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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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25.02.2007
 

Lose Reden
Bemerkungen über das Vergleichen

Auf Bischox Mixas deftiges Wort von den „Gebärmaschinen“ (gegen die Gebärmaschine Ursula von der Leyen gerichtet) antwortete Kurt Beck mit einem Witz, in dem ein kastrierter Kater vorkommt. Hat er nun Mixa mit einem kastrierten Kater verglichen, wie die Medien titeln?
Manchmal paßt auf Politiker eine Äsopsche Fabel, z. B. vom Frosch und der Maus. Vergleicht man dann den Politiker mit einer Maus oder einem Frosch? Doch wohl nicht, denn es ist die Geschichte, nicht der Frosch, die einen Vergleich nahelegt. In Berlin kam ein Lehrer in Schwierigkeiten, weil er Hitler mit Stalin verglichen hatte, was in den Augen der Regierung Wowereit eine Verharmlosung darstellte. Väterchen Stalin war bekanntlich ein herzensguter Mensch. Ich hielt und halte die Rechtschreibreform für ein menschenverachtendes Massenexperiment. Das soll ich aber nicht sagen dürfen, weil ich damit die RSR mit den Nazigreueln gleichsetze. Außer den Nazis scheint niemand menschenverachtend gehandelt zu haben, es ist ein richtiges Monopol. Als ich andeutete, daß man Hitler meiner Ansicht nach noch zuviel Ehre antut, wenn man ihn als Experimentator einschätzt, wollte Zabel mich am liebsten disziplinarisch zur Verantwortung gezogen wissen.
Hans-Martin Gauger hat vor längerer Zeit klargestellt, daß Vergleichen nicht dasselbe ist wie Gleichsetzen. Vergeblich! Die Reizbarkeit ist so groß, daß jederzeit dieser fruchtlose Streit um Wörter losbrechen kann, und irgendeiner sichert sich dabei immer einen kleinen Vorteil.



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Kommentare zu »Lose Reden«
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Kommentar von Hans-Jürgen Martin, verfaßt am 25.02.2007 um 19.37 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7840

Die heutzutage so oft zitierte "politische Korrektheit" ist der moderne, scheindemokratische Feind der Meinungsfreiheit: Was früher oft plump verboten war, gilt heute mit Verweis auf die vermeintliche allgemeine Stimmung als "unkorrekt", geradezu "unsagbar". Allerdings klingt das sehr nach "gesundem Volksempfinden", und das ist ja so neu nicht.
Als nicht korrekt gilt z.B. der Hinweis auf die Verwandtschaft der zwangsreformierten Schulschreibung mit der Schreibreform der 40er Jahre: Daß sich identische totalitäre Überzeugungen in unterschiedlichen menschenverachtenden Handlungen äußern können, darf schon nicht thematisiert werden, wenn das die Überzeugungstäter entlarven könnte. Wenn dann gar die Formulierungen der Reformen damals und heute und selbst die Methoden ihrer Durchsetzung austauschbar sind, hilft nur noch das sanktionsbewehrte Verbot jedes "Vergleichs".
"Daß Vergleichen nicht dasselbe ist wie Gleichsetzen" (Hans-Martin Gauger), ist eigentlich völlig klar, wird aber gerne von denen bestritten, die eine (ihre) Meinung verabsolutieren wollen. "Das kann man nicht vergleichen" ist geradezu ein geflügeltes Wort geworden für den - oft genug erfolgreichen - Versuch, andere Auffassungen zu diskreditieren und Sachverhalte nicht im gebührenden Kontext erscheinen zu lassen. Mich hat dieser dumme Spruch immer schon geärgert. Natürlich kann man alles vergleichen, selbst Äpfel mit Birnen: Der Vergleich ergibt nämlich, daß die einen ziemlich rund und oft rot, die anderen aber eher länglich mit einem dickeren Ende und blaß sind ...
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 25.02.2007 um 20.19 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7841

Auch bei diesem Streit um die "Gebärmaschinen", ist es wieder die falsche Absolutheit, mit der Behauptungen so oft aufgestellt werden.
Mixa kritisiert, es ginge den Politikern darum, daß junge Mütter ihre Kinder schon kurz nach der Geburt in staatliche Fremdbetreuung geben. Das stimmt doch so gar nicht. Es geht um eine Betreuungshilfe von einigen Stunden, max. vielleicht 8 bis 10 Stunden an Arbeitstagen. Damit spielt sich weiterhin der Hauptteil der Erziehung in der Familie ab, auch wenn Mütter und Väter ihrem Beruf nachgehen.
Ich glaube, die meisten Frauen sehen es wohl genau umgekehrt wie der Bischof. Gerade wenn sie zu Hause bleiben und nur für Kinder und Küche zuständig sind, fühlen sie sich als "Gebär- und Haushaltsmaschine".

Aber um beim Sprachlichen zu bleiben: was mich außerdem an vielen Streits stört, ist die Art und Weise, wie argumentiert wird. Auch in Bezug auf die Rechtschreibreform war das sehr oft so.
Person A begründet ihre Behauptung mit A1.
Person B widerspricht mit der Begründung B1.
A besteht auf seiner Behauptung, weil außerdem noch A2 gelte.
Darauf "kontert" B seinerseits mit B2.
Dann wird wieder A mit A3 erhärtet und B mit B3, usw.

Bei so einer Diskussion könnte mir immer der Kragen platzen. Hört denn da keiner auf den anderen? Reden alle aneinander vorbei? Sowas sind auch lose Reden. Ein vernünftiger Streit kann doch nur so aussehen:
A behauptet A1.
B sagt entweder, A1 trifft nicht zu weil ..., aber es gilt B1,
oder B sagt, A1 ist zwar richtig, aber B2 ist schwerwiegender als A1, deshalb ist mein Weg besser.
Darauf A: B1 ist nicht richtig, weil ..., aber es gilt A2!
Oder A sagt, B1 mag schon sein, aber A2 ist viel wichtiger.
Und so weiter.
Man sollte jedem Diskussionspartner, der nicht als erstes mit dem Argument des Gegners beginnt, sofort das Wort entziehen.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 25.02.2007 um 22.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7844

Vergleichen macht Spaß.

Ich vergleiche einfach mal die Rechtschreibreformer mit ein paar Mikroorganismen, denen es listenreich gelingt, in einen vergleichsweise riesigen gesunden Körper einzudringen, ihre eigennützige Information in allen Geweben zu vervielfältigen und schließlich den Körper chronisch krank zu machen. Die Politiker vergleiche ich mit Kurpfuschern, die behaupten, diese Krankheit sei zwar sehr lästig, es sei aber verwerflich, etwas gegen sie zu unternehmen, sobald sie einmal im Körper angelangt sei, denn der habe schon angefangen, sich auf sie einzustellen. Die Journalisten vergleiche ich mit Angehörigen, die die Bitten des Kranken um ärzlichen Beistand in den Wind schlagen. Dem Rat der Kurpfuscher folgend, stecken sie sich selbst mit der Krankheit an und versuchen, die Krankheit durch tägliche Wiederinfektion auf den Patienten zu übertragen. Die Immunabwehr des Patienten ist zwar tapfer, insgesamt aber doch von der Übermacht der regelmäßigen Reinfektion überfordert.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 26.02.2007 um 06.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7845

Im Vergleichen liegt der Beginn des Denkens. Erst durch Vergleichen werden Unterschiede sichtbar und können begrifflich gefaßt und dargestellt werden. Die Erkenntnis der Verschiedenheit wiederum erzwingt Urteile über Qualität und Sinnhaftigkeit der verglichenen Tatbestände.
Kein Wunder, daß Machthabende und Zeitgeistaufsichtsbeamte keine Freude haben, wenn jemand mit dem Vergleichen bzw. Denken beginnt. Auch in der Schule ist das Vergleichen unerwünscht, seit Jahrzehnten eine Eiterbeule der Pädagogik. Denn ohne Vergleichsmöglichkeit ist jeder Wettbewerb unmöglich, und ohne Wettbewerb ist das in staatlichen Schulen als Massenveranstaltung organisierte "Lernen" letztlich sinnlos.
"Rechtschreibreform": Ein Vergleichen ist den jungen Menschen nur noch unter erschwerten Bedingungen möglich, da sie mit der Trümmerorthographie aufwachsen und nichts Besseres kennengelernt haben. Trotzdem bin ich sehr sicher, daß ein Umdenken stattfinden wird. Zuerst müssen die alten Kader vom Machthebel verschwinden. Das kann sich allerdings noch lange hinziehen.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 26.02.2007 um 15.41 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7848

Alles Vergleichen (in Rede und auch sonst) bleibt gegenstandslos, solange nicht akzeptiert ist, daß man dazu in der gegebenen Welt mindestens zween Dinge haben muß (also nicht nur einen Storch, sondern seine beiden Beine). Secundo: Man kann im Prinzip in jeder – auch noch so an den Haaren herbeigezogenen – Dimension etwa Fixsterne und Maulwürfe in einer zu bestimmenden Dimension (es gibt deren mindestens acht Klassen) vergleichen, aber um Gottes willen nicht Mentales mit Realem. Bleibt also nicht die Frage nach der Ausführbarkeit des Vergleichs, denn der menschliche Verstand ist mindestens weitläufig, sondern die nach der Vernunft des jeweiligen Vergleichsunternehmens. Den Anreiz, diese Frage zu stellen, gibt jeder durchschnittliche (also auch linguistische) Text.
 
 

Kommentar von Rheinischer Merkur, verfaßt am 26.02.2007 um 15.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7849

"Warum fragt niemand die Flussseeschwalbe?" – Überschrift eines Kommentars im Rheinischen Merkur (allerdings nicht zur neueren deutschen Orthographie). Im direkten Vergleich mit der traditionellen Schreibweise "Flußseeschwalbe" fällt jedem Menschen sofort auf, wie hoffnungslos unterlegen die ach so moderne ss-Schreibung ist.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 26.02.2007 um 19.41 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7851

Von der DDR lernen

Einer wichtigen Telefonistin in dem teildeutschen Ländchen wurde eine eigene Akademie der Wissenschaften eingerichtet, und zwar die "Akademie der pädadogischen Wissenschaften der DDR". Die "Akademie der Wissenschaften der DDR" atmete beglückt auf. Im Fernsehen desselben Ländchens gab es auch "Wissenschaft für Pädagogen", weil das etwas völlig anderes war (oder ist?). Pädogogen im schulischen Bereich sind Leute ohne jede dem Fachunterricht genügende fachliche Bildung in irgendeinem Fach, die permanent den mindestens in einem meist in zwei und mehr Fächern solides Wissen und der Vedrmittlungswissen besitzenden Lehrern ohne jede Fachkenntnis hineinreden. Also produzieren sie seit Jahrzehnten nichts anderes als "Eiterbeulen" (Karin Pfeiffer-Stolz #7845), was anhand ihrer Texte in Breite und Gänze belegbar wäre, aber wegen politischer Korrektheit und so nicht getan wird.

Man lese nur die Texte eines Kasseler Muttersprachdidaktikers, der unter der Hand zum DaF-Didaktiker metamorphierte. Diesem scheint bis heute, daß die Grammatik(schreibung) linear ist und die Fremdsprachendidaktik diesem Primitivismus zu begegnen habe. Er ist somit Pädagoge in DaF, der zudem z.B. meint, das Deutsche sei in dem und jenem schwierig (das Schwierige also später, z.B. das Finitum), unabhängig von welcher Ausgangssprache auch immer. Nach drei Seiten solcher unter DaF-Didaktik gehandelter pädagogischer Ergüsse, sollte man das Lesen beenden, um den Rest seines Verstandes zu wahren.

So frage man nicht den Fachlehrer, sondern eben den allen zeigefingernden Rundum-Pädagogen, worin ein Vergleich besteht, wozu man ihn (didaktisch) einführt, wie er beschaffen ist, welche Voraussetzungen er erfüllen muß, in welchen Dimensionen ihn vorzunehmen sinnvoll ist, welche Dimensionen (des Vergleichs!) konstituierbar sind - und schließlich, ob man zwei Punkte hinsichtlich ihrer inneren (nicht-relationalen) Eigenschaften vergleichen kann, und falls sie solche haben, in welchen Dimensionen. All diese Fragen - bis auf die letzte vielleicht - kann jeder Fachlehrer aus dem Stegreif beantworten, indem er sich in seinem Fachwissen umschaut. Einen Pädagogen frage man besser nicht. Pädagogen sind prototypische Exemplare der new class, die in allem und jedem mitreden, ohne auch nur zu einem winzigen Ausschnitt der (vorpädagogisch) schönsten aller Welten ein auch nur halbwegs qualifiziertes Wissen zu haben.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 26.02.2007 um 23.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7852

Die Rechtschreibreform wäre vermutlich noch bis weit in die 80er Jahre hinein auch in einem fortgeschrittenen Stadium ihrer Durchsetzung mit dem Nachweis eines Vorläuferprojektes im Dritten Reich erledigt gewesen. Heute jedoch droht der Hinweis auf die "bucklige Verwandtschaft" der Reform denjenigen zu marginalisieren, der ihn gibt.
Wendepunkt war der "Historikerstreit" in den 80er Jahren. Sein Ausgang machte Vergleiche obsolet, deren Zulässigkeit für eine Hannah Arendt etwa noch selbstverständlich war. Der Streit schrieb sich in den Kontext des kulminierenden Kalten Krieges ein, und die Versuchung war groß, ihn als einen vermeintlichen Streit zwischen "Linken" und "Rechten" auf den Ost-West-Konflikt abzubilden, mit in der Konsequenz entsprechend unfreundlichen Mutmaßungen über die Motive derjenigen, die Vergleiche zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus mit einem Bann zu belegen unternahmen.
Diesem, wie ich heute glaube, Irrtum bin ich damals auch erlegen. Entschuldigt wird er durch die Irrationalität der seinerzeit vorgebrachten Argumente, die es zu verbieten schien, sie für ernstgemeint zu halten. So implizierte das geltend gemachte "Aufrechnungsverbot" natürlich eine - erlaubte - Gegenaufrechnung, und die Rede von der "Singularität" des Nationalsozialismus war entweder trivial, insofern jedes historische Ereignis an seiner Raumzeitstelle nur einmal vorkommen kann, oder aber falsch: weil andernfalls jede rationale Rede über das Dritte Reich ausgeschlossen ist, auch diejenige, die seine Singularität behauptet.
Tatsächlich hat das Verbot, den Nationalsozialismus zu "relativieren", den Ost-West-Konflikt überdauert, und die Unbedenklichkeit, mit der Leute wie Habermas oder Wehler damals den Kommunismus zu verharmlosen schienen, indem sie dem Vergleich mit dem Nationalsozialismus seinerseits eine Verharmlosungsabsicht unterstellten, erscheint im nachhinein in einem anderen Licht. Der Ost-West-Konflikt war ihnen gewissermaßen nur dazwischengekommen bei der Verfolgung eines ganz anderen Projektes, nämlich dem ihrer Entlastung, und der Entlastung der postnationalsozialistischen Gesellschaft insgesamt, von der eigenen Vergangenheit.
Man hätte beim sogenannten Historikerstreit nur genauer hinhören müssen: Der zentrale Vorwurf an Ernst Nolte lautete ja, eine "Historisierung" des Nationalsozialismus zu betreiben. Er hat nur dann Sinn, wenn dessen Enthistorisierung erstrebenswert ist. Dieser Prozeß einer Enthistorisierung ist mit der Errichtung des Holocaust-Denkmals (tatsächlich eines Sakralbaus) als eines Ortes, "zu dem man gern hingeht" (Gerhard Schröder), zu einem vorläufigen Abschluß gekommen.
Zugleich entfällt die Erinnerung an den historischen Nationalsozialismus als Korrektiv für politische Fehlentwicklungen. Wer sie in dieser Funktion dennoch bemühen will, macht sich heute unbeliebt, weil er die vermeintlich endlich erfolgreich bewältigte Entlastungsarbeit durch "Zerknirschungsprozesse" (das Wort ist von Karl Heinz Bohrer) in Frage stellt.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 27.02.2007 um 10.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7853

Herr Schatte möge denen, die den Begriff "linear" nur aus der Mathematik kennen, bitte erklären, was eine lineare Grammatik ist. Gibt es auch quadratische, kubische und nichtlineare Grammatiken?
 
 

Kommentar von Konrad Schultz, verfaßt am 27.02.2007 um 18.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7854

An Germanist: Es gibt nichtlineare Sprachen, nachzulesen unter Wikipedia. Aber Mathematik bzw. theoretische Informatik ist das auch. Formeln der Art "Für jedes x ist das Quadrat von x positiv" lassen sich nicht ohne Variablen in einer Zeile (Linie) schreiben; der Satz "das Quadrat jeder rellen Zahl ist positiv" enthält inhaltlich eine Variable. Quadratisch wären solche Sätze ausdrückbar, in dem die beiden Plätze, an denen hier x vorkommt, durch eine Kurve verbindet. – Diese Bosheit für Leute, die "linear" nur aus der Mathematik kennen, dort aber sehr gut.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 27.02.2007 um 18.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7855

Seit ich mich ein wenig mit der Rechtschreibreform beschäftige, habe ich noch nie erlebt, daß eine von beiden Seiten auf Argumente gestützte vergleichende Diskussion Pro und Contra stattgefunden hätte. Die Befürworter bemühen den Sprachwandel, der ja "immer schon stattgefunden hat", oder sie führen an, auch die unreformierte Schreibung hätten nur wenige beherrscht.
Ausweichende Gemeinplätze, die aber den Vorteil haben, in den Ohren unbedarfter Laien ganz plausibel zu klingen. Das einzige relativ bekannte "Pro-Argument" ist die angeblich bessere Logik der Heyse Schreibung, das manch einer halt nachplappert, um im nächsten Mail sogleich mit "freundlichen Grüssen" zu unterschreiben.
Im Gegensatz dazu kennen sich Kritiker wesentlich besser aus und können das auch an vergleichenden Beispielen festmachen. Die ganz wenigen Befürworter, die sich auch auskennen, fürchten solche auf Argumente gestützte Diskussionen klarerweise wie der Teufel das Weihwasser und gehen ihnen daher tunlichst aus dem Weg.
Laien hingegen werden von der Detailkenntnis der Kritiker meist überfordert und meinen daher, das sind halt kleinliche zum Fanatismus neigende Erbsenzähler, die das ganze viel wichtiger nehmen als es ist, und sie wenden sich kopfschüttelnd wieder ab, vielleicht auch noch in den Bart murmelnd, daß es schließlich Wichtigeres gäbe auf dieser Welt.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 27.02.2007 um 19.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7856

Alle Systeme, deren Eingangs- und Ausgangssignale nicht umkehrbar eindeutig sind, sind nichtlinear. Beim Übersetzen von einer Sprache in eine andere ergibt das Rückübersetzen manchmal völlig andere Bedeutungen.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 27.02.2007 um 21.41 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7857

An Germanist: Nein, ich kann den Terminus nicht erhellen. Was lineare bzw. linear beschriebene Grammatik ist, weiß nur der DaF-Methodiker Gerhard Neuner.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 27.02.2007 um 23.14 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7858

Sehr geehrter Herr Germanist, sehr geehrter Herr Schultz,
bitte reden Sie keinen mathematischen Quatsch. In diesem Forum sollten wir besser bei der Rechtschreibung bleiben.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 28.02.2007 um 08.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7859

Verständlicher: Bei einer linearen Abbildung oder Codierung wie Gedanken in Rede oder Schrift sind Ausgabe und Eingabe umkehrbar eindeutig. Der Hörer oder Leser muß das eindeutig erkennen, was der Sprecher oder Schreiber meint. Eine lineare Sprachcodierung darf in mündlicher und schriftlicher Form keine Mehrdeutigkeiten (Homophone und Homonyme) enthalten. Diese Idealform gibt es wohl nicht. Aber die Rechtschreibreform hat die Mehrdeutigkeiten oder Nichtlinearitäten vermehrt.
 
 

Kommentar von B. Eversberg, verfaßt am 28.02.2007 um 11.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7860

Mathematisch heißt so etwas "eineindeutig" oder "bijektiv".
Lineare Abbildungen sind etwas anderes: der Funktionswert wächst proportional an – auf Sprachen ist das nicht übertragbar. Die Fachsprachen sind anscheinend inkompatibel, falls "linear" überhaupt ein sprachwissenschaftlicher Terminus sein sollte – was Herr Schatte wohl verneinte.
 
 

Kommentar von Konrad Schultz, verfaßt am 28.02.2007 um 12.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7861

Der Begriff "lineare Sprache" gehört in den Kontext der formalen Sprachen, lineare Abbildungen der linearen Algebra sind etwas anderes. Eine formale Sprache ist eindeutig, wenn jedes Wort genau eine Herleitung aus der zugehörigen Grammatik besitzt. Wenn natürliche Sprachen als formale Sprachen betrachtet werden, dann bedeutet dies, daß jeder Satz genau eine Bedeutung besitzt. Unglücklicherweise (oder glücklicherweise?) ist das aber bei den natürlichen Sprachen gerade nicht der Fall, die Bedeutung eines Satzes ist nicht eindeutig, und eine treue Übersetzung mit Übertragung genau der vorhandenen Mehrdeutigkeiten ist auch nicht möglich. Eine Rechtschreibreform, die platt macht, vermehrt die Mehrdeutigkeiten.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 28.02.2007 um 17.15 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7862

Wer hätte gedacht, daß nur über die Erwähnung eines ins Nichts greifenden Namens eines Sprachpädagogen eine kaum erquicklichen Regen versprechende Wolke metasprachlichen Wissens, semiotischer Überlegungen usw. an unseren heiteren Himmel malt. Im Text stand übrigens "lineare Grammatik(schreibung)". Suchzeichenkette wäre gewesen: "lineare Grammatik"!

Natürlich waren in der ersten Chomsky-Euphorie einige "Linguisten" schon so weit, einen Aktivsatz und seine passivische Umformung (nicht: Konverse in Zerfransung eines logischen Begriffs, so daß er am Ende fuzzy ist) als "denselben" Satz zu bezeichnen, weil er ja dieselben Wahrheits- und Erfüllungsbedingungen hat und nur zufällig ganz anders aussieht und einen anderen Redegegenstand hat. Bis heute können also einige Sprache und Logik nicht auseinanderhalten. Das Wichtigste dazu hat Konrad Schultz hier bereits gesagt. Vielleicht kann man dieses "Thema" verabschieden.

Bitte nun auch nichts weiter über Fuzzy-Sets, siebenwertige Logiken und die bisher mißlungenen Versuche, irgendeine Aussagenlogik mit einer Zeit- und einer Modallogik zu "kombinieren". Nur die Sprache verbindet alle bisher konstruierten Logiken, denn sie war vor ihnen und stützt sie alle als letzte Metasprache überhaupt. Wenn wir dieses letzte Ankerseil kappen, sind wir schlimmer dran, als die auf hoher See in von Neuraths schönem Bild. Leider nagen an diesem Seil auch viele Linguisten mit ihrer teils zerstörerischen Beschreibungssprache.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 28.02.2007 um 17.39 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7863

Humane Naturwissenschaftler hätten so etwas wie die RSR zunächst an Bienen ausprobiert (wir wissen ja: "Die Sprache der Bienen"). Dazu hätten sie vorab Pädagogen bemüht, den Bienen das Schreiben beizubringen. Erst nach gemeinsam bewerkstelligtem Erfolg wäre man dann zu einem klinischen Mini-Versuch u.a. mit Ministerialbeamten und Erziehungswissenschaftlern geschritten.

Das einen Vergleich ermöglichende Gemeinsame von Typen wie Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot, Idi Amin und Ho Ho Ho Chi Min liegt im Grad ihrer Menschenverachtung. Die Leidensweite ihrer Wirkung spielt keine Rolle.
 
 

Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 28.02.2007 um 19.05 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7864

„Lose Schreibe“

Die „losen Reden“ scheinen allmählich in ein Imponiergeschreibe abzudriften.
 
 

Kommentar von Aus den Nachrichten, verfaßt am 28.02.2007 um 20.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7866

Thierses Oscar-Würdigung ruft Protest hervor

Berlin (AP) Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse hat mit seiner Erklärung für den Oscar-Erfolg des Stasi-Films «Das Leben der Anderen» Protest ausgelöst. Thierse sagte am Montag im Deutschlandfunk: «Möglicherweise werden amerikanische Zuschauer sich daran erinnern, dass ja im Zuge der Terrorismusbekämpfung der Staat auch immer mehr ins private Leben von Menschen eingreift, dass es da plötzlich Aktualisierungen gibt, Bezugnahmen gibt, die vielleicht vom Stoff her oder vom Regisseur her gar nicht so gedacht waren.» Kunstwerke könnten immer auf eigene Lebenserfahrungen übertragen werden.

Der ehemalige sächsische Innenminister Heinz Eggert, selbst Stasi-Opfer, sagte der Berliner «B.Z.»: «Dieser Vergleich hinkt gewaltig.» Es sei ein grosser Unterschied zwischen Geheimdiensten in einer Demokratie und in einer Diktatur. Auch der CDU-Politiker Rainer Eppelmann sagte: «Thierse hat das zu weit hergeholt, um seine Kritik an den Verhältnissen in den USA loszuwerden. Das kann man nicht vergleichen.» Dagegen vermutete der ehemalige Stasi-Aktenbeauftragte Joachim Gauck ein Missverständnis: «Ich glaube nicht, dass Thierse wirklich die Zustände in den USA mit der Überwachung in der DDR vergleichen würde», sagte er der Zeitung.

Thierse sagte, der Film habe eine finstere Geschichte spannend erzählt und so viele Menschen erreicht. Er hoffe, dass der Oscar auch als eine späte Würdigung der Stasi-Opfer verstanden werde.

(26. Februar 2007, http://de.news.yahoo.com/070226/281/5c5yk.html)
 
 

Kommentar von Ballistol, verfaßt am 02.03.2007 um 06.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7868

Immer wieder wird behauptet, man könne ja auch nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Dabei kann man das wunderbar.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 02.03.2007 um 19.24 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7885

Ballistol hat völlig recht. Natürlich kann man den Apfel Hitler mit der Birne Stalin vergleichen oder umgekehrt die Birne Adolf mit dem Apfel Josef. Dann kommt Wowereit und sagt, der Verleich sei eine Verharmlosung. Kann man Adolf oder Josef (Birne oder Apfel) verharmlosen? Nein, man kann nur Sachverhalte verharmlosen. Aber nehmen wir an, der Gröfaz und der größte Sprachwissenschaftler aller Zeiten wären Sachverhalte. Welcher von den beiden wird dann verharmlost? Der Apfel oder die Birne? Früchtchen waren sie beide von der schlimmsten Sorte überaupt. Daß sie ohne weiteres derselben Klasse zuzuordnen sind, scheint wiederum Wowereit nicht fassen zu können. Er ist halt auch "Staatsmann".
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 04.03.2007 um 03.11 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7888

Jetzt habe ich hier schon mehrmals gelesen, man könne selbstverständlich auch Äpfel und Birnen miteinander vergleichen.
Nein, man kann es nicht!
Denn das ist ein Sprichwort, welches einfach bildhaft ausdrückt, daß bestimmte Dinge eben nicht vergleichbar sind. Es gibt mit Sicherheit auch Unvergleichbares, und daher hat das Sprichwort recht!
Auf der anderen Seite läßt sich natürlich bei so gut wie jedem Paar von zwei Gegenständen oder Sachverhalten ein Kontext an den Haaren herbeiziehen, der trotzdem einen Vergleich zuläßt, aber so etwas ist mit den Äpfeln und Birnen nicht gemeint.
Ich will ein Beispiel angeben, worauf das Sprichwort von den Äpfeln und Birnen paßt.
Bei einer Bundestagswahl erzielten die beiden stärksten Parteien jeweils ungefähr 45 Prozent der Wählerstimmen. Die Wahlbeteiligung betrug 67 Prozent. Die Zeitungen schrieben danach: Die "Partei der Nichtwähler" war mit 33% die drittstärkste Gruppe nach den beiden großen Volksparteien. Dabei vergaßen sie aber, daß die 33% der Nichtwähler sich auf alle Stimmberechtigten beziehen, während die 45% Parteistimmen sich nur auf den Anteil der gültigen Stimmen von den 67% beziehen, die überhaupt gewählt haben, d.h. die beiden großen Parteien hatten höchstens je 0,67 x 45% = 30% der Stimmen aller Wahlberechtigten, sind also deutlich schwächer als die 33% der "Nichtwählerpartei".
Das Beispiel zeigt, daß man nicht einfach irgendwelche Dinge, wie hier die Wahlergebnisse von Parteien und die Wahlbeteiligung, vergleichen kann. Zunächst muß man sich auf eine Vergleichsgrundlage einigen. Einstein hätte es das Bezugssystem genannt, das gilt in der Sprache genauso wie in der Physik.
Es ist also zum einen zu beachten (siehe Gauger), daß Gleichsetzen und Vergleichen nicht dasselbe ist, und zum andern muß man auch beim Vergleichen beachten, daß man überhaupt Vergleichbares vor sich hat.
Und in diesem Sinne sagt man eben sprichwörtlich zu Recht, daß man Äpfel nicht mit Birnen vergleichen kann.

 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 04.03.2007 um 03.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7889

In dem Beispiel geht es weniger um einen unstatthaften Vergleich als um eine falsche Gleichung, aber bei der Gelegenheit können wir mal darauf hinweisen, daß es eine Partei der Nichtwähler gibt, die sich in tadelloser Rechtschreibung präsentiert:
http://www.parteidernichtwaehler.de/
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 04.03.2007 um 11.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#7891

Das eine ist so richtig wie das andere. Natürlich kann man alles mit allem vergleichen, und natürlich ist an der Redensart von den Äpfeln und den Birnen überhaupt nichts auszusetzen. Ein Vergleich ist immer möglich, erfüllt aber nur dann seinen Zweck, ist zumindest nur dann fair, wenn er dem Wesen der zu vergleichenden Dinge und den Umständen, die sie beeinflussen, gerecht wird. Denn der (faire) Vergleich soll ja die – nach dem Urteil des Sprechers – wahre Beziehung zwischen ihnen veranschaulichen, damit der Zuhörer, der diese Beziehung entweder noch nicht erkannt hat oder anders beurteilt, aufgeklärt bzw. überzeugt werde. Ein Vergleich sollte keine falschen Schlüsse nahelegen. So kann man selbstverständlich die Lebenshaltungskosten einer in München wohnenden Familie mit denen einer Studenten-WG in Clausthal-Zellerfeld vergleichen, aber das Ergebnis dieses Vergleichs wäre eben nicht aussagekräftig und würde beispielsweise nicht den Schluß zulassen, daß die Familie in der bayerischen Hauptstadt auf größerem Fuße lebt als die Studiosi im Harz.

Übrigens verstehe ich die Beanstandung der bewußten Redewendung eher als puristischen Spaß denn als ernstgemeinte Kritik. Diskussionen über sprachliche Phänomene werden nicht selten gar zu verbissen geführt und weisen dann regelmäßig störend große Humorlücken auf. Daher hier noch ein kleiner Tip. Ein Scherz aus der Kategorie „Gespieltes Unverständnis“, der immer gut ankommt: Viele Köche verderben den Brei – viele aber auch nicht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.06.2010 um 10.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#16373

In der Halbzeitanalyse des WM-Spiels Deutschland gegen Australien sagt Müller-Hohenstein wörtlich: "Das war für Miro Klose doch ein innerer Reichsparteitag, jetzt mal ganz im Ernst. Dass er heute hier trifft."
In Internetforen schlagen schon kurz nach der Bemerkung die Wellen der Empörung hoch. Unter dem Suchbegriff "reichsparteitag" etwa wird der Vergleich von Kloses Gefühlsleben mit den Propaganda-Veranstaltungen von Adolf Hitler bei Twitter ausführlich kommentiert.


Ich habe schon hundertmal mein Gefühlsleben mit den Propagandaveranstaltungen Hitlers verglichen, ebenso wie meine Mitschüler. Der "innere Reichsparteitag" dürfte schon zu Zeiten des Gröfaz sprichwörtlich gewesen sein. Meine Kinder kennen die Redensart auch und haben erst später im benachbarten Nürnberg leibhaftig erfahren, daß es diese Reichsparteitage ja wirklich gegeben hat.
Ob die unglückliche ZDF-Redakteurin aus dieser Falle wieder rauskommt? Wenn nicht, dann kann sie sich mit der philosophischen Einsicht trösten, daß wir in einem Irrenhaus leben.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 14.06.2010 um 11.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#16375

In der DDR gab es auch die Redensart "Das ist mir/jmd./... ein innerer Parteitag". Noch häufiger sagte man "Das ist mir/jmd./... ein innerer Vorbeimarsch", was auf die Pflichtdemonstrationen mit den Vorbeimärschen an den SED-Tribünen anspielte. Es meinte das Hochgefühl, das man auf Parteitagen oder bei solchen Vorbeimärschen nach dem Wunsch "der Partei" eigentlich verspüren sollte, und einige besonders Vernarrte haben das sicherlich auch wirklich so gefühlt.

Wer diese Redewendung benutzte, mußte aber nicht unbedingt ein großer Parteianhänger sein. Mit dem Ausdruck vom "innereren Vorbeimarsch" haben sich meistens ganz vernünftige Menschen einfach nebenbei über das System lustig gemacht. Da die Ironie gut getarnt war, riskierte man mit so einem Spruch nicht zu viel.

Aber der ironische Sinn wirkt nur so lange, wie man sich noch innerhalb des Systems befindet. Heute kann man das einfach nicht mehr so sagen, die Ironie wird nicht verstanden, der Satz wird im ursprünglichen Sinn gedeutet. Ich fand die Bemerkung der ZDF-Moderatorin sehr unüberlegt und empörend.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 14.06.2010 um 14.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#16377

In der Tat unüberlegt und geradezu empörend überflüssig, dieses »jetzt mal ganz im Ernst«.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.06.2010 um 17.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#16379

Besonders erhellend ist die Überschrift Nazi-Vergleich sorgt für Empörung. Das klingt wie die Einladung zu einem Fest: Für kleine Erfrischungen und Empörung wird gesorgt.

Ohne Nazi-Vergleich vergeht keine Woche, also ist auch Anlaß zur Empörung reichlich gegeben. In der uralten und offensichtlich von Anfang an regimekritischen Redensart vom inneren Reichsparteitag einen Nazi-Vergleich zu sehen ist jedenfalls eine glänzende Leistung.

Der Unsinn schaffte es heute in die Nachrichtensendungen von Bayern 5.
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 15.06.2010 um 23.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#16386

Zum Thema ritualisierte Empörung schreibt Max Goldt in seiner Glosse »Im Visier von Pakistan und Texas«:

Man vergleiche die Formulierung «für Empörung sorgen» mit «für das leibliche Wohl sorgen» und «für Unterhaltung sorgen». Empörung scheint für manche Leute ein ähnliches Grundbedürfnis zu sein wie Essen, Trinken und unterhaltende Darbietungen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.05.2015 um 11.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#28884

Zur Wendung innerer Reichsparteitag gibt es inzwischen einen Eintrag bei Wikipedia, der immerhin wegen der vielen Quellenangaben ganz nützlich ist. Nebenbei wird auch das Buch von Eva Sternheim-Peters erwähnt, das ich gerade lese und in dem ich, obwohl 20 Jahre jünger, viel Konkretes wiedererkenne, eine bewunderswerte Erinnerungsleistung und sehr gut geschrieben.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 03.11.2015 um 19.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#30427

Wieder einmal schlagen die Wogen hoch, weil jemand angeblich einen "Vergleich" angestellt hat. Der Bundesjustizminister Maas sei der schlimmste geistige Brandstifter seit Goebbels und Schnitzler.

Ein geschmackloser Satz. Aber wer wurde mit wem verglichen? Wo steckt da überhaupt irgendein Vergleich drin?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 03.11.2015 um 21.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#30429

Und was denn nun, ist er der Schlimmste seit Goebbels oder seit Schnitzler?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.11.2015 um 04.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#30433

Genau genommen vergleicht man mit seit nicht, deshalb haben die Richter immer wieder Gelegenheit, einen linguistischen Gutachter heranzuziehen, der aber auch nichts Genaues sagen kann.

Das ist die schlimmste Katastrophe seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.

War der Beginn der Wetteraufzeichnungen eine Katastrophe?

Maas tut meiner Ansicht nach gut daran, auf eine Anzeige gegen den Neonazi zu verzichten. Einfach gar nicht ignorieren ist hier die beste Strategie. Außerdem sollte man die Justiz nicht mit dem täglichen Geplänkel von Wichtigerem abhalten. (Das ist überhaupt mein Eindruck: Es gibt so große Probleme zu lösen, die auch mit etwas Vernunft durchaus lösbar sind, daß man überhaupt nicht versteht, warum die führenden Politiker einander so kindisch beharken.)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 04.11.2015 um 10.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#30440

Ja, genau. Wäre Maas der schlimmste geistige Brandstifter seit Beginn der Wetteraufzeichnungen genannt worden, hätte er sich wahrscheinlich nur amüsiert, aber eine gerichtliche Klage wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Das liefe dann unter Scherz oder Meinungsfreiheit.

Dabei hätte hierin tatsächlich der Vergleich mit allen Personen gesteckt, die seitdem leben oder gelebt haben, u. a. auch mit Goebbels. Aber seltsamerweise werden solche tatsächlichen Vergleiche weniger ernst genommen als Nichtvergleiche.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.11.2015 um 11.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#30441

Die Staatsanwaltschaft ermittelt trotzdem, gerät aber in eine gewisse Verlegenheit, weil Beleidigung nur auf Antrag des Geschädigten verfolgt wird.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.11.2015 um 12.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#30447

Katholischer Sozialbischof vergleicht Transitzonen mit Konzentrationslagern (...)
Auch der katholische Sozialbischof Franz-Josef Overbeck wandte sich gegen die Transitzonen. Hier würden Menschen, die ihr Leib und Leben retten  wollten, gefangen gehalten. Sie müssten sich dort vorkommen "wie in Konzentrationslagern", so der Ruhrbischof.
(Focus 4.11.15)
 
 

Kommentar von Marco Mahlmann, verfaßt am 04.11.2015 um 13.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#30448

Die Nonchalance, mit der auch hier Bachmann "Neonazi" genannt wird, ist genau das, was Bachmann Maas vorwirft.

Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Maas hat im letzten Jahr Pegida und Bachmann mit Attributen belegt, die ehrverletzend und beleidigend waren, um kein stärkeres Wort zu verwenden, und die vor allem eines Justizministers unwürdig waren. Maas sollte jetzt also mal still sein; aber Maas braucht auch nichts zu sagen. Das macht Stegner schon, und das in einer unfaßbar peinlichen Art, für die sich Bebel, Ebert, Schumacher im Grabe umdrehen und sich Schmidt glatt wieder eine Kippe ansteckt.
Brandt hat Geißler den "schlimmsten Hetzer seit Goebbels" genannt, Kohl hat Gorbatschow mit Goebbels verglichen und Thierse den "schlimmsten Präsidenten seit Göring" genannt. Die durften das, Bachmann nicht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.11.2015 um 13.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#30449

Maas darf es nicht, aber ich darf es.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 04.11.2015 um 14.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#30450

Ist Majestätsbeleidigung denn auch ein Antragsdelikt?
 
 

Kommentar von R. H., verfaßt am 05.11.2015 um 03.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#30454

Zur wachsenden braunen Schar

Wenn das der Führer wüßte,
priese er Pegida und
bedankte sich und küßte
weinend seinen Schäferhund.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.08.2016 um 13.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#33130

Der "Anstifter des Historikerstreits" sei gestorben. Zum Streiten gehören mindestens zwei, und so könnte man auch Habermas statt des verstorbenen Nolte als den Anstifter bezeichnen. Nolte wird auch nachgesagt, er sei eigentlich gar kein Historiker gewesen – aber Habermas?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 18.08.2016 um 16.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#33131

Anstifter dürfte Wehler gewesen sein, der Habermas vorschickte.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 06.12.2018 um 17.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#40269

Erst im September 2010 (laut Versionsgeschichte) wurde ein Wikipedia-Artikel zum Stichwort "Innerer Reichsparteitag" begonnen. Darin steht vieles, was ich hier unter #16375 auch schon erwähnt hatte. Mag sein, daß mein "empörend" übertrieben war, aber ich glaube, der Wikipedia-Artikel beschreibt ganz gut, wie durch die unterschiedlichen Erfahrungen, die wir nach dem Krieg in Ost und West gemacht haben, vielleicht doch auch ganz unterschiedliche Empfindlichkeiten entstanden sind. Über die Parteitage der SED in der DDR konnten wir uns im Osten insgeheim gut amüsieren, aber bei den Reichsparteitagen war es halt für uns mit der Ironie vorbei.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.12.2018 um 05.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#40271

Es ist möglich, daß die Ironie an die persönliche Betroffenheit gebunden ist. Den derben Humor der Soldaten, die den Tod vor Augen haben, versteht der Zivilist ja auch nicht. Die SED hat den Ostdeutschen eingeredet, sie hätten mit dem "Hitler-Faschismus" nichts zu tun. So konnten sie die Reichsparteitage wie alles andere zwar gebührend verabscheuen, aber die Distanzierung der Betroffenen nicht so recht nachvollziehen. Witze über Ulbricht oder Honecker waren etwas ganz anderes als solche über den Gröfaz (auch so ein Wort!).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.05.2021 um 05.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#45881

Vor einiger Zeit hat Herr Schatte hier Neuraths bekannten Vergleich erwähnt.

„Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“ (Otto Neurath: Protokollsätze. Erkenntnis 3, 1932:204-214, S. 206)

So verfährt die Evolution (Stichwort Exaptation). Daher der Eindruck: Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? – Das denkt man, wenn man aus der Sicht des heutigen Ingenieurs die Anatomie und Physiologie des Sehens betrachtet. Oder auch die "Kaskaden" chemischer Reaktionen bei der Photosynthese, dem Heliotropismus mancher Pflanzen usw. Immer blickt man in den "Brunnen der Vergangenheit", einen Abgrund von Milliarden Jahren.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.07.2021 um 05.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#46600

Mir fällt jetzt erst auf, daß Neuraths Vergleich nicht so gut formuliert ist. Warum sollte man ein Schiff erst im Dock zerlegen, wenn man aus besten Bestandteilen ein neues bauen will?
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 24.07.2021 um 11.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#46601

Vielleicht will sich der Schiffer erst einen vollständigen Überblick über die Bauteile, ihre Montage, eventuelle Konstruktionsmängel usw. verschaffen. Und das neue Schiff muß ja nicht komplett neu sein, wahrscheinlich sind manche Bauteile noch tadellos in Schuß und können wiederverwendet werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.07.2021 um 13.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#46603

Sie bringen mich erst auf eine weitere Einzelheit: Auf hoher See sind es tatsächlich die Schiffer, die ihr Schiff reparieren müssen, aber im Dock arbeiten andere Leute. Daran hat Neurath anscheinend auch nicht gedacht. Er hätte den ganzen zweiten Teil weglassen sollen, dann wäre es ein sehr hübsches Bild geworden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.12.2023 um 04.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#52438

Wie die natürlichen Arten ist auch jede Sprache auf den Beständen und Trümmern eines früheren Sprachsystems errichtet. Der Gedanke drängt sich nicht nur beim Wortschatz auf, sondern eher noch mehr bei der Formenlehre, z. B. wenn ich mir die altindische verbale Stammbildung und Flexion ansehe. Da sind unter der Systematisierung viele Anmerkungen erforderlich. Wir nehmen aus methodischen Gründen an, daß es früher mal „regelmäßiger“ zugegangen sein muß, aber das ist natürlich sehr unwahrscheinlich. Unsere troglodytischen Vorfahren hatten es schon mit dem gleichen Patchwork zu tun.
Man könnte in beiden Fällen Neuraths etwas schiefes Bild vom Umbau eines Schiffs auf hoher See anwenden, muß aber noch etwas hinzufügen: Manchmal werden auch Ersatzteile oder Ergänzungen von vorbeisegelnden fremden Schiffen eingebaut. Wir haben zum Beispiel Gene des Neandertalers aufgeschnappt, wie die deutsche Sprache Fremdwörter.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 21.12.2023 um 19.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=798#52442

Nur die Präpositionen sind in fast jeder indogermanischen Sprache anders. Sie müssen eine spätere Erfindung sein.
 
 

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