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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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07.10.2006
 

Spießer-SPIEGEL
"Rettet dem Deutsch"

Wohl zur Ablenkung nörgelt der SPIEGEL auf Sick-Niveau an der deutschen Sprache herum.
Die lange und dünne Titelgeschichte "Rettet dem Deutsch" braucht man nicht zu kommentieren, sie ist wertlos. Am 6.10.2006 zieht die FAZ nach mit einem Interview mit der Opernsängerin Edda Moser, die ein "Festspiel der Deutschen Sprache" "initiiert" (!) hat. Sie mischt ebenso wie Mathias Schreiber im SPIEGEL alles durcheinander, z. T. dieselben Beispiele – etwa Verona Feldbuschs "Da werden Sie geholfen". Was hat ein Werbespruch mit dem Zustand der deutschen Sprache zu tun? Es gibt keine Anzeichen dafür, daß "helfen" zu den transitiven Verben übergeht, und wenn es geschähe, wäre es gleichgültig. Die Konstruktion des Titels "Rettet dem Deutsch" ist vollends unsinnig, wie Herr Markner bereits gesagt hat; sie dient offenbar nur dazu, dem Leser ein "Unerhört!" zu entlocken – nach herkömmlicher Manier mancher Stilratgeber, mit möglichst absurden Beispielen zu arbeiten. Wer wirklich etwas zu sagen hat, drückt sich im heutigen Deutsch so mühelos und verständlich aus wie seit je. Was lesen diese Apokalyptiker eigentlich? Aber sie meinen es ja gar nicht wirklich, sie schreiben bloß so, als ob.

Auch über "Sinn" machen ereifert man sich wieder. Sogar im Duden Universalwörterbuch steht:
"etw. macht keinen/wenig S. (ugs.; hat keinen/wenig Sinn; nach engl. it doesn't make [any] sense)".
Das ist längst nicht mehr zutreffend, und die englische Vorlage tut nichts zur Sache.

Im SPIEGEL 2.10.2006 außerdem ein Gespräch mit Bundestagspräsident Lammert "Apokalyptische Erfahrungen" - laut Untertitel über den Stellenwert des Deutschen in Europa usw., aber das Zitat des Titels stammt aus einer ganz anderen Bemerkung Lammerts: "Die apokalyptischen Erfahrungen, die wir mit der Rechtschreibreform gemacht haben ..." Der SPIEGEL vermeidet das Thema und verfälscht den Bezug. Ein wirklich durchgreifende Entstellung erfahren die Texte durch die teils staatlich verordnete politische Korrektheit, besonders die feministische Komplizierung, aus der man zur Zeit mehr oder weniger klägliche Auswege (Vermeidungs- und Umschreibungsverfahren) sucht. Davon schreibt der SPIEGEL nichts. Ende April 2005 war der SPIEGEL unglaublich mutig und druckte "rauh" aufs Titelblatt. Inzwischen ist davon nichts mehr übrig, man kuscht und schweigt, wie Zehetmair es will.

"Völlig berechtigt ist die Kritik am zopfigen Kathedergelehrten, der sich schon in früheren Jahrhunderten als Fremdwortkiller lächerlich gemacht hat mit Eindeutschungsideen wie 'Zeugemutter' (für 'Natur') oder Jungfernzwinger (für 'Kloster')." (Spiegel 2.10.2006)

Nein, diese Kritik ist nicht berechtigt, denn die Sprachreiniger von damals haben über 1000 erfolgreiche Eindeutschungen erzielt, über die heute niemand mehr lacht; nur die aus irgendwelchen Gründen erfolglosen werden belächelt – ein Zeichen der Borniertheit. Der beispiellose Erfolg der Puristen von Zesen bis Campe beweist, daß sie einen wirklichen Bedarf deckten und daß sie ihre Sache sehr gut gemacht haben. Natürlich wurde damals viel gelacht über so komische Erfindungen wie "Gesichtskreis" (Horizont), "Bürgersteig" (Trottoir) oder "Lebensmittel" (Viktualien); aber wer lacht heute noch darüber?

Aber damit genug, es ist schon zuviel der Ehre für diesen Quark.



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Kommentare zu »Spießer-SPIEGEL«
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Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 07.10.2006 um 11.40 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#5795

"Der Spiegel" krümmt den Bezug von Lammerts "Apokalyptischen Erfahrungen" zum einen ganz bewußt, zum andern recht unbedarft.

Bewußt lenkt er vom Orthographiereform-Desaster ab, indem er Feldbuschs privaten Sprachgebrauch als Indiz für eine sprachraumweite Bedrohung des Deutschen ansieht. Daß die deutsche Journaille (samt "Der Spiegel") heutzutage semantisch, syntaktisch und morphologisch immer mehr Unverdauliches absondert und kraft ihrer Reichweite wie auch Lautstärke manch Abstruses leider installieren kann, ist hinlänglich bekannt (z.B. "streichfähige Butter", die sich partout nicht selbst aufs Brot streichen will).

Ganz unbedarft ist der "Spiegel" indessen bemüht, irgendeinen Zusammenhang zwischen der von ihm inzwischen angebeteten Rechtschreibreform und der schriftlichen wie mündlichen Ausdrucksinsuffizienz eines zunehmenden Teils der deutschen Sprachteilhaber herzustellen. Zum Glück hat die Reform außer negativen grammatikographischen Implikationen keinerlei Auswirkungen auf das Sprachsystem bzw. Sprachvermögen der Sprecher des Deutschen, was keinesfalls ihr, sondern den Systemgegebenheiten oder der "Natur" zu danken ist.
An der sensu stricto arbiträren Orthographie kann ein Souverän oder ein vom Volk zu einem solchen Gemachter täglich herumwerkeln; das System läßt sich nicht erschüttern, am wenigsten das Lautsystem bzw. die Lautung durch revolutionäre phonetische Notationen.

Der letzte Versuch eines leider teilweise gelungenen Eingriffs ins (Flexions)system ist wahrscheinlich den aufklärerischen Sprachreformern gelungen, die meinten, das Deutsche müsse die adjektivischen Nominalattribute deutlich flektieren, um so von einer noch halb barbarischen Sprache hinaufgeläutert zu werden in die Höhen der klassischen Sprachen. Seitdem hat das Deutsche eine für Deutschlerner kaum zu begreifende recht "gemischte" Adjektivflexion, die nach Quantoren wie "alle, manche, einige, viele, keine" etc auch deutschen Muttersprachlern schwer zu schaffen macht. Die terminologisch nach wie vor teutonisierende Duden-Grammatik gibt sich in diesem Bereich ganz und gar nicht präskriptiv, sondern eher wie Teve, der Milchmann.

Die hochproduktive oberflächliche Internet-Generation schreibt viel Flüchtiges, woran sie schon morgen nicht erinnert werden möchte. Man wirft halt irgendetwas hin, ist in irgendeiner Diskussion um (Un)wesentliches drin und somit `up to date´ (und so). Das Ganze erinnert an die in der DDR bekannte Konstatierung des Tatsächlichen: " Jeder macht, was er will; keiner macht, was er soll; alle machen mit."

Der "Spiegel" macht auch mit, wenn er auch nicht recht weiß, wobei eigentlich.
 
 

Kommentar von jms, verfaßt am 07.10.2006 um 14.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#5803

Einer Zeitschrift, die sich in Fragen der Rechtschreibreform so unglaubwürdig verhalten hat wie der SPIEGEL, nimmt man nicht mehr ab, daß es ihr darum geht, die deutsche Sprache zu retten. Man fährt derzeit recht erfolgreich auf der Sick-Welle und bastelt halt eine kommode Titelgeschichte dazu. Belanglos.

Interessant ist der Hinweis auf die Deformierungen des Deutschen aufgrund der Politischen Korrektheit, eine Art Scharia des Feminismus und des Gutmenschentums, die Sprache einäugig als Herrschaftsinstrument begreift und von den entsprechenden Interessengruppen bewußt dazu eingesetzt wird, selbst die Herrschaft zu erlangen.

Auch die Rechtschreibreform ließ sich letztlich nur durchsetzen, weil sie in die Ideologie der Politischen Korrektheit paßt. Das stärkste Argument für sie lautete, es den Kindern leichter zu machen, ein poltitisch korrektes Ziel par excellence. Daß sich dieses Argument inzwischen als offensichtlich falsch erwiesen hat und die Rechtschreibfähigkeiten der Kinder wie auch vieler Erwachsener in Zukunft logischerweise immer mehr nachlassen werden (da es auf Jahre hinaus faktisch keine einheitliche deutsche Orthographie mehr gibt), wird natürlich ausgeblendet, da es am eigenen Weltbild kratzen würde. Wieviel leichter ist es doch, die Kritiker als reaktionär abzukanzeln.
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 09.10.2006 um 03.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#5812

Ich glaube, Adenauer war's, der gesagt hat, die *Bild-Zeitung* ist für Lieschen Müller, und *Der Spiegel* ist halt für Dr. Lieschen Müller. Auch wenn diese Ausdrucksweise inzwischen politisch korrigiert ist, kann man doch sagen, daß *Der Spiegel* für die schreibt, die sich aufgrund ihres Lebensinhalts mehr zu schulden glauben als nur *Bild* und deshalb bereit sind, dafür auch mehr auszugeben, zumal sie ja — wie die Bild-Leser auch — auf ihrem ihnen angemessenen Niveau gut unterhalten werden wollen. Nachrichten — Information, um sich danach zu richten — das steht doch nur im Untertitel. "Deutschlands bedeutendstes und Europas auflagenstärkstes Nachrichten-Magazin" will auf doch erst mal unterhalten, — denn das bringt das Geld, und nicht etwa das Drängen der Leser, fürs öffentliche und private Leben solide informiert zu werden.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 13.10.2006 um 18.46 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#5868

Bekanntlich ist das Standardbeispiel für übertriebenen Sprachpurismus, der "Gesichtserker", überhaupt nicht belegt.
Wie steht es denn mit den anderen Beispielen, wie Zeugemutter, Jungfernzwinger oder auch Dörrleiche (Mumie)? Gibt es dafür Belege?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.09.2009 um 17.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#15039

Der Soziologe Sven Papcke schreibt Eduard Engel zu, in seinem Buch "Sprich Deutsch!" die Eindeutschung "Gesichtserker" vorgeschlagen zu haben. Nun, der Text ist sogar bei Gutenberg.de herunterladbar, und man kann sich leicht überzeugen, was Engel wirklich geschrieben hat:

"Weiß der Leser, was ein Purist ist? Er weiß es bestimmt nicht; aber die Welscher reden ihm vor, es gebe in Deutschland Puristen, ganze Vereine von Puristen, die ein verrücktes Deutsch fordern und selbst schreiben: Gesichtserker statt Nase, Dachnase statt Schornstein, Windfang statt Mantel, Gebärerin statt Natur, Allgemeiner statt General, Mitstreit für Konzert. Kein Leser hat solche Narren je gesehen; aber es muß ihrer doch eine Menge geben, denn – es hat ja so in der Zeitung gestanden. Dem Leser kann geholfen werden: er kennt mindestens einenPuristen, den zurzeit entschiedensten, den von den Welschern gehaßtesten oder gefürchtetsten, also den schlimmsten: den Verfasser dieses Buches und mancher andrer Werke in ebenso lächerlicher Puristik, und nun möge er selbst urteilen, wie es um das Deutsch der Puristen bestellt ist.
Purist ist das kindisch böswillige Schimpfwort des Welschers mit dem schlechten Gewissen für die dummen deutschen Kerle, die verlangen, in Deutschland solle Deutsch gesprochen werden. Alles Abern gegen diese Erklärung ist hohles Gerede. Es gibt keinen Puristen, der festgewurzelte, wirklich eingedeutschte Wörter fremden Ursprungs, fremdbürtige Titel, nun gar deutschgewordene Lehnwörter, viele alte und manche neue, gewaltsam ausmerzen will." (S. 171)

Papckes Text über Political correctness und Sprachreinigung steht in "Aus Politik und Zeitgeschichte" vom 19.5.1995.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.10.2009 um 08.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#15046

In einem auch sonst ziemlich oberflächlichen Rundfunkvortrag über Fremdwörter und Purismus heißt es:
„Nicht zufällig rekrutieren sich die Reinsprachler von heute aus den Reihen jener pensionierten Studienräte und autoritären Sprachfeldwebel, die schon die Rechtschreibreform für den Untergang der abendländischen Sprachkultur hielten.“
Wer von uns Kritikern hat die RSR für den Untergang der abendländischen Sprachkultur gehalten? Und warum ist es eine Schande, pensioniert zu sein? (Es trifft sich, daß ich am heutigen Tag in den Ruhestand trete - es bleibt einem nichts erspart!)
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 01.10.2009 um 14.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#15047

Der "Untergang des Abendlandes" im Zusammenhang mit der Rechtschreibreform wird Reich-Ranicki zugeschrieben. Ich kann aber nicht belegen, ob dieser Ausspruch tatsächlich von ihm stammt oder lediglich eine Kontamination und Zuschreibung ist.
 
 

Kommentar von Thomas Voß, verfaßt am 05.02.2010 um 15.33 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#15686

Entschuldigen Sie, Herr Ickler, ich konnte Ihrem Artikel nicht entnehmen, ob Sie Eindeutscher nun gut oder schlecht finden.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 06.02.2010 um 08.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#15687

Durch die Frage von Herrn Voß kam ich dazu, nochmals den Tagebucheintrag von Prof. Ickler zu lesen.

In einem dort wiedergegebenen Spiegel-Zitat sind wieder die angeblichen Eindeutschungsvorschläge Jungfernzwinger und Zeugemutter genannt. Diese werden zumeist Philipp von Zesen zugeschrieben (so auch Wikipedia). Während der ebenfalls von Zesen zugeschriebene Nasenerker inzwischen hinreichend diskreditiert scheint (so Wikipedia), geistern die genannten angeblichen Wortschöpfungen, ebenso wie Lotterbett und Meuchelpuffer weiter durch die Literatur. Eine zuverlässige Quelle für all diese Behauptungen kann ich nicht finden.

Das Grimmsche Wörterbuch behauptet, Jungfernzwinger sei, "wie er selbst verrät", von Wieland erfunden. Dasselbe Wörterbuch verzeichnet eine Fundstelle für Lotterbett von 1618, also bevor von Zesen geboren war. Allerdings heißt es dort, das inzwischen verschollene Wort sei von Campe im 18. Jahrhundert "zur erneuerung empfohlen" worden. In Campes Fremdwörterbuch in der Auflage von 1813 steht dagegen der Eintrag: "Sofa, in Scherz oder Spott, Lotterbett; sonst Polsterbett, der Polstersitz."

Eduard Engel zitiert von Zesen wie folgt: "Diese große Zeugemutter aller Dinge, die überschwänglich reiche Natur, mit ihrer wohlgeartetsten Tochter, der tiefsinnigen Kunst." Im Wikipedia-Artikel zu Philipp von Zesen wird eine Strophe von Zesens zitiert, in dem er – anscheinend ohne Gewissensbisse – von der "Natur" spricht. Im gleichen Artikel wird ihm aber wieder die Zeugemutter als Eindeutschungsvorschlag zugeschrieben. Offenbar hat von Zesen die Metapher von der Zeugemutter häufiger gebraucht (so das Gimmsche Wörterbuch). Wollte er aber wirklich das Wort Natur damit ersetzen?

Was soll man davon halten? Sind das alles "ehrlose Schand- und Landlügen", wie von Zesen selbst sagt (nach E. Engel)? Was ist denn mit dem Meuchelpuffer?

Kennt jemand zuverlässige Fundstellen, die erlauben würden, zwischen Wahrheit und bösartiger Verleumdung zu unterscheiden?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 06.02.2010 um 11.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#15688

Die Beschäftigung mit diesen Fragen muß ausgehen von der Freiburger Dissertation Philipp von Zesen als Sprachreiniger von Hugo Harbrecht (1912), die leider nicht im Volltext digitalisiert vorliegt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.02.2010 um 13.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#15689

An Grundsatzdiskussionen, ob Fremdwörter oder Eindeutscher nun gut oder schlecht seien, kann ich mich nicht beteiligen. Wenn ich etwas schreibe, merke ich immer wieder, daß der Text besser wird, wenn ich ein deutsches Wort verwende. Zum Beispiel schreibe ich nie generell. Ein Wort wie Autoodium statt Selbsthaß würde mir niemals in die Tasten fließen. Wenn man bloß die Hälfte der Fremdwörter durch übliche deutsche ersetzt, ist ein Text gleich spürbar besser. Darüber braucht man nicht zu diskutieren; man muß es ausprobieren, dann versteht es sich bald von selbst.
So hat es auch Eduard Engel gehalten. Er schreibt Prosa usw. und lehnt es ab, sich als Puristen bezeichnen zu lassen. Man kann von ihm halten, was man will, aber er schrieb ein schönes, jederzeit verständliches Deutsch.
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 06.02.2010 um 13.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#15690

Zur Diskussion um das "Lotterbett" kann ich folgende Belege anbieten, von denen zumindest der erste im 17. Jahrhundert vielen Dichtern bekannt gewesen sein dürfte.

1.) Johann Fischart: Geschichtklitterung (Gargantua). Text der Ausgabe letzter Hand von 1590. Mit einem Glossar hrsg. von Ute Nyssen. Düsseldorf: Rauch 1963, S. 102. Die erste Auflage erschien 1575. Fischart starb übrigens 1591.

Ja, so es war ist, wie es war muß sein, daß kein Gasterei unnd Malzeit recht herrlich, Herrschisch, Xerxisch, Persisch, mutig, rustig unnd lustig sey, wa nicht Frauen sind darbei, so wird gewiß eim solchen Haußmann nimmer an freuden abgehn, angesehen, daß er solche Tischmusic, Prett unnd Bettspiel augenblicklich umb sich hat, an der Tafel bei der Seiten, auff dem Lotterbett, oder Hobelbanck, im Garten, unterm Baum, neben dem Baum, wie der Susanna zwen Alten, nicht auff dem Baum, wie die Teuffelsbraut mit ihrem Kaltsamigen Stinckbräutgam, Ja im Bad, inn der Bütten, auff dem Schrepffbanck, inn der Senfften, inn der Kammer, mit welcher er ungehindert mag schertzlen, stertzelen, mertzelen, kützeln, kritzeln, schmützeln, schwitzeln, Pfitzelen, dützelen, mützelen, fützelen, fürtzeln und bürtzeln, so offt es ihn gelust zustützlen und zustürtzlen.

2.) [Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen:] Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch/ Das ist: Die Beschreibung deß Lebens eines seltzamen Vaganten/ genant Melchior Sternfels von Fuchshaim ... / An Tag geben Von German Schleifheim von Sulsfort. Monpelgart [i. e. Nürnberg]: Fillion [i. e. Felsecker] 1669, XXXIII. Capitel, S. 113.

Da es nun wieder Fried worden / namen die Meister-Säuffer die Spielleut sampt dem Frauenzimmer / und wanderten in ein ander Hauß / dessen Saal auch zu einer andern Thorheit erkoren und gewidmet war; Mein Herz aber setzte sich auff sein Lotterbett /weil ich ihm entweder vom Zorn oder der Uberfüllung wehe war / ich liesse ihn liegen / wo er lag / damit er ruhen und schlaffen könte / war aber kaum unter die Thür des Zimmers kommen / als er mir pfeiffen wolte / und solches doch nicht konte […]

(http://diglib.hab.de/wdb.php?dir=drucke/lo-2309&pointer=54)
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 06.02.2010 um 17.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#15692

Noch etwas zum „Jungfernzwinger“, der angeblich von Zesen stammen soll. Eine mögliche Quelle – auch für Wikipedia – mag der Artikel über Philipp von Zesen aus dem „Brockhaus“ von 1811 sein:

Philipp von Zesen (Cäsius), ein deutscher Poet, der zu seiner Zeit vielleicht mehr Aufsehen erregte, als er wol eigentlich verdiente. Geboren 1619 zu Priorau (bei Bitterfeld in Chursachsen), wo sein Vater das Amt eines Predigers hatte, studirte er in Halle, Wittenberg und Leipzig, legte sich vorzüglich auf Philologie, Poesie und deutsche Sprache; machte in der Folge Reisen nach Holland und Frankreich, wurde dann von dem Kaiser zum Ritter und Pfalzgrafen, auch von einigen sächsischen Fürsten zum Rath gemacht, ohne jedoch ein öffentliches Amt anzunehmen; auch erhielt er den Charakter eines gekrönten Poeten und ließ sich zuletzt, schon alt, (1683) in Hamburg nieder, wo er 1689 im 70. Jahre mit Tode abging. Als Stifter der sogenannten deutschgesinnten Genossenschaft – Spötter nannten diese Gesellschaft die Geschossenschaft – hatte er schon in seinem 24. Jahre zu Hamburg 1643 Aufsehen gemacht. Das Emblem dieser Gesellschaft (welche auch der Rosenorden genannt wurde) war ein von Sonnenstrahlen umleuchteter Rosenstrauch mit dem Symbol: Unter den Rosen ist liebliches Losen. Vorzügliches Aufsehen aber machte er durch seine damals ganz unerhörten Neuerungen in der deutschen Orthographie, so wie durch die affectirte Ausmerzung fremder Wörter aus unsrer Sprache, welche auch seine Anhänger, die Zesianer, sehr eifrig fortpflanzten, oder gar noch ärger übertrieben. Ein Unternehmen, welches die Puristen der neueren Zeit uns lebhaft wieder ins Gedächtniß geführt haben! Sie schrieben z. B. Filipp, Filosofen, Fäder, Zizero: bei ihnen hieß z. B. die Natur – die große Zeugemutter, der Papst – der große Erz-Vater, das Kloster – ein Jungfernzwinger; ferner eine Flinte – ein Schießprügel, das Drama – Gesprächspiel, Comödie – Freudenspiel etc. sie trugen nicht etwa Handschuhe, sondern Handstrümpfe; sie hatten keine Beinkleider, sondern Lenden-Holfter. Auch die griechischen und römischen Gottheiten mußten die lächerlichsten Metamorphosen erfahren; denn da ward nun eine Diana zur Weidin, eine Pomona zur Obstin, Vesta zur Feurin, Minerva zur Klugin, Venus zur Lustin, ein Vulkan zum Glutfang u. s. w. u. s. w. umgemodelt (wem fallen hier nicht die Lächerlichkeiten eines Seyferth zu Paris und Cons. ein?), und so ward der Mann, der mit seinen großen Einsichten, mit seinen vielfachen Sprachkenntnissen, mit seiner Gelehrsamkeit, bei seiner lebhaften Einbildungskraft vielleicht bedeutenden Nutzen hätte stiften können, mehr ein Verderber des guten Geschmacks und die Zielscheibe der ärgsten Spötter, obgleich er auch viel Freunde und Vertheidiger, auch selbst nach seinem Tode, fand. Seine Schriften beliefen sich, außer den ungedruckten, welche auch gegen 40 betragen haben, und außer vielen Uebersetzungen, auf mehr als 60: mehrere, die er blos angefangen, sind unvollendet geblieben.

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 8. Leipzig 1811, S. 513–515.

http://www.zeno.org/Brockhaus-1809/B/Philipp+von+Zesen+%28C%C3%A4sius%29

Noch etwas zu Wieland als Schöpfer des Wortes: Wieland hat sich in seinem „Glossarium über die im Oberon vorkommenden veralteten oder fremden, auch neu gewagten Wörter, Wortformen und Redensarten“ zum Wort „Jungfernzwinger“ im Erstdruck des „Teutschen Merkur“ von 1780 (in vierzehn Gesängen im ersten Vierteljahresheft) geäußert: „Ein (vermuthlich) von unserm Dichter gestempeltes Wort für Jungfernkloster. Daß sich dazu keine andre Analogie fand als das Jägerwort Hundezwinger, wird ihm hoffentlich zu keinem Vorwurf gereichen.“

Das Wort findet sich in der 32. Stanze des zweiten Gesangs:

Ein neues Abenteu’r! Der Tag da dieß geschah
War just das Nahmensfest der heil’gen Agatha,
Der Schützerin von diesem Jungfernzwinger.
Nun lag kaum einen Büchsenschuß
Davon ein Stift voll wohlgenährter Jünger
Des heil’gen Abts Antonius;
Und beide hatten sich in diesen Abendstunden
Zu einer Betefahrt freundnachbarlich verbunden.

http://gutenberg.spiegel.de/?id=12&xid=3678&kapitel=8&cHash=29316c8f352
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 06.02.2010 um 20.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#15693

Womöglich ist die Dissertation von Chrystèle Schielein über den Orthographiereformer Philipp von Zesen noch von Interesse:

http://www.opus.ub.uni-erlangen.de/opus/volltexte/2004/79/pdf/Zesen.pdf
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.10.2012 um 05.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#21789

In jenem Spiegel-Beitrag von Mathias Schreiber heißt es auch:

„Die deutsche Sprache wird so schlampig gesprochen und geschrieben wie wohl nie zuvor.“ (...) „In den Sätzen von Goethe und Heine lag die durchschnittliche Zahl der Wörter noch bei 30 bis 36; Thomas Mann brilliert in dem Romanzyklus ‚Joseph und seine Brüder‘ mit einem Rekordsatz, der 347 Wörter umfasst. Heutige Zeitungstexte begnügen sich mit 5 bis 13 pro Satz.“

Der Vergleich ist offensichtlich verfehlt. Warum sollte man die Zeitungssprache von heute mit der Kunstprosa von früher vergleichen? Welche Zeitungen gemeint sind, bleibt auch unbestimmt; es kann eigentlich nur die Bildzeitung sein, aber ich weiß nicht, ob die Zahlenangaben stimmen. Das Verfassen von Texten ist aber kein Wettrennen um den längsten Satz.

Wie kann man verkennen, daß die deutsche Sprache - wenn man sie überhaupt als einen Gegenstand betrachten will - quicklebendig ist? Daß ihr Anteil an der internationalen Verständigung sinkt, steht auf einem anderen Blatt. Für immer noch fast 100 Milionen Menschen läßt sie nichts zu wünschen übrig.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.04.2015 um 05.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#28528

In einer Besprechung von Heinrich Deterings neuem Gedichtband bezeichnet Friedmar Apel es as Zesens "Marotte, lateinische Bildungen einzudeutschen" (FAZ 2.4.15). Es mag sich bei den Sprachreinigern ins Marottenhafte gesteigert haben, aber insgesamt war die Bewegung, wie wir hier schon besprochen haben, berechtigt und erfolgreich. Man muß ja auch bedenken, daß im Augenblick der Tat niemand weiß, wohin die Reise geht. Wissen wir's denn?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.05.2016 um 06.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#32698

Dieses Jahr kann auch der SPIEGEL ein Jubiläum feiern:

Für den SPIEGEL ist klar: Er wird die Reform ignorieren, es bleibt beim gewohnten Deutsch. (14.10.1996)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.05.2017 um 06.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#35067

Spiegel-Bestseller-Autor Andreas Hock schreibt nach dem gerade erschienenen Bestseller gleich einen neuen Bestseller, der im Herbst erscheinen wird. Und es gibt noch mehr davon, alle irgendwie über den Niedergang (der Sprache, der Umgangsformen...). Offenbar wird das gern gelesen. Der Lustgewinn besteht wohl in der Sickschen "Schadenfreude".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.04.2019 um 18.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=655#41275

Nämlich "daß [sic] in den 20 Jahren von 1960 – 1980 die bisher geltenden Maßstäbe in Fragen Sexualität vollkommen weggebrochen sind und eine Normlosigkeit entstanden ist".

So zitiert der SPIEGEL den jüngsten Aufsatz Joseph Ratzingers im „Klerusblatt“ über die Ursachen des sexuellen Mißbrauchs. Offenbar hat die Redaktion die Rechtschreibreform so verinnerlicht, daß ihr schon ein ß kommentierungsbedürftig erscheint – als wenn es nicht immer noch viele Texte in herkömmlicher Rechtschreibung gäbe. Wahrscheinlich soll auch die Verstocktheit des früheren Papstes vorgeführt werden.
 
 

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