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27.09.2006
„Es gibt keine nennenswerten Probleme mehr.“
Wie Hans Zehetmair den Rechtschreibfrieden herbeiführte
Der „Rat für deutsche Rechtschreibung“ wurde auf Anregung der Kultusministerinnen Schavan und Wolff sowie ihres Kollegen Reiche (alle CDU) gegründet, weil die Zwischenstaatliche Kommission und der ihr nachträglich zugeordnete Beirat für deutsche Rechtschreibung die Mängel der Reform nicht beheben konnten und daher „keine ausreichende Akzeptanz“ (Wolff) gefunden hatten.
Besonders schwer wog, daß die Kommission sich weigerte, mit der kompromißfreudigen Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zusammenzuarbeiten. Der Beschluß zur Auflösung der Kommission wurde auf der Plenarsitzung der KMK am 3./4.6.2004 gefaßt, anschließend fand die Abstimmung mit den anderen deutschsprachigen Staaten statt. Als Vorsitzenden schlug die KMK den für die Rechtschreibreform mitverantwortlichen Kultusminister a. D. Hans Zehetmair vor. Die Mitglieder rekrutierten sich fast ausschließlich aus der Kommission und dem Beirat.
Zehetmair bekundete in den ersten Monaten seine Bereitschaft, die im Statut vorgesehene Unabhängigkeit des freilich sehr einseitig besetzten Rates zu wahren. Die KMK hatte zwar den Wunsch geäußert, zunächst nur die Getrennt- und Zusammenschreibung, die Zeichensetzung und Silbentrennung bearbeiten zu lassen, aber das Eingehen auf diese Prioritätensetzung sollte keine endgültige Beschränkung auf diese Hälfte von sechs Regelungsbereichen bedeuten. Die KMK-Präsidentin Ahnen stellte fest: „Es gibt keine Zielvorgabe.“ (SPIEGEL-Gespräch am 22.11.2004) Ihre Nachfolgerin Wanka antwortete einem Bürger brieflich: „Sie bitten darum, dem Rat für deutsche Rechtschreibung Freiheit und Zeit zu geben. Freiheit hat er in der Tat, da er keine Vorgabe bekommen hat hinsichtlich seiner Themenwahl. Auch die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz und der Kultusministerkonferenz aus dem vergangenen Jahr sind nicht als thematische Einengung anzusehen, sondern als thematische Prioritätensetzung. In diesem Zusammenhang hat der Rat auch Zeit, denn er ist nicht gebunden, zu einem bestimmten Termin Vorschläge zu unterbreiten.“ Als die Reparaturarbeiten im Sommer 2005 weiter auszugreifen drohten, zog die KMK die Notbremse und machte denjenigen Teil der Regeln, den der Rat noch nicht bearbeitet hatte, ab 1.8.2005 für die Schulen verbindlich, um ihn auf diese Weise der Überarbeitung zu entziehen – zum Verdruß Zehetmairs, der aber dennoch während der Julisitzung keinen Beschluß des Rates zu einem entsprechenden Antrag der Union der Akademien der Wissenschaften herbeiführen wollte. KMK-Generalsekretär Erich Thies beschwichtigte am 7.6.2005 brieflich: „[Die Teilverbindlichmachung] schließt überhaupt nicht aus, dass der Rat auch in anderen Bereichen der Rechtschreibung Vorschläge vorlegt.“ Zehetmair gab im Rat bekannt, daß Druck auf ihn ausgeübt werde, was die Behandlung weiterer Themenbereiche betraf; dem wolle er aber nicht nachgeben, wie er auch öffentlich erklärte: „Der Rat wird es sich nicht nehmen lassen, sich auch mit anderen Bereichen der Rechtschreibreform zu beschäftigen, um auch hier evidente Ungereimtheiten zu beseitigen.“ (Süddeutsche Zeitung vom 24.7.2005)
Am 24.11.2005 fand eine Telefonkonferenz der Kultusminister statt, zu der auch Zehetmair zugeschaltet war. Die Minister mahnten ihn dringlich, „der Rat möge die Vorschläge zu den einzelnen Bereichen so rechtzeitig vor ihrer Sitzung am 2. und 3. März vorlegen, dass endgültig darüber befunden werden könne. Nur auf diese Weise sei ein Inkraftsetzen zum Schuljahr 2006/07 gewährleistet.“ (Protokoll der Ratssitzung vom 25.11.2005; hier tritt zum erstenmal das Stichwort „endgültig“ auf.) Zehetmair machte sich nun diesen Termindruck zu eigen und arbeitet in den nächsten Monaten darauf hin, die Arbeit des Rates vorzeitig zu beenden. Zwei bereits anberaumte Sitzungstermine und eine schon angekündigte Anhörung zur Groß- und Kleinschreibung sagte er ab. Der Rechtschreibrat folgte ihm gern, bestand er doch nach meinem Austritt nur noch aus Mitgliedern, denen die Durchsetzung der Reform am Herzen lag.
In den „Empfehlungen“ des Rates vom Februar 2006 wird mit folgenden Worten Vollzug gemeldet: „Der Umfang der gemachten Vorschläge entspricht dem Auftrag der staatlichen Stellen.“ Einen solchen Auftrag staatlicher Stellen gab es nicht und konnte es nicht geben.
Obwohl die Empfehlungen offiziell immer nur als Zwischenergebnis behandelt wurden, waren fortan die Dudenwerbung und die sonstige Reformpropaganda auf den Tenor „Abgeschlossenheit“ und „Endgültigkeit“ gestimmt. Zehetmair kam nie wieder auf die Absicht zurück, weitere Kapitel der Neuregelung zu überarbeiten.
Im zeitigen Frühjahr 2006 reiste Zehetmair zu den großen Zeitungsunternehmen (SPIEGEL, Axel Springer Verlag, F.A.Z ...) und versuchte sie zu überreden, sich der zu erwartenden konservativen Auslegung der Reform durch den nächsten Duden anzuschließen. Als der Duden erschien und Zehetmair darauf aufmerksam gemacht wurde, daß das Wörterbuch in zahllosen Fällen die radikaleren Reformschreibweisen von 1996 empfahl und damit nicht nur die gesamte Arbeit des Rechtschreibrates desavouierte, sondern die Werbetour des Vorsitzenden nachträglich in ein schiefes Licht rückte, reagierte er mit verständlicher Gereiztheit.
Im August ließ Zehetmair sein Grußwort auf der Internetseite des Rates ändern. Hier zum Vergleich die entscheidenden Passagen:
2005:
„Die Einrichtung eines 'Rats für deutsche Rechtschreibung' ist die Antwort auf die anhaltende Kritik an der so genannten Rechtschreibreform.
Daher beschäftigt sich der Rat entsprechend den Beschlüssen der Ministerpräsidenten- und Kultusministerkonferenz zunächst vorrangig mit den strittigsten Fragen der bestehenden Neuregelung der Rechtschreibung, nämlich der Getrennt- und Zusammenschreibung, der Zeichensetzung und der Worttrennung am Zeilenende.
Darüber hinaus kommt dem Rat für deutsche Rechtschreibung die langfristige Aufgabe zu, die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum zu bewahren, die Entwicklung der Sprachpraxis zu beobachten und das orthografische Regelwerk im notwendigen Umfang weiterzuentwickeln.“
2006:
„Die Einrichtung eines 'Rats für deutsche Rechtschreibung' in der bestehenden Form war im Dezember 2004 die Antwort auf die anhaltende Kritik an der so genannten Rechtschreibreform.
Daher beschäftigte sich der Rat zunächst mit den strittigsten Fragen der bestehenden Neuregelung der Rechtschreibung, nämlich der Getrennt- und Zusammenschreibung, der Zeichensetzung und der Worttrennung am Zeilenende. Als Ergebnis dieser Arbeit des Rates wurde im Februar 2006 ein Text des Regelwerks vorgelegt, der in diesen Punkten Modifikationen vorsah. Dieser Vorschlag wurde von den zuständigen politischen Stellen in den beteiligten Staaten gutgeheißen und in der Zwischenzeit für gültig erklärt.
Nach dem Abschluss dieser akuten Aufgabe kann sich der Rat für deutsche Rechtschreibung seiner langfristigen Aufgabe zuwenden, die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum zu bewahren, die Entwicklung der Sprachpraxis zu beobachten und das orthografische Regelwerk im notwendigen Umfang weiterzuentwickeln.“
Die Neufassung tilgt den Hinweis darauf, daß die gewaltsame Themenbegrenzung auf den Wunsch der Ministerpräsidenten und Kultusminister zurückging. In der Neufassung scheint es so, als habe der Rat nie etwas anderes gewollt und nicht etwa einen „Auftrag staatlicher Stellen“ erfüllt. Außerdem wird der Eindruck verstärkt, daß die Korrekturen am Regelwerk nun abgeschlossen und keine weiteren Änderungen mehr geplant seien.
Beide Änderungen dokumentieren die vollständige Unterwerfung Zehetmairs und des Rechtschreibrates unter die Wünsche der Politik. Noch im SPIEGEL-Gespräch vom 6.6.2005 hatte Zehetmair gesagt: „Wir werden uns wie geplant gegen Ende des Jahres auch die Groß- und Kleinschreibung vornehmen. Wir sind ein völlig unabhängiges Gremium.“ Davon ist nichts mehr übrig.
Bei der Ratssitzung am 22.9.2006 sind erwartungsgemäß keine inhaltlichen Fragen mehr diskutiert worden. Aus Zehetmairs Erklärung gegenüber der Presse geht hervor, daß er nicht einmal weiß, was orthographische Varianten sind. Jahrelang hatte er darauf bestanden, daß bei sitzenbleiben und auseinandersetzen die unterschiedliche Bedeutung durch unterschiedliche Schreibweise erkennbar sein müsse. Der Rat hat unter seiner Leitung in beiden Fällen anders (und zwar jeweils unterschiedlich) entschieden, und man muß annehmen, daß der Vorsitzende es nicht einmal mitbekommen hat. Seine Unkenntnis der orthographischen Tatsachen führte im Rat und in den Pressekonferenzen zu mancher Peinlichkeit. Immerhin mußte er während der letzten Sitzung berichten, daß beim Axel-Springer-Verlag inzwischen Zweifel aufgekommen waren, ob die Entscheidung für die neue Dudenversion, die Zehetmair bei seiner Werbetour empfohlen hatte, der richtige Weg gewesen sei. (In den Blättern des Konzerns geht weiterhin alles durcheinander.)
Die Presse berichtete am nächsten Tag:
„'Der Rat hat sich verständigt, in der nächsten Zeit nicht mit Empfehlungen zu kommen, weil der Markt (!) und die Menschen erst mal beruhigt werden sollen.' Mit diesen Worten beendete Hans Zehetmair die neunte Sitzung des Rats für deutsche Rechtschreibung in München.“ (SZ 23.9.2006)
Erst im Juni 2007 will sich der Rat wieder treffen, um über die Akzeptanz von Schreibweisen wie Spag(h)etti zu sprechen; er wird aber, wie Zehetmair vorsorglich ankündigte, keine Änderungen empfehlen. Der Presse teilte er mit: „Es gibt keine nennenswerten Probleme mehr.“ Einige Monate zuvor wußte er recht gut, welche Probleme es noch zu besprechen gab. Der Rat hat in den Augen der KMK seine Aufgabe erfüllt, er wird nur noch ein Schattendasein führen und könnte sich auflösen wie die anderen Gremien vor ihm. So sieht es auch Zehetmair selbst: „Das Ziel des Rates wäre seiner Ansicht nach erreicht, wenn das Gremium mangels Aufgaben in Vergessenheit geraten würde: ‚Glauben Sie denn’, so der CSU-Politiker, ‚dass ich an dem Job hänge?’“ (Mannheimer Morgen 23.9.2006)
Diese Äußerung ist besonders bemerkenswert. Im Statut des Rates heißt es:
„Dieser Rat hat die Aufgabe, die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum zu bewahren und die Rechtschreibung auf der Grundlage des orthografischen Regelwerks (Regeln und Wörterverzeichnis von 1996 in der Fassung von 2004) im unerlässlichen Umfang weiterzuentwickeln.
Hierzu gehören insbesondere
– die ständige Beobachtung der Schreibentwicklung,
– die Klärung von Zweifelsfällen (der Rechtschreibung),
– die Erarbeitung und wissenschaftliche Begründung von Vorschlägen zur Anpassung des Regelwerks an den allgemeinen Wandel der Sprache.“
Die Reparatur des vorliegenden Regelwerkes, mit der sich der Rat bisher ausschließlich beschäftigt hat, gehört also offiziell gar nicht zu seinen Aufgaben. (Damit setzte sich nur die Verschleierungstaktik fort, die schon die Arbeit der Zwischenstaatlichen Kommission bestimmt hatte. Auch dieses Gremium befaßte sich während seiner siebenjährigen Existenz mit nichts anderem als der Reparatur der Regeln, aber offiziell lautete sein Auftrag fast genauso wie jetzt beim Rat. Bei der konstituierenden Sitzung der Kommission am 25.3.1997 hatte KMK-Präsident Wernstedt die Aufgabe übernommen, die Öffentlichkeit zu täuschen: „Vorrangige Aufgabe ist also zunächst die Klärung von Zweifelsfällen bei der Begleitung der Umsetzung des Regelwerks und nicht - wie vielfach in der Öffentlichkeit behauptet - die nochmalige Veränderung oder sogenannte Nachbesserung der vorliegenden Regeln. [...] Die Kommission ist also keineswegs - dieser Eindruck wird gelegentlich in der Öffentlichkeit geweckt - eine Reaktion auf die Kritik an der Neuregelung.“)
In seinem „Grußwort“ auf der Internetseite des Rates wiederholt Zehetmair die Formulierung des Statuts, der Rat habe die „langfristige Aufgabe, die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum zu bewahren, die Entwicklung der Sprachpraxis zu beobachten und das orthografische Regelwerk im notwendigen Umfang weiterzuentwickeln.“ Ähnlich in seinem Vorwort zum neuen Wahrig, und in der Pressekonferenz nach der Ratssitzung am 28.5.2005 hatte er angekündigt, bald zum „eigentlichen Auftrag des Rates für deutsche Rechtschreibung zu kommen, nämlich die Sprache – ich sage dazu: unaufgeregt – zu beobachten.“
Wie paßt das alles zu Zehetmairs Wunsch, der Rat möge „mangels Aufgaben in Vergessenheit geraten“? Seinen vorgeblich „eigentlichen Auftrag“ hat er ja noch nicht einmal in Angriff genommen.
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Kommentare zu »„Es gibt keine nennenswerten Probleme mehr.“« |
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Kommentar von Ballistol, verfaßt am 28.09.2006 um 08.48 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=642#5636
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Es ist immer possierlich, wenn sie von der Beobachtung der Sprach- und Schreibentwicklung reden, denn dort finden sich ganz klare Befunde:
- Gerichtsurteile
- Volksentscheide
- Die Menge gedruckter Veröffentlichungen
- Die Schreibpraxis der meisten Menschen
- Umfrageergebnisse
- Sachkritik an Widersprüchlichkeiten des Regelwerks
- Die Meinung intellektueller und wissenschaftlicher Vorbilder, z. B. Nobelpreisträger.
Wer dies alles einmal unaufgeregt beobachtet, der findet sehr schnell seinen Abschied von der Reformkasperiade.
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Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 28.09.2006 um 09.47 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=642#5637
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Dieser Rat kann die Aufgabe überhaupt nicht leisten, das ist völlig absurd. Und so grotesk wie ärgerlich ist es, daß da immer noch steht, die "Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum zu bewahren". Denn sie ist ja weg.
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Kommentar von Ballistol, verfaßt am 28.09.2006 um 10.07 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=642#5638
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Die Betonköpfe im Ostblock dachten auch bis zuletzt, sie hätten Sozialismus. Solche Leute werden stets von der Geschichte fortgespült.
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Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 28.09.2006 um 22.29 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=642#5649
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Es wäre einmal einer gründlichen Untersuchung wert, warum auf Reformerseite ohne Unterlaß und fast ausschließlich getrickst, getäuscht und gelogen wird. Meiner Meinung nach liegt das nicht nur an der charakterlichen Minderwertigkeit der handelnden Personen, sondern es muß eine tiefere Ursache in dem ganzen Komplex Rechtschreibreform selbst geben. Oder hat die Reform einfach das Kroppzeug angezogen wie das Aas die Schmeißfliegen? Wird man als Betreiber und Verteidiger der Reform gleichsam durch Kontamination zum Lügenbold, weil die Reform selbst schon ein unsauberes, verlogenes Machwerk ist? (Ein Sprichwort lautet: Wer Dreck anfaßt, besudelt sich!)
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Kommentar von K.Bochem, verfaßt am 29.09.2006 um 03.30 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=642#5653
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... es muß eine tiefere Ursache ... geben ...
Das fragt man sich in meiner Umgebung schon eine ganze Zeit. Eines scheint offensichtlich: Den Reformbetreibern ist die Lust an ihrer Arbeit vergangen, seitdem längst klar ist, daß ihre seit langem angestrebten ursprünglichen und eigentlichen Ziele – in der Hauptsache wohl, wenn ich das richtig sehe, die totale Kleinschreibung und die totale Fragmentierung des Wortschatzes, also weitestgehende Unterdrückung des spontanen Wortbildungsmittels Zusammensetzung – nicht durchzusetzen sind. Sie kümmern sich nicht mehr wirklich und ernsthaft um unser höchstes Kulturgut (es gibt Zweifel, ob sie dazu überhaupt jemals bereit und fähig waren), sie scheinen nur noch ihr Geltungsbedürfnis und ihre persönliche Empfindlichkeit ausspielen zu wollen. Was mit unser aller Sprache wird, scheint ihnen jetzt schlichtweg egal zu sein.
Dennoch – kann das die Tricksereien und Täuschungsmanöver begründen? Es muß einen tieferen Grund geben, so würde ich das auch sehen. Es gibt etwas zu verbergen, wenn man immer wieder mit Verdrehungen und Einschüchterungen die Öffentlichkeit hinters Licht zu führen sucht. Vielleicht ist der eigentliche Grund etwas, das mit der Sprache nur indirekt zu tun hat: die angestrebte bessere Verfügbarkeit – für wen auch immer – einer gestückelten und nivellierten Schrift für die digitalisierte und automatisierte Verarbeitung, man könnte auch sagen Manipulation und Kontrolle.... Vielleicht ist die Ursache all der unglaublichen Zumutungen aber auch nur Dickköpfigkeit und Dummheit, wie so oft im (politischen und beruflichen) Leben.
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Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 29.09.2006 um 06.14 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=642#5654
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Die war’s!
In einer Pressemitteilung vom 29.11.04 gibt die Kultusministerin M. Hohlmeier (die ist ja nun auch schon weg) ihrer Freude darüber Ausdruck, daß die KMK ihrem Vorschlag gefolgt sei und H. Z. zum Vorsitzenden berufen habe. Als besonderen Ausweis seiner Qualifikation hebt sie hervor, daß Z. schlimme Dinge wie "al", "keiser" und die Kleinschreibung des "Heiligen Vaters" verhindert habe. (Der Katholik Z. selbst rechnet es sich als Verdienst an, daß der Papst nur auf dem Papier heilig ist.) Aber das schönste ist dies: Z. werde ein maßvoller Vermittler auf KMK-Ebene sein.
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Kommentar von Ballistol, verfaßt am 29.09.2006 um 07.55 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=642#5656
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Lieber Herr Bochem,
ich sehe zwei oder auch drei Hintergrundziele. Einerseits bin ich überzeugt, daß mit solchen Dingen – etwa auch mit der Sommerzeit, einem ganz ähnlichen Bereich – permanent die Duldungsbereitschaft der Bevölkerung für politische Zumutungen getestet wird. Solange dort nicht aufgemuckt wird, kann man auch Rentenreformen oder Hartz 6 verabschieden. Und wenn aufgemuckt wird, dann kann man das sogar noch als Ablenkungsscharmützel nutzen und woanders schlimmere Dinge durchsetzen.
Zweitens ist es zielmich offensichtlich, daß ein Lenken der Sprache zu einem Lenken des Denkens führt. Plötzlich wurden Wörter verboten und Sinninhalte verändert, und keiner will's gewesen sein. Der ganze Bereich der politisch korrekten Sprache, den Prof. Ickler hier in wünschenswerter Opulenz dargestellt hat, läuft ebenfalls in diese Richtung. Und wo sind da die Betreiber? Keiner ist zu fassen.
Sie sehen: Ich vermute gezielte Manipulation auf zwei bis drei Ebenen. Rebellion gegen Sommerzeit, Korrektsprache und Rechtschreibreform bedeutet Kampf gegen die Steuerung unseres Denkens.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.09.2006 um 16.09 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=642#5662
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Es ist gut, daß kratzbaum noch einmal in Erinnerung gerufen hat, wer seinerzeit Zehetmair als Vorsitzenden des neu-alten Gremiums vorgeschlagen hatte. Der Charakter eines Menschen kommt am deutlichsten zum Vorschein, wenn man seinen Umgang mit Untergebenen beobachtet. Dankenswerterweise war der Bericht über Einzelheiten aus dem Hohlmeier-Untersuchungsausschuß hier schon einmal eingestellt worden. Eine richtige Dolores Umbridge! Für uns hier ist interessanter, daß somit alles im selben Hause blieb, dem bayerischen Kultusministerium. Die Berater der Frau Hohlmeier wußten ebensogut wie die KMK, daß der Vorsitzende Wachs in ihren Händen sein würde und man um die Durchsetzung der Reform nun nicht mehr besorgt zu sein brauchte. Kleinere Versuche, sich freizuschwimmen, wurden alsbald erstickt.
Übrigens kann man zur Zeit in Berlin beobachten, wie Lobbyarbeit funktioniert (gegen "übertriebenen Nichtraucherschutz"), nur daß der Arm der Cigarettenindustrie natürlich viel weiter reicht als der der Schulbuchlobby. Leider habe ich mein jahrelang fortgeführtes Dossier über die Tabaklobby vor einiger Zeit entsorgt, samt Funktionärsbriefen und bestellten Gutachten, es war sehr lehrreich. Bei der Schulbuchlobby sind die Dimensionen bescheidener, dafür ist alles leichter zu durchschauen.
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Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 30.09.2006 um 05.19 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=642#5677
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Die genannten Hintergrundziele mögen in einer Kosten-Nutzen-Überlegung der Fädenzieher und -halter eine gewisse Rolle spielen, sind aber nicht ausschlaggebend. Es braucht keine solchen zusätzlichen Experimente, um die Leidensfähigkeit der Bevölkerung zu testen oder ihr Selbstbewußtsein am Wachsen zu hindern. Jede neue politische Zumutung ist Test und Beweis genug, und an Zumutungen herrscht nie ein Mangel.
Der Grund ist ganz einfach, daß es ein paar eingebildeten Damen und Herren peinlich wäre, einen Irrtum eingestehen. Der Unsinn wird folglich zur Partei- und Staatsdoktrin, und wer in der Umgebung aufzumucken wagt, wird alsbald bedroht, notfalls degradiert oder ausgeschaltet. Das ist doch nichts Neues. Dafür müssen eben alle möglichen Ausreden herhalten: "Wir müssen auf die Schüler Rücksicht nehmen" usw.
Ich leite daraus eine allgemeine Gesetzmäßigkeit ab, nach der jedenfalls deutsche Politik grundsätzlich eine Tendenz zur schlechten Lösung hat. Politiker experimentieren immer hier und dort herum, ändern also die Politik regelmäßig. Sobald aber eine sehr schlechte Lösung gewählt wurde, wäre es den Verantwortlichen peinlich, das einzugestehen, denn das würde ihre Karriere gefährden. Also wird gerade dann verteidigt bis zum Gehtnichtmehr. Schlechte Politik wird deshalb konsequent durchgehalten, während gute Politik, die nicht verteidigt zu werden braucht, ohne weiteres geändert werden kann.
In der Politik gilt: The survival of the silliest. The survival of the worst. The survival of the unfittest. The survival of the Rechtschreibreform.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.04.2017 um 03.20 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=642#34841
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Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=642#5662
Hier könnte man jetzt nachtragen:
http://edoc.vifapol.de/opus/volltexte/2011/2988/pdf/AP_1_2010.pdf
Auszug (Dokument der Tabakindustrie):
„Aber die deutsche Zigarettenindustrie war sich der Tatsache sehr bewusst, dass sie nicht einfach für sich selbst sprechen konnte, weil sie zu sehr parteiisch war hinsichtlich
der wissenschaftlichen Fragestellung der gesundheitlichen Folgen des Passivrauchens.
Aber der deutschen Zigarettenindustrie ist es gelungen, unabhängige Wissenschaftler
zu mobilisieren, die sich mit dem Thema Passivrauchen auseinandersetzten.
Dies war nur deshalb zu bewerkstelligen, weil es der deutsche Zigarettenindustrie
schon seit langem gelungen war, eine langfristige Zusammenarbeit mit der scientific
community außerhalb der Industrie aufrecht zu halten. Dieses förderte Ansehen, Vertrauen,
Ernsthaftigkeit und Verantwortlichkeit der deutschen Zigarettenindustrie. Auf
dieser Basis entstand 1977 ein offener Disput zwischen der deutschen Anti-Raucher-Lobby und den angesehenen Wissenschaftlern der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin
(DGfAM)). Dabei bezogen die Vertreter der DGfAM den wissenschaftlichen
Standpunkt, dass die Schädlichkeit des Passivrauchens nicht erwiesen sei. Da es zu dieser
Zeit alarmierende Signale aus dem Bundesministerium für Gesundheit in Richtung,
dass an einem Entwurf für ein Nichtraucherschutzgesetz gearbeitet wird, entschied sich
die deutsche Zigarettenindustrie 1977 dazu, in München eine Konferenz auf einem hohem
wissenschaftlichen Niveau zum Thema Passivrauchen durchzuführen.
„Der offizielle Organisator dieser Konferenz war die Bayerische Akademie für Arbeits- und
Sozialmedizin. Die aktiven Teilnehmen bestanden größtenteils aus angesehenen
Medizinern und Juristen. Die Konferenz wurde von bedeutenden Personen aus dem
Gesundheitsbereich einschließlich offizieller Vertreter des Bundesgesundheitsministeriums
besucht. Ingesamt kam die Konferenz zu der Schlussfolgerung, dass Passivrauchen
keine gesundheitsabträglichen Auswirkungen auf Nichtraucher hat und deshalb keine gesetzlichen Maßnahmen zum Nichtraucherschutz erforderlich sind. Dieses Ergebnis
beeindruckte das Gesundheitsministerium. Das intendierte Gesetz des Gesundheitsministeriums
wurde deshalb revidiert in lediglich programmatische Ausführungen und
Empfehlungen ohne jedwede gesetzliche Verpflichtungen.
Als das Gesundheitsministerium 1980 erneut zum Passivrauchen befragt wurde, führte
der Sprecher des Ministeriums im Parlament aus, dass der aktuelle epidemiologische Forschungsstand zeige, dass Passivrauchen nicht als Risikofaktor für den Lungenkrebs
angesehen werden kann. Infolge dieser eindeutigen Aussage verringerte sich auch der
vorher weit größere Einfluss der Anti-Raucher-Lobby auf das Gesundheitsministerium.
Die Taktik der deutschen Zigarettenindustrie mit dem Ziel, die Anti-Raucher-Lobby in
Deutschland von der wissenschaftlichen Community zu isolieren und deren quasireligiösen
Fanatismus bloß zu stellen, ist damit aufgegangen.“
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.01.2019 um 08.51 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=642#40580
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Zur Erinnerung:
Interview des DLF mit KMK-Präsidentin Johanna Wanka vom 19.7.2005:
Wanka: Die Absicht war ja, durch die Rechtschreibreform es einfacher zu gestalten, in Deutsch zu schreiben; und die Schüler, die nach den neuen Regeln nun ja seit sieben Jahren lernen, kommen damit sehr sehr gut zurecht.
Wenn man bedenkt, mit was für einem Volk man sich die ganze Zeit herumschlagen mußte!
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