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Martin String
Fräulein von Scuderi, neu gewandet
Hoffmann, Reclam und die amtliche Rechtschreibung

»Text in neuer Rechtschreibung«, so steht es auf der Rückseite des gelben Heftchens. Was ihnen bei Günter Grass, Siegfried Lenz und anderen verwehrt ist, das tun die Vollstrecker der sogenannten Rechtschreibreform mit denen, die sich nicht mehr wehren können: sie schreiben ihre Texte um. So geschieht es E. T. A. Hoffmann mit seiner Erzählung »Das Fräulein von Scuderi«, die in Reclams Universal-Bibliothek als »Durchgesehene Ausgabe 2002« neu erschienen ist.

Schon in früheren Ausgaben der Erzählung in der seit über hundert Jahren erscheinenden Reihe waren gegenüber dem Erstdruck von 1819 zahlreiche orthographische Änderungen vorgenommen worden. Dem neueren Usus angepaßt wurden unter anderem die Schreibweisen Thür, Thräne, Muth, Abentheuer, thun, bethören, werth, Gefängniß, Goldschmidt, Spuck, todt, gieb, erwiedern, sey. Das Gewicht orthographischer Veränderungen ist jedoch von Fall zu Fall sehr unterschiedlich (ob z. B. es thut mir leid ohne h oder mit großem L geschrieben wird). Schon deshalb lohnt es sich, die Neubearbeitung etwas genauer anzusehen.

Auf S. 2 findet sich die Bemerkung, die Redaktion des Textes sei »auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln« erfolgt. Das klingt schon ein bißchen vorsichtiger als das oben zitierte Losungswort, welches offenbar den Zugang zu den Schulen ermöglichen soll. Genaueres liest man dann auf S. 77: »Die Orthographie wurde auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln behutsam modernisiert; der originale Lautstand und grammatische Eigenheiten blieben gewahrt. Die Interpunktion folgt der Druckvorlage.« Druckvorlage ist der dritte Band der Serapions-Brüder, den Georg Reimer im Oktober 1820 herausbrachte, etwa ein Jahr nach der Erstveröffentlichung im Taschenbuch für das Jahr 1820.

Die weitgehende Beibehaltung der originalen, dem lebendigen Erzählton entsprechenden Interpunktion ist von jeher üblich. Ebenso üblich ist es, die in der Erstausgabe spärlich und nicht konsequent gesetzten Anführungszeichen zu ergänzen. Hier geht man nun über frühere Ausgaben hinaus und folgt der Neuregelung (§ 72 E 1): ». . . Degrais!«, schrie ich – »was geht hier vor?«, ruft sie. Das Wesen der Pedanterie war dem preußischen Beamten Hoffmann wohlbekannt. Wenden wir uns Wichtigerem zu: auseinander schlug, auseinander faltend, auseinander stäubt, auseinander rollten – gleich viermal wird reformgemäß auseinander vom Verb getrennt. In der Vorlage von 1820 ist die Schreibung uneinheitlich. Daran läßt sich ablesen, daß damals die Entwicklung von der Getrennt- zur Zusammenschreibung im Gange war. Ähnlich im Falle von Recht haben – so Reclam. Hoffmann schrieb an einer Stelle klein, an der zweiten groß. Auch hier ist eine unabgeschlossene Entwicklung – nämlich die von der älteren Groß- zur modernen Kleinschreibung – zu greifen.

Gegen das Original gehen die folgenden Großschreibungen, obwohl nur die erste von der Neuregelung obligatorisch gefordert wird: nicht das Mindeste, aufs Neue, auf das Wehmütigste / Tiefste / Genaueste / Bitterste / Rührendste. Andererseits werden reformgemäß auch Schreibweisen des Originals wiederhergestellt: so gestern Abend, heute Morgen. Aber Hoffmann schrieb auch neun Uhr Abends, was nur folgerichtig ist; denn warum soll jetzt ein Adverb aus dem Genitiv klein, eines aus dem Akkusativ dagegen groß geschrieben werden? Ganz konsequent auch Hoffmanns Schreibungen: ein paarmal, ein andermal, mit einemmal, zum zweitenmal. Reclam 2002 dagegen: ein paar Mal, ein andermal, mit einem Mal, zum zweiten Mal. Die von den Reformern als Nebenvariante (»bei besonderer Betonung«) eingeführte Schreibung ein paar Mal verbietet sich, da der Plural von Mal Male ist. Hoffmanns Orthographie von 1820 ist auch hier nicht nur moderner, sondern auch richtiger als die Rechtschreibung der Kultusminister.

Das bisher Gesagte muß den Eindruck erwecken, die Neuausgabe bemühe sich durchweg, den Bestimmungen der Rechtschreibreform zu entsprechen – und natürlich ist die »neue« Verteilung von ss und ß, als ihr Hauptmerkmal, überall angenommen. Gleichzeitig aber werden Teile der Neuregelung mißachtet. Es handelt sich um folgende Fälle: Greuel, Greueltaten, greulich (statt Gräuel, Gräueltaten, gräulich); behende (statt behände); der Untenstehende (statt unten Stehende – Zusammenschreibung ist hier erlaubt); hellaufstrahlend (statt hell aufstrahlend); tiefliegende Augen (statt tief liegende); die sogenannte Chambre ardente (statt so genannte); eine Handvoll Louis (statt eine Hand voll); so tue es ihm leid (statt Leid). Hier wird mit Hoffmanns Schreibweise zugleich die bisherige Rechtschreibung beibehalten. Es kann auch kaum bezweifelt werden, daß die Lektoren des Verlags gut daran taten. Aber kein Wort davon in ihren Anmerkungen auf Seite 77; hier heißt es nur: »Der originale Lautstand und grammatische Eigenheiten blieben gewahrt«. Schreibungen wie greulich und behende lassen sich jedoch anders als Hülfe (das frühere Reclam-Ausgaben zu Hilfe normalisierten) keinesfalls mit der Bewahrung des Lautstands rechtfertigen, und bei den Schreibweisen sogenannt, tiefliegend, Handvoll usw. handelt es sich auch nicht um »grammatische Eigenheiten« des Autors. Gleiches gilt für die Tatsache, daß Hoffmann leid in so tue es ihm leid nicht als Substantiv verstanden hat. Seine Auffassung war selbstverständlich ganz richtig. Die Rechtschreibreformer von heute aber glauben, wie aus ihrem Geheimbericht vom Dezember 2001 hervorgeht, die Sprachgemeinschaft umstandslos an die abwegige »substantivische Interpretation« des Wortes zu gewöhnt zu haben.

Warum wird die schlichte Wahrheit, daß Hoffmanns Schreibweisen denen der Reform überlegen sind, nicht ausgesprochen? Es ist löblich, daß sie vom Reclam-Verlag zum Teil bewahrt worden sind. Bedenklich stimmt allerdings, daß sie nur getarnt die staatliche Kontrolle passieren können. »Das Festhalten an einem mißlungenen Reformversuch gegen den entschiedenen Willen der Bevölkerung nimmt – auch wenn dies nicht die Absicht der Verantwortlichen war – doktrinäre Gestalt an und widerspricht unserer mühsam erlernten demokratischen Verhaltensweise«, schrieb Günter Grass im August 2000. In der Tat entwickeln sich hier Verhaltensweisen, die aus diktatorisch regierten Staaten hinlänglich bekannt sind: Wer mit der offiziellen Linie in Konflikt gerät, muß dies zu verbergen suchen, indem er der Obrigkeit seine Reverenz erweist. So zu handeln sieht sich in dieser Republik selbst ein angesehener Verlag wie Reclam gezwungen, wenn er es wagt, sich einer staatlichen Anordnung in geringem Umfang zu widersetzen.

E. T. A. Hoffmann Jahrbuch 12 (2004), S. 146–48

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