, statt dem Gros der Schreiber in ihrer amtlich verordneten Rechtschreibnot zu helfen.


Kommentar von stefan weidle, verfaßt am 11.09.2005 um 12.51 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1676

Während sich die Kultusminister so sehr um die Leseerleichterungen für unsere gebeutelten Jugendlichen sorgen, scheint anderen, die sich um die Versorgung derselben Jugendlichen mit Lesestoff verdient machen, dieses Thema weniger wichtig zu sein: Ich habe heute mit großer Freude festgestellt, daß der deutsche "Rolling Stone" durchgehend in bewährter Orthographie erscheint. Wer's nicht glaubt, schaue selbst:
http://www.rollingstone.de/


Kommentar von Deutschland kehrt zurück, verfaßt am 11.09.2005 um 15.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1678

Beim "Rolling Stone" kann ich lediglich Reformschreibung finden. Z.B.: "Lange vermisst, nun wieder da: Das beliebte Rezensions-Archiv des ROLLING STONE. Zwar sind noch nicht alle Kritiken aus mehr als einhundert Heften in digitaler Form erfasst - doch rund 8.000 Besprechungen finden sich bereits jetzt in dem ständig aktualisierten Archiv."



Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 12.09.2005 um 03.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1683

Zweifel

Professor Jochems: Bis zu neun Schülerjahrgänge praktizieren [die Neuregelung] bereits, und fast jedes neuerscheinende Druckerzeugnis bestätigt ihnen, daß sie es mit einer neuen Norm zu tun haben. Sollte da nicht längst ein Konsens entstanden sein, der für "natürliche" Normen charakteristisch ist?
Mein Kommentar: Das kann man so sehen. Man kann sich aber auch zum Beispiel an den Meinungsumfragen orientieren, die der Rechtschreibreform mit überwältigender Mehrheit das Urteil sprechen, daß die Bevölkerung sie für verfehlt hält, für mißglückt, abzulehnen oder mindestens für reparaturbedürftig, uninteressant u. ä. Die Überarbeitung fast aller Bereiche der neuen "Norm" hat gerade erst angefangen. Das sind nicht gerade Markenzeichen einer natürlichen Norm mit selbstverständlicher, etablierter Autorität. Von einem Konsens, der längst entstanden ist, kann überhaupt nicht die Rede sein. Ein mit staatlicher Autoriät betriebenes und zunächst erfolgreiches Gebilde ist langfristig dem Verfall preisgegeben, wenn sich die Menschen damit nicht identifizieren oder wenn die tatsächlichen, natürlichen Kräfteverhältnisse damit nicht mehr zusammenpassen. Den Ostblock gibt es nicht mehr, sogar das Römische Reich, Inbegriff der Macht, der Stabilität, der Weltbeherrschung für alle Zeiten, ist irgendwann pulverisiert worden.

Professor Jochems: Zwei Schreibnormen in einer Sprache sind gewiß ein Dilemma, obwohl der Umfang der Abweichungen weit unterhalb der Schmerzgrenze liegt.
Mein Kommentar: Es gibt Millionen, für die der Zustand mehr oder weniger dauerhaft ärgerlich oder zumindest lästig ist, daß sich die Gemeinschaft nicht mehr einig ist, wie man tausend geläufige Wörter schreibt, darunter: daß, Schluß, Ausschuß, Straße, grüßen (solche Fälle sollte man auch hinzurechnen), aufwendig, Aufwendungen (sollte man auch hinzurechnen), Delphin, heute abend, sogenannter usw. usw. Ich möchte dieses verbreitete Empfinden eines unbefriedigenden Zustandes nicht mit dem Urteil "Das ist weit unterhalb der Schmerzgrenze" bagatellisieren. Auch wenn etwas für Millionen "nur" lästig ist, ist es abzulehnen und möglichst zu beseitigen. Überflüssige Ärgernisse verteidigt man normalerweise nicht, indem man auf ihre relative Bedeutungslosigkeit verweist. Sonst könnte man so ziemlich alles Mißratene und Störende auf dieser Welt, was nicht gerade akute Qual im Organismus hervorruft, als uninteressant einstufen. Ich sehe jedenfalls nicht, worin der Vorzug bestehen soll, wenn jemand die vermeintlich überlegene Stellungnahme abgibt: "Nun habt euch mal nicht so, es gibt doch wirklich Schlimmeres. Wirklich schmerzhaft ist das nicht."

Professor Jochems: Wer mithelfen möchte, daß es irgendwann wieder eine einheitliche Rechtschreibung hierzulande gibt, darf sich nicht auf die Kritik an der Neuregelung beschränken.
Mein Kommentar: Doch, das sollte man sogar, der Übersichtlichkeit und Einfachheit halber. Mit einer Voraussetzung: Wir verstehen unter Rechtschreibung vor der Reform nicht den Murks, der vielfach im Duden stand, sondern im Prinzip den Konsens, der unter den als kompetent einzustufenden Schreibern vor der Reform tatsächlich bestand. Die allgemein üblichen Schreibungen. Wer uns ständig mahnt, wir dürften die Kritik an der alten Duden-Norm (bis in jede Einzelheit) nicht vergessen, unterstellt damit, wir würden unter Rechtschreibung auch die willkürlichen Erfindungen und Verirrungen des Duden wiederhaben wollen. Das ist überhaupt nicht der Fall, es müßte doch bekannt und offensichtlich geworden sein. Mein Eindruck ist, daß Professor Jochems immer wieder eine längst offene Tür einrennen möchte, jedenfalls soweit wir, die Teilnehmer dieses Forum, selbst die Adressaten seiner Mahnungen sein sollen.

Professor Jochems: Es besteht nicht die geringste Aussicht, daß die hinter [der Reform] stehende Allparteienkoalition eines Tages zerbricht. Es kann nur darum gehen, aus der Neuregelung solche Züge zu entfernen, die unsere Rechtschreibung in eine frühere Entwicklungsstufe zurückwerfen oder aber sprachlogisch inakzeptabel sind.
Mein Kommentar: Auch da sind m. E. Zweifel möglich. Politiker sind nicht besonders scharf darauf, ständig etwas zu vertreten, was die Bürger ablehnen und wovon sie selbst nichts halten. Was wäre, wenn der SPIEGEL rückumstellt, vielleicht noch die Süddeutsche mit dabei? Es war schließlich einmal schon fast soweit - siehe die Presseerklärungen, die ebendies ankündigte. Für die Reparatur der Rechtschreibreform unter der Maßgabe, daß diese grundsätzlich zu gelten habe, gibt es ja schon den von den Kultusministern eingesetzten Rat. Es ist nicht nötig, daß wir diesem höchst zweifelhaften, von wirtschaftlichen und politischen Interessen korrumpierten, fachlich inkompetenten Gremium auch noch bescheinigen, es gehe auf dem einzig möglichen Weg. Ich bin absolut kein Schröder-Fan, aber in einem kann man sich doch ein Beispiel am Bundeskanzler nehmen: an seiner Mahnung, man dürfe sich nicht durch aktuell ungünstige Aussichten in die Resignation drängen lassen. Ansonsten haben wir von Rot-Grün noch viel Anschauungsmaterial bekommen, wie stabil großartig angekündigte und durchgesetzte Reformen sind, wenn sie es einmal mit der Wirklichkeit zu tun bekommen.


Kommentar von H. J., verfaßt am 12.09.2005 um 10.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1687

Gegenzweifel

1. Ermittelt wird in den Meinungsumfragen zur Neuregelung, wieviel Prozent der Befragten die "neue" oder die "alte" Rechtschreibung praktizieren. Selbst Leser umgestellter Zeitungen können sich aus ein paar ungewohnten Schreibungen keinen Reim darauf machen, wie nach dem Willen der Kultusminister jetzt zu schreiben sei. Wer weiterhin schreibt wie bisher, handelt meist aus praktischen Gründen so, wohl nur selten aus Überzeugung. Von aktivem Widerstand unter Schülern hat man bisher nichts gehört, desgleichen gibt es keine unmißverständlich ablehnende Stellungnahme der Germanisten- und Deutschlehrerverbände.

2. Äußerungen, die mir zu Ohren gekommen sind, drücken eher Erleichterung darüber aus, daß man jetzt so schreiben könne, wie man will. Mein Urteil "weit unterhalb der Schmerzgrenze" ist für einen kleinen Kreis Interessierter bestimmt, von dem ich meine, daß er von einer nüchternen Einschätzung der gegenwärtigen Schreibsituation ausgehen sollte.

3. Die allgemein üblichen Schreibungen waren vor 1996 ebenso schwierig zu ermitteln wie heute. Die Schreibform gedruckter Texte gibt nie ausschließlich die spontane orthographische Gestaltung durch den Schreibenden wieder. Lektorate und Korrektorate, heute vorwiegend Computerprogramme heben alle Abweichungen von der jeweils gültigen Norm auf. Untersuchungen an einer größeren Zahl handschriftlicher Texte sind meines Wissens nie vorgenommen worden, mit Ausnahme der sprachdidaktischen Fehleranalysen von Schülerarbeiten. Was früher Konsens war und heute Konsens ist, läßt sich nur vermuten. Darum sollte man vorsichtig mit Forderungen sein, die sich keineswegs breiter Zustimmung sicher sein können.

4. Herr Augst sagte kürzlich dem SPIEGEL "Wenn 'Bild' nicht mitmacht, dann haben wir keine Chance." Defätismus eines Gescheiterten? Für die Öffentlichkeit wäre es ein unübersehbares Signal gewesen, wenn die gesamte deutsche Presse sich 1996 bis 1999 dem Ansinnen der Reformbetreiber widersetzt hätte. Aber heute? Warten wir lieber ab, was Herrn Zehetmairs Rat erreicht.



Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.09.2005 um 11.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1688

Meiner Ansicht nach sind "handschriftliche Texte" keine relevante Quelle für die Ermittlung der allgemein üblichen Schreibungen. Auch wenn ich es nicht jedesmal ausdrücklich sage, meine ich doch stets die Textgattung, zu deren Normen wir uns bekennen, wenn wir uns in Sachtexten öffentlich äußern. Das ist so ähnlich wie mit Tischsitten und anderen gesellschaftlich anerkannten Gebräuchen. Privates Verhalten interessiert da nicht.

Die Zeitungen sind am besten geeignet. Dazu auch andere Sach- und Fachliteratur, Belletristik erst in zweiter Linie. Ich glaube, daß die meisten Menschen dieser Vorentscheidung zustimmen würden.
Deshalb kann ich es auch nicht besonders schwierig finden, den allgemein üblichen Schreibbrauch zu ermitteln. So hat z. B. die Rechtschreibreform aus den falschen Gründen zufällig die richtige Entscheidung getroffen, daß "um ein Vielfaches" groß zu schreiben sei. Das ist tatsächlich die überwiegende, vom alten Duden aber nicht anerkannte Form. Warum sollte es so schwer sein, das zu verifizieren oder falsifizieren? Gibt es denn wirklich Zweifelsfälle, wo wir uns nicht einigen könnten, was üblich ist? Wenn Varianten einigermaßen gleichmäßig verteilt sind, schreiben wir sie eben ins Wörterbuch.

Je mehr Texte durch Programme laufen, desto mehr wird die Entwicklung behindert und der Schreibende unter Zwang gesetzt, nicht unbedingt das zu schreiben, was er wirklich will. Das ist wirklich ein Problem.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 12.09.2005 um 11.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1689

"Ein mit staatlicher Autoriät betriebenes und zunächst erfolgreiches Gebilde ist langfristig dem Verfall preisgegeben, wenn sich die Menschen damit nicht identifizieren oder wenn die tatsächlichen, natürlichen Kräfteverhältnisse damit nicht mehr zusammenpassen."

Das ist auch ganz meine Meinung. Etwas müssen wir heute zusätzlich berücksichtigen: Die Hauptursache dafür, daß die Reformschreibung so weite gesellschaftliche Kreise erfaßt hat, scheint mir in den automatischen Korrekturprogrammen der EDV zu liegen. Bei Kauf sind diese auf NR eingestellt, und die meisten Nutzer stellen nicht um. Wir haben zum erstenmal in der Geschichte die Situation, daß die Menschen nicht mehr selbst rechtschreiben, sondern "rechtgeschrieben" werden. Sie schreiben also anders, als sie denken, fühlen, wollen. Diese unterschwellig empfundene Diskrepanz muß auf lange Sicht zu Entzweiung mit dem Gegenstand, also mit der Schrift, führen. Sprich: schwindende Verläßlichkeit, schwindende Ernsthaftigkeit und damit schwindende Lust am Schreiben und Lesen.

Ich bin sicher: Ohne Korrekturprogramme schrieben selbst die Zeitungen neuschrieblich ins Leere. (Das ging zum Beispiel vor 30 Jahren den Kleinschreibanhängern so. Die Leser der GEW-Postillen fanden die Kleinschreibung nicht lesefreundlich, geschweige denn übernahmen sie zahlreich und in Scharen die Kleinschreibung.) Auch unsere Reformschreib-Zeitungen würden nach einigen erfolglosen Jahren von selbst wieder zur klassischen Rechtschreibung zurückkehren - die "Maschinen" aber stehen zwischen Wunschbild und Wirklichkeit. Sie zwingen den Schreiber in eine metallene Rüstung, erzwingen Gleichmarsch und gaukeln der Gesellschaft Akzeptanz vor, wo in Wahrheit keine ist. Daß wir zur Bewertung dieses einmaligen Vorgangs nicht auf geschichtliche Erfahrungswerte zurückgreifen können, erschwert eine Prognose. Die Programmierer der EDV hätten die Möglichkeit, das Ruder herumzulegen. Dann hätte die evolutionäre, demokratische Sprachentwicklung wieder eine Chance.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 12.09.2005 um 11.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1690

Thesen

1. Die deutsche Orthographie war vor der Reform kein Gegenstand breiter, lebhafter, kontrovers geführter öffentlicher Diskussion. Sie funktionierte - als System - im großen und ganzen zufriedenstellend, d.h. sie war leistungsfähig genug, alles wiederzugeben, was ihr Benutzer auszudrücken beabsichtigte.

2. Die Beherrschung des Systems (Werkzeugs) Rechtschreibung war unterschiedlich gut ausgeprägt, wie es auch bei ähnlich komplexen Techniken der Fall ist.

3. Mangelhafte Rechtschreibfähigkeiten konnten Nachteile für den Schreiber bringen - von schlechten Schulnoten bis zur erfolglosen Stellenbewerbung. Denn Rechtschreibkompetenz wurde bewertet, vielleicht überbewertet. Es war aber grundsätzlich möglich, seine Kompetenz zu steigern. Grenzen setzte hier eine individuell gegebene Sprachbegabung.

4. Rechtschreibsicherheit wurde vornehmlich über das Lesen des Richtigen erworben. Das Speichervermögen für Wortmuster (Satzmuster) darf als praktisch unbegrenzt bezeichnet werden. Auch hier gibt es aber Begabungsunterschiede.

5. Die Reform trat mit zwei Vorsätzen an: a) Individuelle Unterschiede unwirksam zu machen, und, daraus folgend, b) Orthographie nach Art einer Technischen Anleitung zu lehren.

6. Ein klares Gesamtkonzept fehlte. Dies wohl vor allem deshalb, weil möglicherweise überhaupt niemand das Gesamtsystem Rechtschreibung vollständig übersehen und beschreiben kann.

7. Es wurden mehr oder weniger willkürlich punktuelle Änderungen vorgenommen. Für sich genommen marginal ("behutsam"), haben sie doch das höchst diffizile, sich ständig neu austarierende System Orthographie stark beschädigt. In medizinischer Terminologie kann man von einer sich ausbreitenden Infektion sprechen.

8. Die deutsche Rechtschreibung hat essentielle Charakteristika verloren: Einheitlichkeit (als Ideal), Verbindlichkeit (als Wirkung des Vorbildlichen), Entwicklungsfähigkeit (als quasi-evolutionäres Kulturphänomen).


Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 12.09.2005 um 11.54 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1691

Sehr gut, aber fügen Sie beim Punkt 4 oder 8 unbedingt hinzu, daß das früher ganz normale und hocheffiziente Lernen und Erwerben von Sicherheit beim Lesen (kein zusätzlicher Zeitaufwand!) abhanden gekommen ist. Schon allein deshalb wird sich eine neue Einheitlichkeit nicht einstellen, sondern eine Verbreiterung der Grau- und Unsicherheitszone ist nun vorprogrammiert. Man könnte in diesem Faktum den schlimmsten Schaden der ganzen Affäre erblicken. Wie aber kann man die Befürworter dazu bewegen, zu diesen Thesen Stellung zu beziehen?



Kommentar von Martell, verfaßt am 12.09.2005 um 12.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1692

Ich bezweifle, daß Maschinen und zugehörige Programme diesen Einfluß nehmen, den Herr Ickler und Frau Pfeiffer-Stolz befürchten. Vielleicht teilt ja kratzbaum meine Meinung, weshalb er auch seine entsprechende 9. These nicht formuliert hat.

Seine 6. These der Ursache des fehlenden Gesamtkonzeptes gilt aber auch für die Inhalte der Korrekturprogramme: Dort wo Rechschreibung in Algorithmen formuliert werden kann, ist deren Einsatz sinnvoll (v.a. augenentlastend). Die "Randbereiche" und das nicht Gemeinte, das Dieter E. Zimmer schreiben muß, werden hingegen durch Maschinenbefehle gar nicht berührt und niemals erreicht werden.

Im übrigen sind die beklagten Maschinen auch nichts anderes als Bestandteile der angeblich unterdrückten Evolution. Im vorliegenden Fall ist es daher ebenfalls v.a. eine Frage der Macht, wie denn diese Maschinen eingesetzt/programmiert werden.



Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 12.09.2005 um 13.19 Uhr   Mail an
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Niemand kann sagen, welchen Einfluß die "Maschinen" auf die langfristige Entwicklung haben werden. Sicher ist: Sie lassen kein GEFÜHL für die Sache selbst entstehen. Bei uns Erwachsenen funktiert ja noch das intakte Sprachgefühl. Aber können die Kinder so etwas wie ein verläßliches Sprachgefühl erwerben, wenn sie ständig mit unterschiedlichen Wortbildern und wechselnden grammatischen Strukturen konfrontiert werden? Was passiert, wenn der Sprachgemeinschaft die Gefühlslogik für das Schreiben abhanden kommt, was im Falle der fortgesetzten Reformatitis durchaus befürchtet werden muß?

Die Gefühlslogik
Die Gefühlslogik ist dafür verantwortlich, wie wir schreiben. Formale Regeln haben nur dann eine Chance auf dauerhafte Anwendung, wenn sie mit dem vom Sprachgefühl gelenkten Gebrauch übereinstimmen. (Wir werden auch im übrigen Handeln mehr von Gefühlen als vom Verstand gelenkt. Letzterer liefert nachträglich die Erklärungen für unser Handeln. Müßten wir vor allem Handeln zuerst unseren Verstand befragen, so wären wir blockiert.)
Weil die neuen Rechtschreibregeln unserem Sprachgefühl widersprechen, werden sie allgemein abgelehnt. Die rein mechanistische Festlegung einer Schreibung ist nicht praxistauglich. Sie wird vorläufig nur durch die maschinelle Korrektur gewährleistet. Wie es weitergeht, wissen wir noch nicht. Richtiges Schreiben klappt nur im Einklang mit der Gefühlslogik.

Ein Beispiel: Selbst einen geübten Schreiber reizt es gelegentlich, Wörter nach Diphtong mit ss zu schreiben: reisst, heisst, aussen ... die Zwielaute klingen beim Sprechen kurz. Wer die rationalistische Logik der ss-Schreibung befolgen will (nach kurzem Vokal ss), muß sich erst über seinen Verstand davon überzeugen, ob der kurzgesprochene Laut ein Vokal oder ein Diphtong ist. Dazu benötigt er einen kurzen Moment des Nachdenkens. Die Gefühlslogik entscheidet schneller, und zwar zugunsten des ss. Wer nicht nachdenkt oder formallogisch nicht informiert ist, wird flugs das ss zu Papier bringen. Die formale Logik, die den Verstand anspricht, ist der Gefühlslogik in jedem Fall unterlegen. Wider die Gefühlslogik kann keine Regelung dauerhaft bestehen – weder in der Rechtschreibung, noch im übrigen sozialen Zusammenleben.


Kommentar von H. J., verfaßt am 12.09.2005 um 13.34 Uhr  
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Zum Begriff "übliche Rechtschreibung": Bei Wibke Bruhns ("Meines Vaters Land") finde ich in einem Zitat aus einem Privatbrief (20er Jahre) zuguterletzt. Diese Schreibung war vor der Reform falsch, und sie ist es weiterhin, auch in Ickler 2004. Heute steht im Remscheider General-Anzeiger: "Zuguterletzt wollen sie den Rückbau der Remscheider Straße an der Einmündung Kenkhauser Straße auf eine Fahrbahn je Richtung nebst einem Zebrastreifen unter der B 51 n-Brücke diskutiert wissen", und Google lädt mich ein, auf 85.300 Textseiten zuguterletzt zu besuchen. Wahrscheinlich steht diese Schreibform in keinem literarischen Text, denn die Verlagslektoren sind studierte Germanisten, und wie zuguterletzt in Remscheid den Redaktionscomputer ausgetrickst hat, ist mir ein Rätsel. Wer in größeren Nachschlagewerken nachsieht, erhält eine Lektion in Sprachgeschichte: Das Schluß-t sei nur sekundär, denn der Phraseologismus zu guter Letzt gehöre zu mittelhochdeutsch letze "Abschiedsmahl" - heute freilich als zu 'letzt...' gehörig empfunden." (DUV 1989) Duden 2004 kennt das Substantiv noch, doch sei es veraltet - immerhin eins von 125.000 Stichwörtern. Hier geht ganz offensichtlich der spontane Sprachwandel seinen eigenen Weg. Ohne Nachhilfe von Herrn Augst haben inzwischen 85.300 Sprachteilhaber von ihrem Recht Gebrauch gemacht, eine semantisch undurchsichtig gewordene Wortgruppe mit einer neuen Motivation zu versehen und bei der Gelegenheit nach guter alter deutscher Sitte das Ganze zu univerbieren. Aber aufgepaßt: Wenn ein Schüler so etwas tut, kriegt er einen Fehler verpaßt, da hilft es ihm nicht, ob er in Bern oder Solothurn, in Ulm oder in Neu-Ulm wohnt. Norm ist Norm. Höre ich, das sei doch nur ein Einzelfall? Die Rechtschreibung besteht nur aus Einzelfällen, und mit denen möchten sich die Schreiber identifizieren, nicht aber mit einer abstrakten "Norm".


Kommentar von Martell, verfaßt am 12.09.2005 um 16.14 Uhr  
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Sie werden mir möglicherweise zustimmen, daß GEFÜHL für die Sache an der Stelle sogar noch besser durch INTUITION bezeichnet werden kann. Die aber - wie ich sie verstehe – ist ja nichts anderes als integriertes/verarbeitetes Erlebtes/Erlerntes. Die Frage nach der "Bedrohungslage" infolge der beobachteten Irritation kann ich zwar nicht beantworten, aber mein Gefühl sagt mir, daß ihre Auswirkungen eher nicht katastrophal sein werden.

Meine Tochter ist 10 und teilt sich mit einem Mitschüler seit wenigen Wochen die Koproduktion einer Klassenzeitung. Natürlich entsteht diese am PC. Und die Tochter hatte schon vor vielen Monaten gelernt, die Rechtschreibhilfe von MS-Word gewinnbringend für sich zu nutzen. Die Endredaktion obliegt selbstverständlich den Erwachsenen.

Aber Sie werden staunen, wieviel wachsendes Sprachgefühl wir Eltern bei Heranwachsenden beobachten können. Und sind dabei selbst erstaunt über deren Lerntempo und haben keinen Grund, an den Werkzeugen zu zweifeln, derer sich unsere Kinder dabei bedienen. (Sie hat trotzdem eine sehr ästhetische Handschrift.) Auf die neue Getrenntschreibung hin angesprochen, hatte mich ihr um zwei Jahre älterer Bruder vor einiger Zeit einmal angefaucht, ich solle ihn doch mit diesem Sch... gefälligst in Ruhe lassen. Was ich seither tue.

Manchmal wundere ich mich selbst ein wenig über meine oft vollständige Übereinstimmung mit der Haltung von Prof. Jochems in der Sache. Vielleicht ist es ja seine pragmatische Attitüde angloamerikanisch geprägten Denkens, der gegenüber ich mich – wohl unnötigerweise und viel zu lange – bisher immer distanziert verhalten hatte.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 12.09.2005 um 16.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1697

Ein kleiner Hinweis zur Maschinenfrage: Der massenhafte Einsatz von Rechtschreibprogrammen hat zumindest eine Verzerrung der Statistik zur Folge. Als Beispiel (ohne Maschine) verweise ich darauf, daß man aus Schweizer Zeitungen keine Erkenntnisse über die ß-Schreibung mehr herleiten kann. Da Rechtschreibhilfen in der Regel weder die Syntax noch die Semantik der von ihnen verwursteten Sätzen erkennen können, mangelt solcherart behandelten Texten durchweg die Qualität, ihnen mit Prof. Icklers ansonsten eher empfehlenswerten Herangehensweise zu begegnen. Man kann diese Texte nicht mehr uneingeschränkt als repräsentativ für den Sprachgebrauch ansehen.

Ein Beispiel solcher Art scheint mir jener Gesetzestext zu sein, in dem die Fügung "zur Zeit der Antragstellung" beiläufig mittels neuschreiblichem "zurzeit" verwurstet und später in einer erneuten Gesetzänderung wieder in Deutsch konvertiert wurde. Ähnliches erwarte ich alsbald für die Fügung "zu Recht".


Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 12.09.2005 um 17.36 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1698

Auf den Zahn gefühlt

Lieber Herr Prof. Jochems!

In Ihrem Beitrag vom 11.09.05, 11.55 Uhr, schrieben Sie sinngemäß: „Ich habe in meinem ganzen Leben Business nicht mit ß geschrieben.“
Gleiches gilt wohl für Fitness, Wellness, etc.

Mir ist vollkommen klar:
1. Daß Sie über ein ausuferndes Sprachwissen und Mehrsprachigkeit verfügen.
2. Daß Sie in Ihrer Entscheidungsfähigkeit von daher keines Nachschlagewerkes bedürfen.
...
Mir ist aber ebenso klar:
1. Daß Sie schwer normierbar sind, weil Sie in Ihrer individuell erkämpften Souveränität keinerlei Fremdnorm benötigen.
2. Daß Sie sich im Zweifelsfalle von Ihrem Sprachgefühl oder aber Ihrem Sprachwissen leiten lassen.
3. Daß Sie drittens für sprachlich Unbedarfte eintreten und ihnen Freiheiten einräumen möchten.
...

Es ist allerdings im gegenwärtigen Stadium der Erneuerung davon auszugehen, daß dem sprachlich Unbedarften keine Erleichterung widerfährt, sondern daß statt dessen selbst ein souveräner Schreiber Abstriche machen muß an seinen bis dato errungenen Erkenntnissen, selbst wenn jene über alle Zweifel erhaben wären.
Die Frage ist daher berechtigt, warum ein fachlicher Souverän, einer, der über reichliche Erkenntnisse verfügt, sein Wissen darüber nicht verteidigt.

Mit der Aussage: „ich habe noch nie“, bewegen Sie sich im übrigen in den Bereich der Normierungsqualifikation hinein, die Ihnen niemand streitig machen kann.

Meine speziellen Fragen: Wären nach Ihrem Dafürhalten und abschließendem ausdiskutiertem Votum "Busineß, Fitneß, Wellneß" für Sie auch in der eingedeutschten Version darstellbar?
Und was bringen Sie vor gegen den § 37 der Neuregelung, der u.a. Desktoppublishing und Aftershavelotion als Begriffsdarstellungsmöglichkeiten bereithält (im übrigen nach KMK-Auskunft ein völlig unstrittiger Bereich)?


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 12.09.2005 um 18.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1699

An martell: Mir wird aus Ihren Ausführungen betr. Ihre Kinder nicht ganz klar, ob Sie den Eindruck haben, hier entwickle sich aus der Verinnerlichung der neuen Regeln ein verläßliches Sprachgefühl. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, was natürlich durch umfangreiche Untersuchungen belegt werden müßte, so würde ein wichtiges Argument der Gegner dahinfallen. - Ich selbst glaube wegen der Inkonsequenz und Widersprüchlichkeit des Regelwerks nicht daran. Was uns zur Zeit an Durcheinander z.B. in der Presse begegnet, bestärkt mich täglich aufs neue in meiner Skepsis. Ein gültiges Urteil wäre sowieso erst möglich, wenn total reformiert geprägte Schulabgänger als professionelle Schreiber auf dem Prüfstand stünden.


Kommentar von H. J., verfaßt am 12.09.2005 um 19.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1700

Bei uns Erwachsenen funktioniert ja noch das intakte Sprachgefühl. Aber können die Kinder so etwas wie ein verläßliches Sprachgefühl erwerben, wenn sie ständig mit unterschiedlichen Wortbildern und wechselnden grammatischen Strukturen konfrontiert werden? Was passiert, wenn der Sprachgemeinschaft die Gefühlslogik für das Schreiben abhanden kommt...? Karin Pfeiffer-Stolz sagt dankenswerterweise "Schreiben", und nicht "Rechtschreibung". Im Englischen gibt es dafür nur ein Wort, nämlich spelling, was uns gleich wieder an unser deutsches Dilemma erinnert: Auch ohne staatliche Eingriffe sind im Deutschen "Schreibung" und "Rechtschreibung" nicht von vornherein ein und dieselbe Sache. "Intaktes Sprachgefühl" und "Gefühlslogik für das Schreiben" haben übrigens keine kollektive Existenz, sie können nur individueller Sprachbesitz sein und unterscheiden sich daher mehr oder weniger von Sprachteilhaber zu Sprachteilhaber, was Frau Pfeiffer-Stolz mit ihrem Hinweis auf die Erwerbsumstände einräumt.

Für den Fremdsprachendidaktiker überrascht die Andeutung, die Begegnung mit "unterschiedlichen Wortbildern und wechselnden grammatischen Strukturen" könne dem Erwerb sprachlicher Bildung im Wege stehen. Der Fächerkanon unserer Schulen bietet ja nicht nur aus praktischen Gründen neben der Muttersprache bis zu drei Fremdsprachen. Das Erlebnis der sprachlichen Sozialisation in mehrerlei Ausprägung soll es dem jungen Menschen ermöglichen, sich von der naiven Identifikation mit der muttersprachlichen Begriffswelt zu lösen, um vorurteilsfreier und aufgeklärter von den Möglichkeiten sprachlicher Kommunikation Gebrauch zu machen. Hier geht es natürlich um kompliziertere Lernvorgänge als den Erwerb der Rechtschreibung. Gerade deshalb ist die Befürchtung unangebracht, die Begegnung mit zwei leicht voneinander abweichenden Schreibversionen der eigenen Sprache könne die jugendliche Psyche überfordern. Natürlich steht sie unter der Drohung, jede andere als die gerade staatlich autorisierte Schreibvariante sei falsch. Vielleicht ist aber die Erfahrung der deutschen Engstirnigkeit in Sachen Rechtschreibung ebenfalls ein bildsames Erlebnis.



Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 12.09.2005 um 19.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1701

Zitat: "Auf die neue Getrenntschreibung hin angesprochen, hatte mich ihr um zwei Jahre älterer Bruder vor einiger Zeit einmal angefaucht, ich solle ihn doch mit diesem Sch... gefälligst in Ruhe lassen. Was ich seither tue."

Ich kann mir nicht helfen, aber solche Aussagen machen mich nicht nur traurig, sondern beunruhigen mich auch. Die weit verbreitete sittliche Überhöhung des Kindseins (die ich martell nicht unterstelle), die Freude darüber, daß Kinder nun endlich einmal "mehr wissen und können als die Erwachsenen", kann mich persönlich nicht befriedigen. Und ich denke durchaus nicht nur an meine eigenen Gefühle des Gekränktseins, sondern versetze mich auch in das kindliche Empfinden. Der Keil, den progressive Pädagogen und Gesellschaftserneuerer mit Absicht zwischen die Generationen treiben, trägt nicht zum Gedeihen unserer Gesellschaft bei. Und sie hilft auch den Kindern nicht.

Was ich natürlich auch sehe, ist, daß Teile der Reformschreibung - und zwar solche, die in sich nicht widersprüchlich, sondern lediglich "gewöhnungsbedürftig" sind, in das Sprachgefühl der jungen Generation eingehen werden. Dazu könnten Schreibweisen wie "zurzeit" gehören. Nicht abfinden kann ich mich mit Heyse. Man wird sehen, daß die s-Schreibung nach Heyse auf lange Sicht nicht durchgehalten werden kann, weil sie sich auf die Schreibpraxis nur unter großer Fehlerstreuung übertragen läßt. Im Grunde tut das der Lesbarkeit keinen Abbruch, es ist aber dennoch ein Problem, wenn auch mehr ein psychologisches. Denn die Beliebigkeit beim Schreiben wird sich nicht auf die s-Schreibung beschränken. Man sieht das ja heute an der laxen Haltung gegenüber allem Geschriebenen. Aber in Ordnung. Wenn unsere Gesellschaft der Schlamperei im Schreiben Vorschub leisten will, warum nicht. Man muß nur wissen, daß auch hier die Büchse der Pandora geöffnet wurde. Ich habe lange mit Kindern und jungen Menschen zu tun gehabt. Und ich bin selber - nur ein Mensch. Wo keine Grenzen mehr beachtet werden müssen, blüht bald überall das Durcheinander.


Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 12.09.2005 um 19.36 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1702

Fast verschwitzte Antwort

Sehr geehrter Herr Prof. Jochems!

Habe ich den Appell richtig verstanden, daß der Sprachwißbegierige sich von aller muttersprachlichen Sonderheit befreien soll, und die engen Fesseln nationaler Normierung ablegen sollte, weil er sie letztlich gar nicht mehr als solche empfindet?

Dann blieben aber trotzdem noch zwei Fragen:
1. Was geschieht mit denen, die mehrsprachlich unbildbar sind und ihre Zuflucht im heimeligen Raum suchen?
2. Welches hintergründige Motiv hat diese unselige Reform bedingt und verursacht, die ja in vielen Details gerade die nationale Komponente hervorhebt.



Kommentar von H. J., verfaßt am 12.09.2005 um 23.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1704

Lieber Herr Schäbler, von "Normierung" und gar von "nationaler Normierung" redet niemand in der Sprachdidaktik - weder bei uns noch anderswo. Der Ausdruck ist zum Markenzeichen für die Auseinandersetzung um die Rechtschreibreform geworden (auf beiden Seiten übrigens) und weckt ein wenig Zweifel an dem Menschenbild, das hier impliziert wird. Es geht auch nicht um "Sprachwißbegierige", sondern um ganz normale Kinder und Jugendliche, die im schulischen Fremdsprachenunterricht fremden Sprachen und Kulturen begegnen. Die Schule ist der "heimelige Raum", in dem das geschieht. Eine "nationale Komponente" habe ich bisher in der Rechtschreibreform nicht finden können. Die Verhunzung von Wörtern aus fremden Sprachen, die Sie vielleicht meinen, ist eher der Geist von Krähwinkel.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 13.09.2005 um 08.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1705

Nachlieferung

9. Mit der Zulassung immer weiterer Varianten (fast ausnahmslos die herkömmlichen Schreibweisen) desavouieren die Reformer ihre großartige Idee, Orthographie allein regelgeleitet zu vermitteln, selbst .

10. Die traditionelle deutsche Rechtschreibung - ein kostbares Erbe, an dessen Mehrung Unzählige mitgewirkt haben - war nuancenreich (Varainten sind das Gegenteil von Nuancen) und tiefgründig, wie es einem Volk der Dichter und Denker geziemt. Vorbei, verweht...


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.09.2005 um 11.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1706

Die Schreibweise "zuguterletzt" ist nicht falsch, sondern unüblich, darum steht sie nicht in meinem Wörterbuch. Da man immerhin darauf kommen könnte, steht die entsprechende übliche Schreibweise zweimal drin, unter "Letzt" und unter "z" (alphabetisch eingeordnet). Meiner Ansicht nach würde ein Lehrer etwas versäumen, wenn er die Schüler nicht auf die wahren Verhältnisse hinwiese. Was habe ich falsch gemacht, lieber Herr Jochems?


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 13.09.2005 um 11.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1707

Lieber Herr Ickler, Kritik lag mir fern, mir ging es nur um das Problem, wie man eine "übliche" Schreibung ermittelt. Sie halten sich an die Jahrgangs-CDs führender Zeitungen, die heute die mühselige Sammelarbeit ersparen und sich sogar mit einem gewöhnlichen PC lexikalisch erschließen lassen. Auch vor der Einführung der automatischen Rechtschreibkontrolle liefen diese Texte jedoch durch das Redaktionskorrektorat, das auf normgerechte, d. h. die im "amtlichen" Duden verzeichnete Schreibung achtete. Literarische Texte, die heute ebenfalls auf CDs verfügbar sind, schließen Sie deshalb aus, weil die Verlagslektorate natürlich noch sorgfältiger die Rechtschreibung überprüfen. Darin spiegelt sich der paradoxe Charakter der deutschen Orthographie: Wir rühmen ihre spontane Entstehung, obgleich wir wissen, daß die Normierung ihre spontane Weiterentwicklung verhindert. Wer wird seiner orthographischen Spontaneität freien Lauf lassen, wenn er weiß, daß er damit anecken könnte? Dies gilt besonders für die Bereiche der Rechtschreibung, die orthographische Bedeutungspräzisierungen ermöglichen, die also Informationen enthalten, die über den entsprechenden gesprochenen Text hinausgehen. Auch hier gilt: Wenn das Rechtschreibwörterbuch Unterscheidungsschreibungen (häufig kontraintuitiv) vorsieht, geht so etwas, sonst natürlich nicht. Nun gibt es aber nach wie vor in allen Bevölkerungsschichten eine muntere Schreibpraxis, die die genannten Ängste nicht kennt. Hier wäre also abzulesen, wie es mit unserer Schreibung weitergeht - wenn die Texte erreichbar wären. Merkwürdigerweise scheint das Medium Internet die Schreiber ebenfalls zu enthemmen, und dort wäre einiges zu finden. Wie viele Male muß aber zuguterletzt belegt sein, um als üblich zu gelten?


Kommentar von Martell, verfaßt am 13.09.2005 um 13.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1709

Liebe Frau Pfeifer-Stolz,

ich glaube, Sie mißverstehen mich. Während meiner Tochter die Freuden der neuen Getrenntschreibung noch bevorstehen, darf sie mein Sohn nunmehr bereits im 3. Jahr erlernen.

Der aber weiß sehr wohl, oder ahnt es zumindest, daß wir Erwachsenen DEN Sch... nie lernen mußten. Vielleicht spüren die Kinder ja das Unschlüssige an diesen Regelungsversuchen. Mag sein, daß der eine oder andere Lehrer auch durchblicken läßt, daß hier ein seltsames Experiment namens Reform stattfindet. Ich kann aber nur für meine eigenen Kinder sprechen, deren Werdegang ich beobachtend beeinflusse, auch bin ich kein Didakt.

Ich bin aber Optimist, weil ich vom Scheitern dieser Versuche fest überzeugt bin. Die Inkonsequenz und Widersprüchlichkeit des Regelungsversuches, die kratzbaum und alle Zeitungsleser bereits heute erleben, wird früher oder später wieder zum Verschwinden des Präskriptiven führen. Für das sich bildende Sprachgefühl meiner Kinder ist es daher eher ärgerlich und angesichts ihrer Lebendigkeit erst in zweiter Linie schädlich – wenn überhaupt.

Sprachgefühl entwickelt sich meiner Ansicht nämlich nicht aus Regeln, daher schaden schädliche Regeln dort, wo es sich bildet, auch nicht. Den größeren Schaden sehe ich daher im Frust, den das unnötige Lernen von offensichtlich Unausgereiftem hervorruft. Spaß an der Muttersprache wird dadurch jedenfalls nicht gefördert. Der 12jährige würde übrigens nie Gämse schreiben - behauptet er zumindest.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.09.2005 um 16.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1711

Lieber Herr Jochems, ich habe Sie schon verstanden und bin nicht empfindlich, weder was Kritik noch was ungewohnte Schreibweisen anbelangt. Mein Wörterbuch ist ein Vorschlag, das steht ja auch drin. Etwas anderes sollte ein Rechtschreibwörterbuch auch nie sein wollen.

Was nun die Zeitungen betrifft, so haben sie sich zwar im großen und ganzen wie auch der Schriftverkehr, den die Sekretärinnen erledigten, im Zweifel nach Duden gerichtet, aber das bedeutet auch, daß sich manches entgegen dem Duden entwickeln konnte, weil überhaupt keine Zweifel vorhanden waren. Als die meisten Leute glaubten, die Zeitungstexte liefen samt und sonders durch die automatische Rechtschreibkontrolle, war das noch längst nicht der Fall und trifft auch heute noch nicht zu. Der Duden hat wohl retardierend gewirkt, aber nicht in dem Maße, wie es nun die Programme tun werden.

Die Belletristik habe ich nicht ausgeschlossen, aber ins zweite Glied gedrängt, weil viele Schriftsteller zwar nicht die Chaoten oder Spinner sind, die die Reformer ihnen sehen wollten, aber doch Eigenwilligkeiten pflegen, z. B. der von mir gern gelesene und zitierte Doderer.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 13.09.2005 um 18.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1712

Wir sind ganz einer Meinung, lieber Martell! Wenn ich mein Unbehagen für diese Vorgänge ausdrücke, verurteile ich weder die Kinder, noch deren Eltern, die sich mit Ärger konfrontiert sehen. Schuld an der Entzweiung sind die ideologisch denkenden, "nützlichen Idioten" (Lenin), welche die Rechtschreibreform zwar nicht erfunden, sie aber mit Jubel begrüßt und unterstützt haben, weil sie damit die "Gleichstellung" der Kinder mit den Erwachsenen vorangetrieben sahen. So der Verlagsleiter des Beltz Verlags, Störiko-Blume in seinem Offenen Brief aus dem Sommer 2004: "Und lassen Sie sich am Abend bei einem Glase Wein von Ihren Kindern oder Enkeln erklären, warum „daß“ jetzt völlig problemlos „dass“ geschrieben wird." Ja, lassen wir uns doch alles von unseren Kindern erklären, den Computer, das Handy, Gott und die ganze Welt! Und halten wir brav den Mund, denn wir sind ja dumme, verkalkte, stockkonservative, närrische Alte. "Meine Kids lachen sich kaputt, wenn sie ein "daß" entdecken." Das schrieb ein begeisterter Anhänger der Reformschreibung im Jahr 2004 in einem Forum. Meine Kids ...

Das ist es, was ich meine. Und daran, lieber Martell, sind weder Sie noch ich beteiligt. Wir leiden darunter. Und wir sollten das auch sagen. Je vernehmlicher, desto besser.

Außerdem neige ich keinesfalls zum Pessimismus. Was die Schule betrifft, haben wir ein klares Ziel, und das heißt: Die klassischen Formen der Orthographie von "daß" bis zu "Schiffahrt" dürfen im Schulunterricht nicht als veraltet und falsch disqualifiziert werden. Die herkömmliche und in Millionen von Schriftstücken aufbewahrte Schreibweise muß auch in Zukunft unbegrenzt ihre Gültigkeit behalten. Daneben kann man Toleranz üben und neue Formen gelten lassen, sofern sie von der Sprachgemeinschaft angenommen werden - in diese Richtung äußerte sich 1998 ja auch das Bundesverfassungsgericht.
Wir haben gute Chancen, daß wir dieses Ziel erreichen - schauen wir auf die F.A.Z., schauen wir auf Springer. Schauen wir nach NRW und nach Bayern. Schauen wir auch in die Schweiz - solang dort Rauchzeichen aufsteigen, ist große Hoffnung auf Vernunft.
Und unterstützen wir jene, die in diesem Kampf um das Kulturgut Schriftsprache nicht aufgeben wollen. Das tut jetzt not.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 13.09.2005 um 18.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1713

Lieber Herr Ickler, darf ich meinem Exkurs über zuguterletzt noch einen Nachtrag anfügen? Mir ist aufgefallen, daß Ihr "nicht falsch, sondern unüblich" unserer Diskussion eine neue Richtung gibt. Zweifellos wären zahlreiche Schreibungen vom Standpunkt der traditionellen, aber auch der "neuen" deutschen Rechtschreibung so einzustufen. Vor 1996 verzeichnete der Duden keine der folgenden Formen: "stattdessen", "zuhause", "sodaß", "abhandenkommen", "leidtun" "überschwänglich"; sie kamen deshalb auch nicht in den gedruckten Texten vor, und Lehrer strichen sie als Fehler an. Da in Deutschland die Norm durch das amtliche Rechtschreibwörterbuch bestimmt wird, das sich seinerseits auf amtliche Regeln beruft, ist das Zwischenstadium "nicht falsch, sondern unüblich" eigentlich nicht vorgesehen. Wer, wie einige Mitdiskutanten das tun, in jeder noch so kleinen "Normabweichung" eine Gefahr für die Ausbildung und das Funktionieren des Sprachgefühls sieht, muß diese amtliche Sicht gutheißen. Damit hört aber doch die Autonomie des Schreibers auf, er definiert sich durch die Beachtung der Norm, die nicht hinterfragbar ist. Einige Mutige mögen trotzdem wider den Stachel löcken und Nachahmer finden - erst wenn der Damm gebrochen ist und das amtliche Rechtschreibwörterbuch nicht mehr umhin kann, von der neuen Schreibung Notiz zu nehmen, wird sie der Aufnahme für würdig gefunden.

Dieses System funktioniert also nur, wenn das amtliche Rechtschreibwörterbuch und das amtliche Regelwerk von der Schreibgemeinschaft widerspruchslos respektiert werden. Dabei gibt es im konkreten Fall doch eine Menge vorzubringen. "Zu guter Letzt" ist vom textsemantischen Standpunkt her problematisch, denn die Großschreibung zeichnet hier etwas als "Redegegenstand" aus, was es doch in Wirklichkeit gar nicht ist. Auch die Ersetzbarkeit durch ein einfaches Adverb ("schließlich") stellt den Phraseologismus eher zu "insonderheit" oder gar "nichtsdestotrotz", wo sich die "kompaktere" Zusammen- und Kleinschreibung längst durchsetzt hat. Aber die Möglichkeit, die Zusammenschreibung wieder aufzulösen? Ältere Mitdiskutanten werden sich an den "Walzer zu guter, guter Letzt" der Dorl aus Schweinau erinnern. Gehört das aber nicht schon in die interessante Geschichte dieser Wendung, die man den Schülern auch dann erzählen kann, wenn man die Zusammenschreibung empfiehlt? Vielleicht spricht jetzt jemand von Anarchismus. Ich sehe hier eher eine Anerkennung der Lebendigkeit unserer Rechtschreibung.


Kommentar von Reinhard Markner, verfaßt am 13.09.2005 um 19.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1714

Selbstverständlich sind die Schreibungen stattdessen und überschwänglich ebenso wie zuhause und sodaß schon vor 1996 in gedruckten Texten vorgekommen, letztere auch im Duden selbst. Die Häufigkeit von abhandenkommen müßte man überprüfen, leidtun war sicherlich unüblich.

Das Verfahren, Schreibweisen durch ihre Verzeichnung in einem Wörterbuch, das amtliche Billigung und/oder allgemeine Wertschätzung genießt, anerkennen zu lassen, findet nicht nur im deutschen Sprachraum Anwendung vor allem auf Neologismen. Heißt es syphig oder siffig? (Das läßt sich aus Duden und Wahrig nur im Umwegverfahren herausbekommen, denn sie verzeichnen nur versifft.) Es ist evident, daß die Verlagswerbung mit den 5000 neuen Wörtern stark übertreibt, aber die Fälle, in denen sich die Schreibung schon eingeführter Wörter oder Verbindungen nachträglich ändert, sind eher noch seltener als orthographisch problematische Neuwörter.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 14.09.2005 um 09.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1715

Bei der Verteidigung der Dudenorthographie steht das Argument im Vordergrund, sie habe Bedeutungsdifferenzierungen gestattet, die die Reformer eingeebnet hätten: "schlecht machen" vs. "schlechtmachen". Friedrich Denk pflegt dazu zu sagen: "Man hört's doch!" Dieser Hinweis impliziert zweierlei: Die herkömmliche Rechtschreibung gibt hier nur eine Unterscheidung wieder, die schon in der Lautung vorhanden ist, nämlich die unterschiedliche Betonung. Und weiter: Wenn dies zur Bestimmung der Schreibung genügt, sind alle weiteren Kriterien (Adverbiale vs. Verbzusatz, resultatives Prädikativ, idiomatisierte Gesamtbedeutung) überflüssig. Zusammengeschriebene Verbindungen von Adjektiv + Verb sind zwar Univerbierungen, verhalten sich aber in der Lautung wie Zusammensetzungen - mit dem Akzent auf der ersten Komponente. Die Intuition geübter Schreiber folgt offenbar diesem Kriterium, und mehr braucht auch eine volkstümliche Rechtschreiblehre an dieser Stelle nicht zu enthalten. Das gilt natürlich auch für Verbpartikeln + Verb und sogar für die nach dem syntaktischen Kontext zu unterscheidenden Schreibungen der Verbindungen von adverbial gebrauchtem Adjektiv + Partizip: "eine dichtbesiedelte Gegend" (Akzent auf der ersten Komponente) vs. "diese Gegend ist dicht besiedelt" (gleichmäßige Betonung). Aufmerksame Leser werden erkennen, daß diese Akzentunterscheidung für die Abfolge Verb + Verb nicht gilt: "schlafen gehen" hat ebenso den Ton auf der ersten Komponente wie "spazierengehen" oder "kennenlernen", aber niemand würde hier durchgängig die Univerbierung am Werke sehen. Wer sich aber bei Adjektiv + Verb nach der Betonung richtet, schreibt intuitiv immer richtig - was vor 1996 jedoch nicht die Meinung der Dudenredaktion war. Da sie davon ausging, die übertragene (neuerdings idiomatisierte) Bedeutung sei möglichst orthographisch auszuzeichnen, stufte sie die Univerbierung bei ambivalenten Verbindungen einfach wieder zurück, also: den "Brief freimachen", darum "den Weg frei machen" (trotz "den Weg freihalten"). Merkwürdigerweise dehnte man dieses Verfahren auch auf die reflexive Verwendung von univerbierten Verben aus, also "etwas bereithalten" vs. "sich bereit halten". Ganz konsequent waren übrigens auch die Dudenleute nicht. Zwischen "ein Brett festnageln" und "jemanden auf seine falsche Behauptung festnageln" wurde orthograhisch nicht unterschieden. Auch sehr erfahrene Schreiber hatten von dergleichen Spitzfindigkeiten vor 1996 nicht gehört und fielen deshalb unter ihresgleichen nicht auf, wenn sie die Dudennorm verletzten. Heutige Korrekturprogramme mit ihrer Einzelwortprüfung bemerken übrigens auch nichts. Wer sich an die Betonung hält, kann sich jetzt auch für Herrn Zehetmairs "Zwei Schüler auseinander setzen" vs. "sich mit einem Problem auseinandersetzen" nicht begeistern. Fazit: Beim Rückbau unserer Orthographie ("Renaturierung") sollte man dies im Auge behalten: Was vor 1996 im Duden stand, war nicht samt und sonders klassische deutsche Rechtschreibung, sondern arg mit Mannheimer Kopfgeburten - diesmal nicht von internationalen oder zwischenstaatlichen Eltern - durchsetzt.


Kommentar von Martell, verfaßt am 14.09.2005 um 10.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1716

Es ist nicht gerecht, Generationen von Duden-Redakteuren Spitzfindigkeit vorzuwerfen. Dies dürfte man doch höchstens aus einer Position besseren Wissens/Könnens heraus tun. Was bei Munske Haut, ist bei Popper Borderline und heißt auf deutsch Randbereich. Lebewesen als strukturdeterminierte Systeme haben immer Häute, Ränder, Grenzen. Sichtbare Veränderungen finden dort statt ohne die Struktur wesentlich zu verändern, gar sie zu zerstören, solange das System funktioniert, d.h. lebt.

Was in den Dudenredaktionen stattfand, war, um ein technisches Bild zu bemühen, vergleichbar mit objektorientierter Programmierung. Zwar ist die Differenz getrennt./.zusammen ein Merkmal, um Bedeutungen zu unterscheiden. Aber eben nur EINES unter vielen. Objektorientiertes Programmieren löste die alte deterministische Vorgehensweise ab, die dadurch charakterisiert war, daß Daten und Algorithmen streng voneinander getrennt waren. Die alten Algorithmen waren stur auf Datensätze anwendbar – ohne die Kompatibilität von Algorithmus und Datensatz selbst prüfen zu können. Der Versuch, die Getrenntschreibung abschließend zu regeln, ist vergleichbar mit der Entscheidung, vom objektorientierten Vorgehen zum alten deterministischen zurückzukehren. (Übrigens konnte auch die objektorientierte Methode eine in sie gesetzte Erwartung nicht erfüllen: Fehlerfreiheit des Codes.)


Kommentar von H. J., verfaßt am 14.09.2005 um 12.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1717

Die alten Algorithmen waren stur auf Datensätze anwendbar – ohne die Kompatibilität von Algorithmus und Datensatz selbst prüfen zu können", so Martell. Er hätte hier an einen Vorgang in der jüngeren Geschichte der Sprachwissenschaft erinnern können. Die amerikanischen Strukturalisten gaben in den zwanziger Jahren die gesamte herkömmliche grammatische Terminologie auf, um nicht den zu analysierenden Indianersprachen kategoriale Festlegungen überzustülpen, die überhaupt nicht auf sie zutreffen. Unsere Reformer verstanden sich als letzte Nachhut dieser Wende, allerdings mit einem grundlegenden Unterschied: Sie kreierten in vielen Fällen erst einmal die Datensätze, auf die sie dann - objektorientiert - ihre neuen Algorithmen anwandten.

Der Versuch, die Getrenntschreibung abschließend zu regeln, ist vergleichbar mit der Entscheidung, vom objektorientierten Vorgehen zum alten deterministischen zurückzukehren. Was kann hier mit "regeln" gemeint sein? Aufgabe der Sprachwissenschaft ist Beschreibung und Erklärung. Ihre beschreibenden Erklärungen von sprachlichen Phänomen (im Sinne von Harald Weinrich) werden gemeinhin "Regeln" genannt, zumal die Generative Grammatik (trotz ihres Namens eine deskriptive Disziplin) vorwiegend mit dieser Bezeichnung operiert. Sprache aus der Retorte ist dagegen unwissenschaftlich. Der Staat mag sich Linguisten halten, die in dem Punkt nicht pingelig sind. Dem souveränen Sprachvolk sollte er aber mit seinen Fachleuten für objektorientierte wie deterministische Algorithmen vom Leibe bleiben.



Kommentar von R. M., verfaßt am 14.09.2005 um 14.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1718

Zehetmairs Beispiel von den auseinander zu setzenden Schülern stammt von einem »Mitstreiter«, der hauptsächlich als Streiter aufgefallen ist, nicht jedoch durch linguistischen Feinsinn. Von ähnlicher Güte sind manche Duden-Exempel in älteren Auflagen, »z. B. nahe gehen (in die Nähe gehen)« (Mannheim 1973). Es wäre hilfreich, weitere Unterscheidungsschreibungen zu sammeln, für die in Wirklichkeit kein Bedarf besteht.


Kommentar von Martell, verfaßt am 14.09.2005 um 14.44 Uhr  
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Selbstverständlich wäre über ihre Unähnlichkeit mehr zusagen, als zur Ähnlichkeit zwischen lebendigen und Maschinensprachen. Das Bild mit der Objektorientierung ist nicht einfach zu verstehen, wenn man nicht den wesentlichen Fortschritt weg von der alten hin zu dieser Programmiermethode kennt. Ich habe den Vergleich trotzdem verwendet, um damit zu veranschaulichen, daß dies, was nicht geschlossen in Formeln (Regeln) wiedergegeben werden kann, eben am besten, wenn auch nur näherungsweise, mit objektangepaßten variablen Formeln erfaßt wird. Im Programmierjargon nennt man es "überladen", wenn ein und derselbe Algorithmus zuerst den Datensatz betrachtet und anschließend – je nach dessen Eigenschaft – unterschiedlich damit verfährt.

Meiner Ansicht nach könnte es sich beim Verhalten der Dudenfachleute in den bekannten Grenzbereichen genau darum gehandelt haben: Dort wo logisch schlüssige Strukturbeschreibungen aus bestimmten Gründen versagen müssen, nähert man sich mit nächstbesten Methoden. Daß ein Resultat dieses Vorgehens von den Reformern als Argument für ihr eigenes Tun verwendet werden konnte, liegt ja in dem kleinen aber folgenreichen Irrtum begründet, lebendige Sprache und Mathematik wären mit den gleichen Mitteln beschreibbar: Doch nur aus dieser Haltung heraus konnte die Arbeit des Duden angegriffen werden.

Das Ziel der Reformatoren war hingegen die geschlossene Beschreibung, die keine Ausnahmen mehr nötig hat. Der Preis hierfür war aber zu hoch.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 14.09.2005 um 15.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1720

Überhaupt fällt auf, daß Herrn Zehetmairs Beispiele oft haarscharf danebenliegen. Das war schon so, als er noch auf der Gegenseite stand und sich im Bayerischen Landtag über "spazierengehen" vs. "baden gehen" (oder dgl. ) mokierte. Die eigentliche Sprachkritik sollte er besser den Fachleuten überlassen und sich auf die Bündelung der Argumente sowie politische Einflußnahme beschränken.


Kommentar von H. J., verfaßt am 14.09.2005 um 15.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1721

Ein Nachtrag zur Betonung: Der Revisionsvorschlag der Zehetmair-Kommission spricht im Zusammenhang mit der Zusammenschreibung von Adjektiv + Partizip weiterhin von "in adjektivischer Verwendung"; Professor Ickler erinnert daran, daß es "attributiv" heißen müsse, denn "prädikativ" sei die Zusammenschreibung nicht möglich. Vor längerer Zeit wurde die Süddeutsche Zeitung dafür gerügt, daß sie in Joachim Kaisers Satz "Der Nobelpreis für Günter Grass war wohl verdient" wohl und verdient getrennt habe, obgleich doch wohlverdient gemeint sei. Was sagen wir heute dazu? Zweifellos muß geschrieben werden der wohlverdiente Nobelpreis, dochwar wohlverdient? Der Akzent müßte ausschließlich auf der ersten Komponente liegen; tut er das aber - ohne emphatische Betonung? Erschwerend kommt hier hinzu, daß wohl "vermutlich" (stets unbetont) und wohl "durchaus" sich inzwischen so weit auseinanderentwickelt haben, daß sie als verschiedene Wörter empfunden werden. DUW 1989 führt sowohl wohlverdient wie dichtbesiedelt als Adjektive auf; vom letzteren wissen wir aber, daß es prädikativ getrennt zu schreiben ist. Google zeigt übrigens 330 Einträge für "war wohlverdient" und 553 für "war wohl verdient". Da aber die Diskussion um das Kaiser-Zitat "wohl dokumentiert/wohldokumentiert" ist und natürlich die Texte vorwiegend Neuschrieb zeigen, besagen diese Zahlen wenig. Zudem spielt eine Rolle, daß selbst "wohl verdient" etliche Bedeutungen trägt, vgl. Der Sieg gegen Lübeck war wohl verdient, denn Lübeck hatte bis zur 70. Minute keine Torchance. ./. Denn alles, was die Übersetzer bekommen haben, und das ist immer noch wenig genug, war wohl verdient und keine milde Gabe. Kritik wird gelegentlich laut angesichts von Was Gott tut, das ist wohl getan in neueren Bibelausgaben; als ob das früher anders geschrieben worden wäre. Allerdings gibt es hier ein Verb wohltun. So schwierig ist die deutsche Rechtschreibung, ob "klassisch", "üblich" oder "neu". Übrigens, Doppeldeutiges kommt auch sonst in deutschen Texten vor, und Sinnentnahme ist immer ein aktiver Vorgang.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 14.09.2005 um 15.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1722

»Daß ein Resultat dieses Vorgehens von den Reformern als Argument für ihr eigenes Tun verwendet werden konnte, liegt ja in dem kleinen aber folgenreichen Irrtum begründet, lebendige Sprache und Mathematik wären mit den gleichen Mitteln beschreibbar: «

Das mechanistische, "wissenschaftliche" Regeln eines lebendigen Bereiches wie es die Sprache ist, erinnert mich an jenen Herrscher, der seine Gärtne zum Teufel jagte, weil er die Pflanzen lieber von akademisch geschulten Wissenschaftlern gestaltet haben wollte. Nur nichts dem Zufall - sprich der Natur - überlassen. Was aus dem Garten geworden ist, mag sich jeder selbst ausmalen.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.09.2005 um 15.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1723

Ich glaube, daß es sich im wesentlichen so abgespielt hat: Man beobachtet, daß in einer ganzen Reihe von Fällen "sitzen bleiben" zusammengeschrieben wird, in anderen dagegen nicht, und überlegt, woran das liegen könnte. Die Dudenredaktion ist auf eine bestimmte Erklärung gestoßen (übertragene Bedeutung) und hat dann versucht, diese ihre Erklärung - die aber eben eine Theorie ist und nicht das Phänomen selbst - gewissermaßen zu systematisieren und zu einer Vorschrift zu erheben. Das hat hier nicht viel gebracht, weil es beim Einzelwort geblieben ist und keineswegs nun alle übertragenen Verwendungsweisen ähnlicher Kombinationen ebenfalls durch Zusammenschreibung ausgezeichnet werden. Ich selbst habe mir eine andere Erklärung (Theorie) zurechtgelegt: Positionsverben + bleiben/lassen als Ansatz zu einem kleinen Aktionsartensystem, daher Tendenz zur Zusammenschreibung, wenn punktuell zu verstehen, bei durativem Gebrauch Getrenntschreibung. Von einer systematischen Durchführung dieses Programms sind die Schreibenden aber weit entfernt, daher gebe ich es nur zu erwägen.

Die Erklärung des Duden und meine eigene sind völlig verschieden. Entscheidend bleibt der Usus. Das hat auch die Dudenredaktion im Grunde nicht anders gesehen. Erst die Reformer wollten die Schreibweisen selbst ändern. Und zwar wollten sie, das darf man nie vergessen, "die Schreibung vom Transport semantischer Informationen entlasten". Am besten wäre ihnen das mit einer Lautschrift gelungen. Die "tiefen" Orthographien (Englisch, Französisch, Deutsch) tragen allerlei historische Informationen mit, die besonders im Deutschen durch einen von den Reformern nie verstandenen Funktionswandel in den Dienst der Übermittlung semantischer und grammatischer Informationen gestellt worden sind. Das war ein Modernisierungsschub, der die deutsche Orthographie zu einer der besten gemacht hat. Die paar Ecken und Kanten hätten sich "zu guter Letzt" schon noch abgeschliffen - auch die "Letzt", wenn sie stört.


Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 14.09.2005 um 20.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1724

Ich möchte die Ausführungen von Prof. Ickler, denen ich voll zustimme, noch etwas ergänzen.
Der Duden hat sich in diesem Fall und in anderen Fällen - wohl durch eine Übergeneralisierung - zu falschen Angaben zur Betonung hinreißen lassen. So behauptete er, "sitzen bleiben" und "sitzenbleiben" würden unterschiedlich betont. Gleiches behauptete er zu "die Schüler auseinander setzen" und "ein Problem auseinandersetzen" sowie zu "einen Teller fallen lassen" und "seine Absicht fallenlassen".
Meines Erachtens sind diese behaupteten Betonungsunterschiede samt und sonders falsch. Entsprechend fraglich sind daher auch die behaupteten Unterschiede der Schreibung. Überhaupt sind solche Betonungsangaben auch in anderen Wörterbüchern oft sehr zweifelhaft. Betonung ist ja auch empirisch viel schwieriger festzustellen als Schreibung.
Auch in dem vom Rechtschreibrat "beschlossenen" Regeln zur GZS ist eine meines Erachtens eindeutig falsche Betonungsangabe enthalten. Dort wird behauptet, daß in der Wendung "er ist höchstpersönlich gekommen" die Betonung auf "höchst" liege. In Wirklichkeit werden vergleichbare Bildungen mit "höchst", wie "höchstselbst", "höchsteigen" und "höchstderselbe", normalerweise auf dem zweiten Bestandteil betont.
Der wahre Grund für die Zusammenschreibung von "höchstpersönlich" ist wohl, daß "persönlich" in dieser Bedeutung, etwa im Gegensatz zu "erfreulich", überhaupt nicht steigerungsfähig ist.


Kommentar von R. M., verfaßt am 14.09.2005 um 20.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1725

Richtig, und es gibt und gab zwar hoch und höchlich erfreut, aber nicht hoch persönlich schon gar nicht höchlich persönlich.


Kommentar von Pavel Nemec, Praha 4, verfaßt am 14.09.2005 um 22.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1726

Die Kombinationen Infinitiv + Verb mit den Zweitgliedern "bleiben, lassen, lernen" kann man
bei den getrennt geschriebenen Infinitiven und Partizipien von "bleiben, lassen lernen" als "unvollendete Aktionsart" oder "andauernde Handlung" und
bei den zusammengeschriebenen Infinitiven und Partizipien mit "bleiben, lassen, lernen" als "vollendete Aktionsart" oder "einmalige Handlung"
unterscheiden:
U.v. A.: stehen bleiben, sitzen bleiben, laufen lassen, kennen lernen, schätzen lernen;
V. A.:stehenbleiben, sitzenbleiben, laufenlassen, kennenlernen, schätzenlernen.
Das kann man für jedermann verständlich formulieren.


Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 14.09.2005 um 22.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1727

So wenig ich manchem aus Herrn Jochems Argumentationen, wenn er nämlich die Aversion gegen die Neuschreibungen kleinredet, zustimmen mag, so wichtig scheint mir sein Argument im Satz "Was Gott tut, das ist wohl getan" zu sein. Warum kann das das "wohl" in diesem Satz nicht mißverstanden werden, wenn es doch sonst so leicht zur Abschwächung wird? Mir scheint, dadurch, daß der Satz bei Streichung des Worts unvollständig würde. Die Univerbierung ist also ein dynamischer Prozeß, der in jedem einzelnen Satz zur Wirkujng kommen kann oder muß oder auch nicht darf. Keine Lösung des Problems auf Grund rein lexikalischer Vorgaben kann diesem Charakteristikum der deutschen Sprache gerecht werden. Das hat man 1901 - wohl mit Bedauern - eingesehen und die Finger von der Regelung gelassen.

Zusammengeschrieben wird dann, wenn die Auseinanderschreibung zu syntaktisch oder semantisch zweideutigen Ergebnissen führt, obwohl sie (lexikographisch) an sich möglich wäre.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 14.09.2005 um 22.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1728

Es liegt an "Gott", daß wir den zweiten Teil richtig verstehen. Vergleiche: Nun ist die Hauptarbeit (wohl )getan/ Wenn X. etwas tut, dann ist es getan/ usw.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.09.2005 um 08.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1729

"Was Gott tut, das ist wohl getan." Hier kann schon wegen des Versakzents keine Modalpartikel vorliegen, die ja immer unbetont ist. Es geht aber auch nicht um das verbale Gebilde "wohltun", sondern gemeint ist "ist richtig getan". Deshalb finde ich die Getrenntschreibung hier richtig, also besser als die Zusammenschreibung, die aber auch nicht falsch ist. Man darf eben nie vergessen, daß in einer Sprache immer gleichzeitig mehrere "Programme" wirken, die zu verschiedenen Ergebnissen führen und auch unvermeidlicherweise zu mißverständlichen Ergebnissen.

(Ein bekanntes "Programm" in diesem Sinne ist zum Beispiel der Drang, jedes Adjektiv sowohl attributiv als auch prädikativ als auch adverbial zu verwenden. Das führt einerseits zum "abben Knopf", andererseits zu adverbialem "sogenannt" - diese unflektierte Form dürfte es ja eigentlich gar nicht geben, aber nun schauen Sie mal nach, wie oft sie dennoch vorkommt!)

Der Duden hat in vielen Fällen für prädikative Verwendung Getrenntschreibung verlangt und damit zwei Betonungsgipfel verbunden, nicht immer mit Recht. Das ist in der Reform noch radikalisiert worden, so daß die beiden großen Wörterbücher ganz mechanisch und gegen jede Sprachwirklichkeit Zusammenschreibung mit einem Akzent, Getrenntschreibung (auch attributiver Partizipverbindungen) mit zwei Akzenten versehen haben. Es ist belustigend, im Wahrig das Auftauchen und Verschwinden dieser fiktionalen Betonungen zu verfolgen.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 15.09.2005 um 08.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1730

"...die Schreibung vom Transport semantischer Informationen entlasten..." - dieser Vorsatz enthält schon das ganze Programm der Reformer mit allen Konsequenzen. Wenn man das liest, könnte man meinen, sie hätten vom Sinn und Zweck der Rechtschreibung rein gar nichts verstanden.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 15.09.2005 um 09.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1731

wohlgetan/ wohl getan - Der Versakzent kommt nur zu Hilfe, wenn man das Sätzchen auch als Vers erkennt bzw. das Kirchenlied noch kennt. Zwingend ist das nicht. Ich denke, hier ist doch der Inhalt nicht unwichtig zum richtigen Verständnis. Außerdem würde ich wohlgetan nicht mit sein, sondern mit haben verbinden. "Was Gott tat, das hat wohlgetan." - Geht doch -oder?


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 15.09.2005 um 09.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1732

Professor Ickler: Man darf eben nie vergessen, daß in einer Sprache immer gleichzeitig mehrere "Programme" wirken, die zu verschiedenen Ergebnissen führen... - ein weiterer Leitgedanke für unsere Diskussion. Vielleicht sollten wir damit die Feststellung verbinden, daß nur die aktiven (sprachwissenschaftlich: produktiven) Programme in der Gegenwart das Sprachhandeln beeinflussen, also auch Veränderungen des Sprachsystems bewirken können. Sprachgeschichtlich läßt sich ermitteln, welche heute inaktiven Programme den Vorrat an sprachlichen Ausdrucksmitteln gestaltet haben, der uns überliefert ist und der uns als Grundlage unseres Sprachgebrauchs dient. Fast alle heutigen Einzelwortschreibungen verdanken ihre besondere Gestalt Programmen, die heute nicht mehr aktiv sind. "Stängel" und "rau" sind deshalb künstliche Veränderungen, nicht jedoch "überschwänglich". Wenn wir anerkennen, daß heute besonders in unseren beiden deutschen Sonderbereichen GZS und GKS konkurrierende Programme aktiv sind, dürfen wir keine einheitlichen Ergebnisse erwarten. Wo aus ästhetischen oder praktischen Gründen Einheitlichkeit geboten ist, kann dies nur durch eine Auswahl erreicht werden, die dann aber lediglich für begrenzte Anwendungsbereiche gilt ("Style Sheet" im angelsächsischen Sinne). Eine umfassende Darstellung der Sprache (natürlich einschließlich ihrer Schreibung) darf die Konkurrenzsituation der gestaltenden Kräfte nicht unterschlagen, muß also auch die alternativen Ergebnisse aufzeigen. Das ist übrigens der einzige gangbare Ausweg aus dem gegenwärtigen deutschen Rechtschreibdilemma.


Kommentar von Martell, verfaßt am 15.09.2005 um 10.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1733

Zusammengeschrieben wird dann, wenn die Auseinanderschreibung zu syntaktisch oder semantisch zweideutigen Ergebnissen führt, obwohl sie (lexikographisch) an sich möglich wäre.

Man fragt sich, ob der Satz nur für wohl getan gilt, oder auch für anderes. Aber für welches andere? Woran mag es wohl liegen, daß man für jeden Aussagesatz, der ein Phänomen theoretisch zu fassen versucht (wie es Ickler charakterisiert), mit Leichtigkeit mindestens eine kontradiktische Ausnahme finden kann?

Liegt es vielleicht daran, daß die Einsicht von 1901 keinerlei Bedauern nötig hatte, weil sie Einsicht war?



Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 15.09.2005 um 10.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1734

Man fragt sich, ob der Satz nur für wohl getan gilt, oder auch für anderes.

Ja sicher. Z.B. "Ekel erregend" , "Fleisch fressend" u.ä. sind in bestimmten Kontexten richtige Schreibungen, aber niemals in einem Satz wie "Das ist Ekel erregend". Das ist einfach kein richtiges Deutsch. Man kann ja auch sagen "ich bin laufend". Wenn schon, dann "Ich bin am laufen" als rheinische Verlaufsform.


Kommentar von Martell, verfaßt am 15.09.2005 um 11.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1736

Zusammengeschrieben wird dann, wenn die Auseinanderschreibung zu syntaktisch oder semantisch zweideutigen Ergebnissen führt, obwohl sie (lexikographisch) an sich möglich wäre.

Regeln haben alle ihre Gültigkeit. Aber man kann die Definitionsmengen oft nur unscharf abgrenzen, auf die eine Regel jeweils anzuwenden ist. Wie verhält es sich denn z.B. mit ansich vs. an sich?

Es gibt zwar nichts praktischeres als eine gute Theorie. Aber offensichtlich auch einen recht unbändigen Drang zu Abstraktion von möglichst allem.



Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 15.09.2005 um 11.42 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1737

: Wie verhält es sich denn z. B. mit ansich vs. an sich?

Au weia. Vielleicht kommt es ja mal so. Es ist eine Schreibung vom Typ "zurzeit"; überflüssig, aber es ist auch nicht völlig unmöglich, daß sie irgendwann einmal akzeptiert wird; jetzt jedenfalls nicht.

Ein Sprachtheoretiker aus Osnabrück hat einen Gesichtspunkt ins Spiel gebracht, der m.E. Beachtung verdient. In der - gesprochenen - Sprache spielt etwas eine Rolle, das schriftlich kaum darstellbar ist, nämlich Rhythmus und Melodie. Beim Schreiben hilft da nur die Wahl der Satzzeichen und der Getrennt- oder Zusammenschreibung, sowie die Klein- oder Großschreibung. Das ist im Deutschen mehr als z. B. im Englischen. Für diejenigen, die dieser Gesichtspunkt näher interessiert, irgendwo unter http://tobiasthelen.de/ stand es.


Kommentar von Martell, verfaßt am 15.09.2005 um 12.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1738

daß sie irgendwann einmal akzeptiert wird; jetzt jedenfalls nicht.
Der Leiziger Wortschatz zitiert mehrere Fundstellen von ansich in der Zeit. Google zeigt Ihnen 607000 Seiten. Ab wieviel Fundstellen spricht man denn von Akzeptanz?

Aber meine Frage richtete sich nach der Anwendung Ihrer Regel auf dieses Objekt ansich, nicht nach Ihrer Akzeptanz einer Schreibweise.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 15.09.2005 um 12.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1739

Im Augenblick bewegt sich die Diskussion auf diesen Seiten in Richtung "Programm", "Regel", "Definitionsmenge". Martell spricht von den stets zu findenden kontradiktorischen Ausnahmen zu jeder Regel oder theoretischen Beschreibung eines sprachlichen Phänomens. Ja, wie kommt das? - Vielleicht kommt man dem Phänomen "Sprache und ihre schriftliche Fixierung" doch näher mit Begriffen wie "Brauch", "das Übliche", "Gewohnheit", "Konvention".

Als Kinder des wissenschaftlich-technischen Zeitalters hätten wir alle Erscheinungen gern auf Begriffe gebracht, möglichst operationalisierbar und in der rationalen Mausefalle gefangen. Aber die elementaren Lebensäußerungen entziehen sich immer wieder, allein schon durch ihren forwährenden Wandel - von Sitten und Gebräuchen über die menschlichen Beziehungen bis zur Sprache. Überall ist so viel Irrationales, letzlich Unbegründbares, das man einfach hinnehmen muß: "Es ist so - es könnte auch ganz anders sein". Wohin die Fixierung auf Regeln führen kann, erleben wir ja an der Reform und ihren Folgen.


Kommentar von Martell, verfaßt am 15.09.2005 um 13.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1740

Ja, wie kommt das?

Es gibt eben sehr viele Wege, sich dem Phänomen zu nähern. Aber wir suchen doch nicht einheitliche Zugänge, sondern einen Ausweg, auf den sich möglichst alle einigen können. Definitionsmengen meint übrigens in dem hier verwendeten Kontext nichts sehr verschiedenes von begrenzte Anwendungsbereiche.

Doch ich frage mich, ob bereits die umfassende Darstellung genügt, die Prof. Jochems als einzigen Ausweg sieht. Eher scheint mir, daß eine solche Darstellung lediglich Grundlage sein kann, von der ausgehend dann ein konsensfähiger Weg genommen werden sollte - nicht ohne zuvor anständig gestritten zu haben.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.09.2005 um 16.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1743

Die "Programme" in Ehren ("Analogie" ist dasselbe) - aber entscheidend bleibt der Usus, nicht die Herleitbarkeit. Übrigens ist "überschwänglich" so eindeutig ja auch wieder nicht, wenn man sich die komplizierte Geschichte ansieht.

Es gibt eine Reihe Kandidaten für Zusammenschreibung, die wirklich hinreichend oft belegt sind: "umso" und "sodaß" (beide in meinem Wörterbuch, entgegen dem alten Duden; die Reformer haben das erste vorgeschrieben, das zweite zugelassen, mit ss natürlich), "gar nicht" (nicht anerkannt, aber ich habe hier Skrupel gehabt, ob die Ausschließung richtig war).

Solche Entwicklungen folgen bestimmten Programmen und sind daher unbedenklich, aber die Hauptsache ist, daß sie oft genug vorkommen. Wenn man die ganze Rechtschreibung mit einer gewissen Gelassenheit betrachtet, aber die Grammatik hochhält, sind solche Übergangserscheinungen nicht tragisch. Sollte man nicht auch Deutschlehrern genügend Souveränität zutrauen, daß sie vernünftig damit umgehen?


Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 15.09.2005 um 19.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1745

Zu gar nicht/garnicht fällt mir ein, auch wenn es nicht ganz in die Diskussion paßt, daß auch brilliante Stilisten zumindets privat die Zusammenschreibung vorziehen; ich selbst, ohne mich nun unbedingt dazurechnen zu wollen, habe mir die Zusammenschreibung bewußt abgewöhnen müssen. Wie das so geht, wenn man sich etwas aneignet, das einem im Grunde nicht schmeckt, weiß ich inzwischen auch einen Grund, warum die Getrenntschreibung richtig sei: Mit "ganz und garnicht" kommt man nämlich in die Bredouille, wenn "ganz und gar nicht" gemeint ist.


Kommentar von rrbth, verfaßt am 15.09.2005 um 20.16 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1746

Mit "ganz und garnicht" kommt man nämlich in die Bredouille, wenn "ganz und gar nicht" gemeint ist.

Bei Zusammenschreibung müßte dann das also heißen:
„ganz- und garnicht“ – oder?

Ich glaube, „gar nicht“ sträubt(e) sich gegen die Zusammenschreibung mit dem Merksätzchen: „‚Gar nicht‘ schreibt man gar nicht zusammen.“ Und solange es noch Märchen gibt, in denen „gar häßliche“ Schwestern vorkommen, soll das nach meinem Sprachgefühl auch auseinander geschrieben bleiben – auch wenn ich trotzdem glaube, daß ohne das Merksätzchen vielleicht mein Sprachgefühl mir (auch) etwas anderes sagen könnte.

Übrigens: Den „Garaus“, den man jemandem machen kann, darf man den reformiert „Ga-raus“ trennen?


Kommentar von Pavel Nemec, verfaßt am 15.09.2005 um 22.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1748

Ich halte "ganz und gar" für eine zusammengehörige Wortgruppe, weil sie auch mit anderen Partikeln, Adjektiven und Adverbien kombiniert werden kann: ganz und gar hin, ganz und gar gelungen, ganz und gar kaputt usw.
"Ganz und gar" ist folglich keine Erweiterung von "gar".


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 16.09.2005 um 06.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1752

Professor Jochems: Bei der Verteidigung der Dudenorthographie steht das Argument im Vordergrund, sie habe Bedeutungsdifferenzierungen gestattet ...

In ähnlicher Weise türmt Professor Jochems regelmäßig Argumente gegen die Duden-Rechtschreibung (vor der Reform) auf. Wozu eigentlich? Darf ich mal fragen: Wer von uns verteidigt überhaupt diese Duden-Festlegungen, nachdem wir ihre Schwächen, Widersprüche und Spitzfindigkeiten in aller Ausführlichkeit schon jahrelang thematisiert haben und nachdem wir den Unterschied zu einem sinnvollen Verständnis von Rechtschreibung (= Konsensschreibung, übliche Rechtschreibung, normale Schreibungen) längst ausführlich dargelegt haben?

Ich habe nämlich den Eindruck, daß Professor Jochems hier - jedenfalls im Rahmen dieses Forums - eine Phantomdebatte führt, weil hier niemand (oder wer soll das sein?) den alten Duden wiederhaben möchte - sondern wir plädieren für die früher übliche Rechtschreibung als die bei weitem bessere und vor allem für die Wiederherstellung der Einheitlichkeit als das eindeutig Bessere.

Um es mit Professor Jochems zu sagen: Wir führen Phantomdebatten, wenn wir unsere Kritik an Scheinproblemen festmachen. Ich halte es für ein Scheinproblem, daß der Duden mit seinen inkonsistenten Einzelwortregelungen früher spitzfindig war (das war in der Tat so), weil wir die inkonsistenten Einzelfestlegungen gar nicht wiederherstellen wollen. Deshalb könnten wir auch die Phantomdebatte über dieses Scheinproblem beenden.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 16.09.2005 um 09.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1753

Wir plädieren für die früher übliche Rechtschreibung als die bei weitem bessere und vor allem für die Wiederherstellung der Einheitlichkeit als das eindeutig Bessere. - die bessere vs. das Bessere: so verzwickt ist die deutsche Rechtschreibung, mit oder ohne Reform. Niemand wird sagen, daß damit niemand - früher oder heute - seine Schwierigkeiten hatte/hat. Wer sind im übrigen "wir", was ist die "übliche Rechtschreibung" (wenn der letzte Dudenstand vor 1996 nicht in Frage kommt) und was bedeutet "Wiederherstellung der Einheitlichkeit"? Und dann noch einmal: Ich halte es für ein Scheinproblem, daß der Duden mit seinen inkonsistenten Einzelwortregelungen früher spitzfindig war (das war in der Tat so), weil wir die inkonsistenten Einzelfestlegungen gar nicht wiederherstellen wollen. Das erinnert mich an den gegenwärtigen Sprachgebrauch unserer Politiker - Vorfahrt für Arbeit. Erst wenn es konkret würde, wüßte man, woran man ist.


Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 16.09.2005 um 13.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1756

Prof. Jochems gibt den Reformkritikern immer wieder zu bedenken, daß die alte Rechtschreibung auch nicht so toll war, wobei er allerdings auf ihre Darstellung im DUDEN abhebt. Prof. Ickler erinnert daran, daß die DUDEN-Norm nicht dasselbe war wie die tatsächlich praktizierte Orthographie. In der Tat ist es nicht nötig, die alte Rechtschreibung zu verklären wie ein verlorenes Paradies. Sie war schwierig, wurde in den Randbereichen von vielen nicht beherrscht, und ihre Kodifizierung führte zu den berüchtigten "Spitzfindigkeiten". Dies wurde von vielen so empfunden und ist nicht wegzudiskutieren. Insofern war der Ansatz der Reformer durchaus ehrenhaft und gutgemeint. Sie sind nicht einfach böswillige, leichtfertige Pfuscher gewesen. Wenn die Reform trotzdem ins Chaos geführt und den Schülern beim Erlernen höchstwahrscheinlich keine Erleichterungen gebracht hat (stichhaltige Analysen stehen noch aus), so sind die Gründe dafür inzwischen wohl genügend ventiliert worden. Ebenso sind sich die Kundigen darin einig, daß die Reform in weiten Teilen einen Rückschritt darstellt. Die Kernfrage ist doch: Warum findet die reformierte Orthographie eine so geringe Akzeptanz? Und das nach beinahe zehn Jahren! Warum kehrten große Tageszeitungen zur herkömmlichen Schreibung zurück? Warum schaffen es renommierte Schreiber bis heute nicht, einen längeren Text in fehlerfreier neuer Schreibung zu verfassen, während es ältere Texte ohne einen einzigen Fehler gibt? - Frau Pfeiffer-Stolz weist zu Recht noch einmal darauf hin, daß der Wörterbuch-Benutzer wissen will, wie man ein Wort schreibt. Er will eine klare Vorschrift finden. Wie diese zustande gekommen ist, interessiert in erst in zweiter Linie. Er will schreiben, "wie es üblich ist", und das Übliche muß zur Norm geronnen sein. Wörterbücher sind präskriptiv oder werden jedenfalls so verstanden.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 17.09.2005 um 11.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1770

Ich halte es für ein Scheinproblem, daß der Duden mit seinen inkonsistenten Einzelwortregelungen früher spitzfindig war (das war in der Tat so), weil wir die inkonsistenten Einzelfestlegungen gar nicht wiederherstellen wollen. Das erinnert mich an den gegenwärtigen Sprachgebrauch unserer Politiker - [i]Vorfahrt für Arbeit[/i]. Erst wenn es konkret würde, wüßte man, woran man ist.

Genau!

Lieber Herr Professor Jochems, das sehe ich genauso. Wie wäre der Vergleich mit dem bisherigen Steuersystem und dem Kirchhofschen Vorschlag, bei dem der Steuerbescheid in einen Glücksks paßt? Der kommt mir noch treffender vor. Das komplizierteste Steuersystem der Welt. Und plötzlich die Alternative: ein einfaches, solides, verständliches und zugleich viel gerechteres System (wie es anderswo schon erfolgreich praktiziert wird). Sogleich kommen die Reflexe: Da kann etwas nicht stimmen, das ist zu einfach, das muß irgendwie falsch sein! - Alle klagen über die grotesken Auswüchse der Regelungswut im Steuerrecht, aber kaum ist eine echte Lösung ernsthaft in Reichweite, klammert man sich an das Bisherige und mißtraut dem Befreiungsschlag mit aller Bockigkeit. Leider!

Ebenso könnte es der Kirchhofschen Rechtschreibung aus der Feder von Professor Ickler ergehen. Mea culpa: Ich selbst habe beim anfänglichen Lesen geradezu empört auf diese Fülle von Bögen reagiert, die da sämtliche Differenzierungen in Wohlgefallen aufzulösen schienen. Die Erkenntnis kam bei mir erst später: keineswegs nur, weil der Duden einfach viel zu kompliziert war. Sondern auch - das ist für mich der Hauptgrund meiner jetzigen vollen Zustimmung zur "Kirchhofschen Rechtschreibung" -, weil der Duden zugleich auch sehr unrealistisch war: weit von der Schreibwirklichkeit entfernt, in sich tausendfach inkonsequent, mit großen Lücken, unzähligen Schwächen und Fehlern. Selbst für Fachleute absolut unbeherrschbar. Ein Machwerk von trägen Schlampern - das ist mein heutiges Urteil. Deshalb bin ich nunmehr für Kirchhof.

In der Rechtschreibung haben wir, anders als im Steuerrecht, sogar den Vorteil, daß Differenzierungen ohne weiteres auf dem einfachen Modell aufbauen können, ohne daß dieses damit für den Normalgebrauch außer Kraft gesetzt werden müßte. Das ist zuletzt immmer wieder hier thematisiert worden - abgestufte Kompetenz, abgestufte Verbindlichkeit. Wo ist das Problem?

Somit verwundert mich nur noch die Behauptung - hier und da zu lesen, zum Beispiel kürzlich von Frau Pfeiffer-Stolz -, es gebe keine Alternative zum Duden, wenn man von der Reform abkehren möchte.

Auf meine Frage, wer denn nun den superkomplizierten Duden (gegen die Alternative Ickler) verteidigen möchte, hat konkret bisher keiner geantwortet - ich kann in unserem Kreis den Objektprogrammierer "Martell" und teilweise Frau Pfeiffer-Stolz als Kandidaten erkennen. Noch jemand?

Wichtiger ist aber, und da muß man Professor Jochems leider recht geben: Außerhalb unseres spezialisierten Kreises ist die Alternative noch wenig bekannt, und sie würde wegen ihres unverschämten Vereinfachungscharakters sicherlich mit reichlich Mißtrauen bedacht werden. Da wäre noch viel Überzeungsarbeit zu leisten. Und deshalb teile ich auch die zögernden bis pessimistischen Prognosen von Professor Jochems, unsere Erfolgschancen betreffend. Das ist aber kein Grund für mich, der Allgemeinheit mit ihren dummen Reflexen nachzulaufen, nur um die Distanz zu verringern.

Ich meine, man muß schon die eigene Position mit Überzeugung vertreten können und sollte das auch tun, solange es um die Frage geht, was die beste Lösung ist. Welche Kompromisse irgendwann vielleicht zwangsweise zu schließen sind, welche Niederlagen man vielleicht irgendwann zur Kenntnis nehmen muß, wird sich zeigen. Man muß und sollte sich ja nicht einmal mit dem unendlich komplizierten Steuersystem abfinden, nur weil es sich bisher vollständig durchgesetzt hat und volle Verbindlichkeit besitzt. Also müssen wir uns auch nicht mit der neuen Rechtschreibung abfinden, die sich bisher nur teilweise durchgesetzt hat, nicht ohne gewaltig an Autorität, Substanz und Verbindlichkeit einzubüßen.


Kommentar von Martell, verfaßt am 17.09.2005 um 21.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1775

Das erste Wörterbuch, das sich Martell kaufte, heißt Störig. Das zweite und letzte stammt von einem Autor, den keiner der Fachverkäufer kannte, als er das Buch vor einem Jahr in einer großen Buchhandlung seiner Stadt erwerben wollte (die Software, mit deren Hilfe das Teil dann doch gefunden werden konnte, erweckte übrigens den Eindruck, nicht objektorientiert programmiert worden zu sein). Da Martell darüber hinaus beabsichtigt, sein bisher dudenfreies Leben auch so zu Ende zu bringen, darf er sich also glaubwürdig dagegen wehren, hier als Dudenverteidiger mißverstanden zu werden.

Die Dudenautoren haben vielleicht den Fehler gemacht, nicht darauf hingewiesen zu haben, daß alle Schreibweisen und auch scheinbare Widersprüchlichkeiten begründbar sind, daß aber diese Begründungen zu viele Bände füllen würden, als daß....

Ich vermute nämlich in der jahrzehntelangen Arbeit der Dudenredaktion u.a. eine große Sorgfalt, die zu erkennen sich dem Leser entzieht. Die Vorwürfe der Spitzfindigkeit geraten daher – zumindest aus meiner kenntnislosen Sicht – sehr schnell in den Verdacht nicht hinreichender eigener Sorgfalt der Kritiker bei der Darstellung der Randbereiche.


Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 18.09.2005 um 09.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1780

Sehr geehrter Martell,

ich danke Ihnen für diese aufrichtige und erhellende Klarstellung: Sie führen ein dudenfreies Leben - wozu ich Sie beglückwünsche, besonders aus der Perspektive eines Korrektors - und nennen Ihre eigene Sicht der Dudenkritik "kenntnislos". Sie wärmen dann zwar Ihre eigene Verteidigung des Duden doch noch einmal auf ("große Sorgfalt"), von der Sie sich zuvor angeblich "glaubwürdig" distanzierten. Aber Sie fügen wiederum dazu, daß es sich bei der unterstellten Sorgfalt des Duden um eine Vermutung Ihrerseits handelt.

Zur Sache selbst: Ein kompliziertes Ergebnis sieht für manche Leute automatisch nach Sorgfalt aus, es kann aber auch genau das Gegenteil zutreffen: Schlamperei, Gedankenlosigkeit. Oder eben zwanghafte Spitzfindigkeit, Pedanterie. Ich frage mich hier, warum Sie mit einer pauschalen Vermutung arbeiten, anstatt sich die Ausführungen zu Herzen zu nehmen, die auf diesen Seiten die Problematik der Duden-Darstellung entfaltet haben. Zuletzt hat sich Professor Jochems viel Mühe gegen, zahlreiche Beispiele anzuführen und zu erläutern.

Ich führe ein weiteres an, eines von tausend. Im Duden stand, der Ausdruck dahin gehend sei getrennt zu schreiben, zum Beispiel: Ich habe ihn dahin gehend beraten, daß .... In Wirklichkeit schrieb das fast jeder intuitiv zusammen: Ich habe ihn dahingehend beraten, daß .... Die völlig einwandfreie Zusammenschreibung lag mit über 90 Prozent vorne, einschließlich professioneller Texte. Das kann man heute noch mit Google sehr gut nachvollziehen, weil sich weder die "Regel" noch der Schreibgebrauch geändert hat. Nun, was für eine unerkannte Sorgfalt der Dudenredaktion soll es sein, die sie dazu brachte, nicht die normale Schreibung anzuführen, sondern ausgerechnet die Getrenntschreibung? (Ich habe hierzu meine eigene Theorie, aber das spielt hier keine Rolle.)

Ihre Formulierungen machen bei mir den Eindruck, Sie hätten die Phänomene an sich verstanden, aber noch nicht den naheliegenden Schluß daraus gezogen.

Sie schreiben: Die Vorwürfe der Spitzfindigkeit geraten daher ... sehr schnell in den Verdacht nicht hinreichender eigener Sorgfalt der Kritiker bei der Darstellung der Randbereiche. Dabei entkräften Sie diesen Verdacht selbst, nur einen Absatz weiter oben, mit dem Argument: ... daß alle Schreibweisen und auch scheinbare Widersprüchlichkeiten begründbar sind, daß aber diese Begründungen zu viele Bände füllen würden, als daß ...

Ja, warum bricht hier plötzlich die Schlußfolgerung ab? Fahren Sie doch einfach fort: ... als daß es möglich wäre, sie im Wörterverzeichnis zur Geltung zu bringen, ohne ein absolut unüberschaubares, unzumutbares Gesamtergebnis zu erhalten.

Dann haben Sie den Grund, warum der Duden in großen Bereichen scheitern mußte und nebenbei die Reform auf den Plan rief; und warum Professor Ickler eine neue Darstellung ausgearbeitet hat.


Kommentar von Martell, verfaßt am 18.09.2005 um 16.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1785

als daß es möglich wäre, sie im Wörterverzeichnis zur Geltung zu bringen, ohne ein absolut unüberschaubares, unzumutbares Gesamtergebnis zu erhalten.

Dann haben Sie den Grund, warum der Duden in großen Bereichen scheitern mußte und nebenbei die Reform auf den Plan rief; und warum Professor Ickler eine neue Darstellung ausgearbeitet hat.


Was ich gestern auch erst schreiben wollte, aber dann doch wieder gelöscht hatte, stellte die Quantität der Dudenarbeit dem Arbeitsaufwand Theodor Icklers gegenüber. Außerdem wollte ich die Vermutung äußern, die Dudenautoren hätten vielleicht noch einen weiteren Fehler begangen, indem sie es unterließen, darauf hinzuweisen, daß vieles von dem, was sie darstellten, eigentlich nicht einheitlich darstellbar sei.

Verzichtete der Duden eigentlich früher auf Alternativschreibungen? Es würde manches erklären. Der Geniestreich Theodor Icklers würde dann v.a. darin bestehen, die richtige Stelle gefunden zu haben, an der er sein Rasiermesser ansetzen durfe. Aber erneut muß ich mich mit Unkenntnis schützen: Ich kann tatsächlich nicht beurteilen, wie viel originäre Fachkönnerschaft in Icklers Darstellung der bewährten Darstellung steckt. Aber vielleicht ist ja auch in dem Fall das Geniale immer zugleich auch das Einfache.


Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.09.2005 um 05.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1786

Nur die Lumpe sind bescheiden, aber es würde die Diskussion sicher erleichtern, wenn meine so naheliegende Idee der empirischen Darstellung des Schreibbrauchs am konkreten Ergebnis gemessen würde. Sind wir uns einig, daß "richtig schreiben" dasselbe heißt wie "schreiben, wie es üblich ist"? Dann können wir ernsthaft darüber reden, was üblich ist und ob es anders als in meinem Wörterbuch dargestellt werden könnte oder sollte.
Folgendes wäre mir noch wichtig: Viele Menschen haben Angst, daß bei einer Entmachtung des Dudens und jeder anderen Normierungsinstanz das Rechtschreibchaos ausbrechen würde. Sie glauben irrigerweise, daß nur der Duden die Einheitsorthographie verbürgt habe. So ist es aber nicht. Die Leute haben sich keineswegs sklavisch an den Duden gehalten, sondern nur dort, wo er mit dem ohnehin Üblichen übereinstimmte.
Außerdem ist bei der Ermittlung des Usus darauf zu achten, daß man die richtigen Texte zugrunde legt. Wer eine "öffentliche" Textsorte zu fabrizieren unternimmt, hält sich an die dort üblichen Gepflogenheiten. Das gilt ja auch für die Wortwahl usw. So muß es dann auch der Wörterbuchverfasser halten.


Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 19.09.2005 um 18.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=330#1787

Th. Ickler: Die Leute haben sich keineswegs sklavisch an den Duden gehalten, sondern nur dort, wo er mit dem ohnehin Üblichen übereinstimmte.

Vielleicht liegt das ja daran, daß man nur dann im Wörterbuch nachschlägt, wenn man sich unsicher ist. Dann ist es möglich, daß man etwas in voller Gewißheit, daß es so richtig ist, schreibt, was aber im Duden anders verzeichnet ist – und merkt es deshalb nicht.



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