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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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08.03.2007
 

Stolpersteine
Das Lesen macht keine Freude mehr

Die Süddeutsche Zeitung fand kürzlich, daß ein Kondom "Lust tötend ist". Im Arte-Programmheft stand: "Alvah Crocker hatte eine Bahn brechende Vision."
Das Lehrbuch "Psycholinguistik" von Rainer Dietrich (Metzler 2002) enthält durchschnittlich einen Rechtschreibfehler pro reformierter Seite, z. B. diesen: "das komplexe Prozesse mehr Zeit kosten". Im Geographie-Schulbuch "Fundamente" (Klett 2003), das überhaupt in einer schwerverständlichen und irgendwie seltsamen Sprache abgefaßt ist, lernen die Gymnasiasten: "Tausende verloren ihr zu Hause."

All dies haben die Reformer nicht gewollt, aber es ist ihnen trotzdem zuzurechnen.



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Kommentare zu »Stolpersteine«
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Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 08.03.2007 um 15.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=801#7923

Durch keine Reform der Reform der Reform kann beseitigt werden, was wir Kollateralschäden nennen. Da die künstlichen Regeln nun einmal gegen jedes Sprachgefühl verordnet worden sind, bleibt jedes Bemühen der braven Orthographie-Untertanen um Erfüllung der verordneten Änderungen vergeblich. Es geht nicht! Gehorsam ist reichlich vorhanden, der Wille auch, doch was hilft es, wenn das Verordnete eben einfach inkonsistent ist und keinen Halt hat, wie ein viereckiger Hut auf einem dreieckigen Schädel. So wie das Wasser niemals durch eine Verordnung eines Ministeriums aufwärts fließen wird, kann auch die Reform nicht Fuß fassen, da mögen unsere Volksverdummer - äh Volkserzieher - reihenweise kopfstehen.

Und der Ausweg?
Es gibt eine schlichte Möglichkeit, der Sprache wieder zum einheitlichen Fluß zu verhelfen: die klassische oder herkömmliche Rechtschreibung muß an den Schulen wieder als gleichrangig zugelassen werden! Dann kann sich ohne Aufregung selbst herausbilden, was gut ist. Man könnte den Streit beilegen. Es werden sicherlich einige Brocken der Reformschreibung überleben - das wenige, was sinnvoll ist, und das ist in Ordnung. Aber der ganze andere Unsinn wird nach und nach verschwinden - auch die ss-Schreibung würde es schwer haben.

Die Rückkehr zu einer einheitlichen Orthographie kann gelingen, wenn etwas Festes und Verläßliches im Mittelpunkt des Handelns und Denkens steht, nach dem sich jeder richten kann. Und wenn man das Gefühl hat, daß nicht alles erlaubt ist und ohnehin keiner Bescheid weiß. Dieses "Feste und Verläßliche" ist - der Teufel soll's holen - eben NICHT die Reform-Reform-Reform-Rechtschreibung!
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 08.03.2007 um 19.07 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=801#7924

Oder auch:
All das haben die Reformer vielleicht nicht gewollt, aber es ist ihnen - dank besonders bedarfter Helfershelfer - trotzdem gelungen.

Der Begriff der Verantwortung ist heutzutage politisch nicht mehr korrekt, weil reflexionsloses und wertungsenthobenes Machen (die "Kreativität") obenan steht.
 
 

Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 09.03.2007 um 09.47 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=801#7925

Danke

Heute früh war bei mir die heutige Rhein-Neckar-Zeitung ("Mens agitat molem" - steht unterhalb des Titels: Was das bedeuten soll, wissen selbst die nicht mehr unbedingt, die ganz oben in der Hierarchie der Zeitung stehen) eingeworfen worden - wahrscheinlich eine Werbemaßnahme.

Auf der zweiten Seite wird in einem Namensbeitrag die Bundeskanzlerin zitiert: Die Windkraft-Industrie sei ein wichtiger Pfeiler des deutschen Anlagenbaus geworden, der Metallbau in Magdeburg lebe Dank dieser Branche.

Auch das haben unsere Reformer natürlich nicht gewollt, und die Gründungsherausgeber der Zeitung - darunter Thedor Heuss - hätten sich einen solchen Fehler allenfalls als peinliches Versehen vorstellen können (und kaum das). Es ist aber wahrscheinlich so wenig Versehen wie wirklich beabsichtigt, sondern es ist einfach passiert - als Ausdruck der durch die Reform induzierten Verunsicherung: Soviel Substantiv wie Abend in "heute Abend" ist doch Dank allemal! Danke!
 
 

Kommentar von MB, verfaßt am 09.03.2007 um 11.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=801#7926

In der heutigen deutschen Orthographie herrschen irakische Zustände. Doch das tagtägliche Chaos verursacht nur noch wenigen Schmerzen. Für die meisten Deutschen ist das Thema weit, weit weg.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 09.03.2007 um 14.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=801#7927

Der Mensch agitiert den Maulwurf. Auch die Schreibung ist Schuld findet man keineswegs nur auf den Homepages von 14jährigen. Zum Beispiel Computerwoche:
„Steve Jobs: Die Musikindustrie ist Schuld am DRM“
http://www.computerwoche.de/nachrichten/587598/
 
 

Kommentar von Adelung, verfaßt am 09.03.2007 um 17.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=801#7928

Nun, in der heutigen Zeit braucht man sich auch nicht wundern, wenn man in überhöhtem Maße Deppenapostrophe antrifft, z. B. bei "link's abbiegen", "Deutschland's Wirtschaftskraft" oder "seitwärt's".

Noch beliebter ist der Bindestrich (heute wohl eher: Binde-Strich), z. B. bei "Ferien-Tag", "Deutschland-weit", "Russland-freundlich" oder "Benimm-Unterricht".

Jedoch scheint auch dieser kleine Stilteufel langsam zu verschwinden – heute benutzt man nämlich oftmals nicht einmal mehr den Bindestrich, sondern läßt diese "dumme konßervatife Zusammen Schreibung" gleich sein. Da begegnen einen plötzlich Stilblüten wie "Auto Wasch Anlage", "Putz Kraft" und "Meer Enge", das nicht im geringsten als Wortspiel gedacht ist, sondern schlichtweg die Deppenschreibung für "Meerenge" darstellt.

Mit der Orthographie ist es in deutschen Landen tatsächlich nicht mehr weit bestellt.

Nicht zuletzt sind dafür auch der fehlende Rechtschreibunterricht an den Schulen (in Bayern werden nur noch Aufsätze geschrieben, Rechtschreibung steht kaum mehr auf dem Lehrplan) und die gesellschaftliche Tolerierung grober Orthographiefehler verantwortlich. Wenigstens den ersten Punkt könnte man ändern, wenn man anständige Leute an der Macht hätte - den Konjunktiv benutze ich bewußt.
 
 

Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 10.03.2007 um 13.30 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=801#7938

Ist das, lieber Herr Markner, wirklich eine gute Übertragung des RNZ-Leitspruchs? (Sollten Zweifel an Ihren Kenntnissen des Vulgärgriechischen möglich sein?)
Ist das – zugegebenermaßen etwas freie – "Monatlich wackelt die Mole" nicht letztlich etwas näher am Text?
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 11.03.2007 um 19.41 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=801#7955

Wolfgang Scheuermann verunsichert sicher nicht nur mich mit seinen in Klammern angebrachten Zweifeln an Reinhard Markners Kenntnissen des Vulgärgriechischen gelegentlich des kaum edler Einfalt und stiller Größe verdächtigen Satzes "Mens agitat molem". Vielleicht ist der inkrimierte Satz gar ein Stück Altindisch?
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 13.03.2007 um 17.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=801#7998

Ich weiß nicht, welchen Status *jetzt.de* bei der SZ hat, aber das Lesen da (http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/370056) macht ganz bestimmt keine Freude.
Also: jetzt.de, franziska-igner da und wohl doch irgendwie SZ-abgesegnet:
"nachdem ich [...] Hannes kennen lernte"
(aber später dann doch "je näher ich sie kennenlernte")
"offen zuhalten"
"in etwas richtig zweigleisiges hineinschlittern"
Und wenn's nicht SZ-abgesegnet sein sollte, zeigt's doch, wie's junge Leute tun.
 
 

Kommentar von Stefan Stirnemann, verfaßt am 14.03.2007 um 12.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=801#8012

Mens agitat molem

Für solche Fälle schaut man am besten in Hubertus Kudlas "Lexikon der lateinischen Zitate" (Verlag C.H. Beck, 1999): Nr. 716, Vergil, Aeneis 6,727.
"Der Geist bewegt die Materie. Beim Gang durch die Unterwelt erklärt Anchises seinem Sohn Aeneas: Beseelend nährt Himmel und Erde ein Lebenshauch (spiritus) und die Materie bewegt der Weltgeist, dem alle lebenden Wesen entspringen. Vergil folgt hier der stoischen Lehre."

Zu Übersetzungsfragen, die sich hier stellen, habe ich eine Abhandlung verfaßt: "Heilige Emelia, sollen wir wirklich Barabbas zupfen? Oh!" (Schweizer Monatshefte 1/2, 2007)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.03.2007 um 16.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=801#8014

Darf ich hier aus einem meiner Lieblingsbücher zitieren? "Das Übersetzen (aus dem Lateinischen) führt den Durchschnitt der Schüler zu einer seelenruhigen Annahme des Absurden." Das führt Jules Marouzeau (Das Latein, München 1969, S. 162) allerdings auch schon auf einen ungenannten Latinisten zurück. Lustige Sammlungen solcher Absurditäten gibt es auf diversen Internetseiten.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 14.03.2007 um 18.57 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=801#8015

Nicht ganz sicher dürfte trotz allem sein, ob "mens" und "spiritus" voll synonym sind. Also doch "Spiritus agitat molem"? - Plus ratio quam vis.
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 20.03.2007 um 08.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=801#8055

http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/371338:
"Wir haben gemerkt, dass eine Überinformation statt findet — und wir, unsere Generation, ein Problem hat, selber eine eigene Meinung zu bilden." Das finde ich auch! Aber neue Adverbien findet sie wenigstens.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.10.2016 um 04.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=801#33492

Wenn der Kompass kopf steht (Titel in FAS 9.10.16)
1996: Kopf stehen
2016: kopfstehen

Wer kann immer genau sagen, was gerade der Stand der Zehetmair-Eisenbergschen Neuschreibung ist? Zumal immer damit gerechnet werden muß, daß grammatisch Richtiges verboten, Falsches vorgeschrieben ist.
 
 

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