zurück zur Startseite Schrift & Rede, Forschungsgruppe dt. Sprache    FDS - In eigener Sache
Diskussionsforum Archiv Bücher & Aufsätze Verschiedenes Impressum      

Theodor Icklers Sprachtagebuch

Die neuesten Kommentare


Zum vorherigen / nächsten Tagebucheintrag

Zu den Kommentaren zu diesem Tagebucheintrag | einen Kommentar dazu schreiben


21.05.2006
 

Die Partei, die Partei
Kurioses aus „Valerio“

In Hans Martin Gaugers Plauderei liest man:
»Was das Politische angeht, bin ich auch in unangenehmer Lage. Als Sozialdemokrat muß ich zerknirscht sagen, daß die zuständigen Kultusminister dieser Partei, auch deren Ministerpräsidenten, hier besonders festgefahren waren.“ Usw.
Zehetmair, dem Gauger menschliche Größe attestiert, gab sich auch zerknirscht, was ihn aber nicht hindert, seine Reform weiter durchzusetzen und den Gedanken an Rückkehr schroff abzuweisen.
Nun, was die Parteizugehörigkeit betrifft (Eisenberg ist m. W. auch Sozialdemokrat – wer von den Reformern eigentlich noch? Hentig?), so kann der unangenehmen Lage abgeholfen werden. Auch ich habe mal einer Partei angehört (keiner von den großen natürlich, das liegt mir nicht) und sogar für den bayerischen Landtag kandidiert. Aber ich bin selbstverständlich sofort ausgetreten, als das Mitteilungsblatt gegen meine ausdrückliche Warnung auf die Reformschreibung umgestellt wurde. Wer in dieser absurden Weise vor dem Staat kuscht, muß es mit sich selbst ausmachen, jedenfalls ohne mich.



Diesen Beitrag drucken.

Kommentare zu »Die Partei, die Partei«
Kommentar schreiben | älteste Kommentare zuoberst anzeigen | nach oben

Kommentar von GL, verfaßt am 30.05.2006 um 20.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4227

Auf die Frage von Herrn Jan-Martin Wagner vom 28.05.2006

Die herrschende Moral verlangt heute doch vor allem – eine Frage der Ethik – nach makellosen Bilanzen.

Wurde das eigentliche Problem schon einmal angeschnitten und warum findet eine kritische Auseinandersetzung nicht statt, fehlt so vollständig, dass den Entscheidungsgewaltigen geradezu schwindlig sein muss? Diese treffen offensichtlich auf keinen nennenswerten Widerstand und eine öffentliche Meinung existiert angeblich nicht. Alles wird scheinbar stillschweigend gebilligt.

Eingeschläferte Kritikfähigkeit und Klarheit rufen zwar keinen Beifall hervor, werden aber doch von handlungsfähigen Teilen der Gesellschaft schweigend gebilligt. Dieses Schweigen, das zum wirkungsvollsten Helfershelfer der Ausweitung wurde, wird auch heute noch nicht zur Kenntnis genommen. Aufgabe der Kultur (und nicht der Politik) besteht unter anderem doch darin, Kritik an den einfältigen Schulmeistereien hervorzuheben, und dieser Kritik die erforderlichen Mittel zu verleihen. Es zu ermöglichen, auch anderes vernehmen zu lassen. Sollte die Kultur nicht lehren, der Kritik zuzuhören, ihre Sprache wahrzunehmen? Das würde jedoch bedeuten, sich ein wenig vom herrschenden Gegacker zu befreien, weniger im allgemeinen Geschwätz verhaftet zu sein, dem Denken wieder mehr Platz zu schaffen. Denken kann bekanntlich nicht gelehrt werden, es ist die natürlichste Sache der Welt - aber auch die Tätigkeit, von der man sich am leichtesten ablenken lässt. Noch schlimmer: Denken kann verlernt werden.

Warum nur wird heute Kindern und Jugendlichen kulturelle Werte wie die der Sprache entzogen? Etwa, weil diese künftig kein lukratives Käuferpotential darstellen oder gar für einen Lehrplan konditioniert werden, der seine Ausgrenzung vorsieht? Gar unbrauchbar für eine Marktwirtschaft, für die sie künftig keine potenzielle Quelle des Profits mehr sein werden? Warum wird dieses Ereignis nicht wahrgenommen, später aber als "unsäglich" bezeichnet?

Es würde Stärke schaffen, noch zu denken und zu sprechen, bevor es zu spät ist. Versuchen, hellsichtig zu sein, zumindest mit einer gewissen Würde zu leben und mit einer gewissen "Intelligenz" leben zu dürfen.
 
 

Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 30.05.2006 um 12.00 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4219

Vor einer Weile hatte ich einen etwas anderen Versuch gemacht: einen Text, der viele Schreibweisen enthält, die nach alten oder neuen Regeln problematisch sind, eine bunte Mischung von falsch und richtig, neu-falsch und alt-richtig usw. – damit klar wird, was für eine Verwirrung da angerichtet wurde und was für unvorhergesehene Folgen. Verunsicherung des Lesers ist das Ziel, nicht Belehrung, es folgt dann aber ein passender Kommentar. Anlaß war das Erscheinen des letzten Wahrig.
Hier ist der Text:
www.allegro-c.de/formate/neufehler.htm
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 30.05.2006 um 10.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4217

Ich möchte den Vorschlag von Frau Pfeiffer-Stolz erweitern: Ein Preis für einen Demonstrationstext mit möglichst vielen möglichst häßlichen reformierten Schreibweisen, aber genau nach den neuen Regeln, so richtig zum Abgewöhnen. Die meisten Leute sind ja erst aufgewacht, als sie den Rechtschreibmüll in den Zeitungen lasen. Aber dort kann man Merkwürdigkeiten auch für Schreibfehler halten.
 
 

Kommentar von Ablativus absolutus, verfaßt am 29.05.2006 um 10.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4207

An Germanist: Friedrich Engels bezeichnete genau das als "Negation der Negation".

Zur Debatte, woher die Deutschen diesen elenden Gehorsam haben:

Lesen Sie Bücher über den Bauernkrieg und darüber, was danach mit den Bauern gemacht wurde. Dann wissen Sie's.
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 28.05.2006 um 14.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4206

Nicht ohne Grund führt die Debatte über die Rechtscheibreform und besonders über die Begleitumstände ihrer Einführung und Durchsetzung immer wieder auf weit über das rein Inhaltliche hinausreichende Fragen politischer, völkerpsychologischer und allgemeingesellschaftlicher Natur. Das liegt auch daran, daß die Reform inhaltlich so dürftig ist und nach dem Urteil einer überwältigenden fachgelehrten Mehrheit schlicht und einfach "auf den Müll" gehört. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist die Reform schnell erledigt. So richtet sich das Augenmerk auf die Reform als Symptom. Ich bin überzeugt, daß hier auch der Schwerpunkt einer noch zu schreibenden Geschichte der Reform (und ihres Scheiterns) liegen wird. Wie Prof. Ickler in seinem Vorwort zur "Regelungsgewalt" sagt: Eine Frage, die uns wohl noch eine ganze Weile beschäftigen wird: Wie war es möglich?
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 28.05.2006 um 14.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4205

Zu den Anregungen von Herrn Achenbach (#4198): Das Diskussionsforum bietet alle genannten Möglichkeiten (unter anderem gibt es schon die „Rubrik für alles mögliche und alles Mögliche“), man kann neue Diskussionsfäden einrichten und bereits anderswo vorhandene Beiträge verlinken. Nur zu!
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 28.05.2006 um 13.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4204

GL (#4191): »Auf die Frage von Frau Pfeiffer-Stolz, wie man Menschen resistent macht gegen obrigkeitliche Dummheit?

Ganz einfach und aus persönlicher Erfahrung: "mit Geld".«

Na ja, wenn's ums Geld geht, kann alles mögliche passieren – wie etwa das, was in dem folgenden Artikel diskutiert wurde: „Falls die Rechtschreibreform kippt, werden die Schulbuchverlage wohl die Kosten abwälzen.“ (Westdeutsche Zeitung vom 10. August 2004, http://www.wz-newsline.de/sro.php?redid=57994 – dies auch zum Thema „ausbaden“ bzw. „auslöffeln“) Woran hatten Sie also konkret mit Ihrer Bemerkung „mit Geld“ gedacht?
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 28.05.2006 um 12.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4203

Wolfgang Wrase:
"Was mich betrifft: Ich bin dafür, daß die Deutschen nun die Suppe auszulöffeln haben. Wir haben lange genug erzählt, daß ihnen diese Suppe nicht bekommen wird. Wenn sie das nicht interessiert, sage ich irgendwann: Bitte sehr, guten Appetit!"

An diesem Punkt bin ich nun auch angekommen. War ich bis vor kurzem in unseren veröffentlichten Lernhilfen noch um Vermeidungsschreibung oder klassische Orthographie bemüht, fühle ich inzwischen das teuflische Verlagen, es genau umgekehrt zu machen: besonders viele sss-Wörter, besonders häufig dass-Sätze und andere "Scheusslichkeiten" einbauend. Wenn ihr es nicht anders wollt, bittesärr!

Im Grunde, so erkenne ich jetzt, bewirkt die Vermeidungsschreibung das Gegenteil dessen, was man erreichen will, und das wäre Abscheu vor den Ergebnissen der Reformschreibung. Wer sich um Vermeidungsschreibung bemüht, arbeitet den Reformern in die Hand, die da sagen: Alles doch nicht schlimm! Kann man doch lesen! Fast keine Änderungen. Wo ist das Problem?

Auslöffeln lassen, und zwar volle Suppe, das ist besser.

Für meinen Teil bin ich – auch nach all den Enttäuschungen – sicher, daß die Sprache gewinnt. Die Tradition gewinnt. Das Gewachsene sich durchsetzt. Nur: Die Sprache kann warten, unsere Wartezeit ist begrenzt ...
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 28.05.2006 um 00.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4202

Die Rechtschreibreform als Worthülse kann nicht zurückgenommen werden. Sie kann aber inhaltlich umgedreht werden. Das Endziel muß daher sein, unter dem Namen "reformierte Rechtschreibung" genau die z.B. Icklersche Rechtschreibung zu bekommen. Sprachgeschichtlich ist das dann eine Reform, die auf dem Weg über viele Irrtümer zum Bewährten zurückfindet.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 27.05.2006 um 23.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4200

Zu Herrn Achenbach: Die Frage, wie es soweit kommen konnte, gehört zum Thema. Die Antworten bieten nämlich Hinweise darauf, wie man aus dem Schlamassel wieder herauskommen könnte. Ich verkneife mir jetzt Betrachtungen darüber, ob die Haltung "Immer feste druff" typisch deutsch ist oder nicht. Trotzdem haben Sie natürlich recht, wenn Sie eine konzentriertere Diskussion der Ratsergebnisse fordern.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 27.05.2006 um 23.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4199

Die Diskussion bezieht sich auf einen Tagebucheintrag von Professor Ickler, in dem er sich mit Parteizugehörigkeit befaßt. Wir haben gesehen, daß es zwischen den Parteien im Endeffekt keinen Unterschied gibt. Wir hatten und haben eine Allparteienkoalition für die Rechtschreibreform und gegen die Bürger. Folglich kommt der Beitrag am Ende auf den gemeinsamen Nenner, über die Parteigrenzen hinweg: in absurder Weise vor dem Staat kuschen.

Das wiederum ist aber nicht auf Parteien oder Parteimitglieder beschränkt. So kommt man zu einem noch größeren gemeinsamen Nenner: Die Mehrheit kuscht, fast alle kuschen. Das ist noch eine Stufe absurder: Die Bürger unterwerfen sich ohne Not denjenigen, die ihnen einreden, daß die Wünsche der Bürger leider nicht berücksichtigt werden können, weil sie den Anordnungen des Staates widersprechen. Und das ist typisch deutsches Verhalten in Vollendung.

Wenn man jemanden fragt, der viel in der Welt unterwegs ist, wird man in der Auffassung bestätigt, daß sich die Mentalitäten der Völker ganz erheblich unterscheiden. Diese Auskunft gab mir zum Beispiel eine Flugbegleiterin, die seit zwanzig Jahren die Erde umrundet. Überall sind wir Deutschen dafür bekannt, pflichtbewußt, korrekt und penibel zu sein. Nahtlos schließt sich daran das übereifrige Erarbeiten, Befolgen und Weiterleiten aller möglichen Anordnungen und Gesetze an. Das ist so klar, daß es uns selbstverständlich erscheint. Aber trivial oder gar belanglos ist es nicht. Es ist auch nicht selbstverständlich, wenn man einmal den Blick über die Landesgrenzen riskiert hat.

Die Mentalität der Menschen entscheidet schließlich darüber, wie sie als Betroffene oder als Beteiligte mit der Rechtschreibreform umgehen. In meinem eigenen Umfeld war für mich seit vielen Jahren diese Mentalität des Kuschens, des Sichunterordnens, derart eindrücklich, daß ich sehr pessimistisch geworden bin.

Argumente? Das interessiert überhaupt nicht, höchstens als Gesprächsstoff. Argumente entscheiden nichts. Ich habe daraus die Schlußfolgerung gezogen, daß ich die Menschen in meiner persönlichen Umgebung nicht mehr mit Argumenten gegen die Reform behellige. Sie fühlen sich dadurch nur belästigt, weil ihre Entscheidung längst gefallen ist. Ich brauche auch nicht zu argumentieren, weil sie es alle schon wissen, auch ohne mich: Die Reform ist Mist, ist Unsinn, ist Sch... Es wäre besser, wenn es sie nicht gäbe. Aber das zählt nicht. Es zählt etwas anderes, und das gibt den Ausschlag. Für die Reform.

Was ich für den wesentlichen Grund für den bisherigen Erfolg dieser höchst idiotischen und schädlichen Reform halte, habe ich unter dem Begriff "typisch deutsch" zu beschreiben versucht. Es ist eine Verallgemeinerung: weg von Parteien, weg von Politikern, hin zu jedermann.

Die Deutschen begehren nicht auf, wenn ihre Kultur bedroht wird. Sie begehren nicht auf, wenn die Demokratie mißachtet wird. Sie begehren nicht auf, wenn der Staat in ihr Privatleben eingreift. Sie begehren gegen ihre Mitmenschen auf, wenn da einige eine Extrawurst braten möchten. Denn hierzulande wird schön in Reih und Glied gestanden.

Was mich betrifft: Ich bin dafür, daß die Deutschen nun die Suppe auszulöffeln haben. Wir haben lange genug erzählt, daß ihnen diese Suppe nicht bekommen wird. Wenn sie das nicht interessiert, sage ich irgendwann: Bitte sehr, guten Appetit!

Ich habe aber nichts dagegen, wenn andere es nach wie vor mit Argumenten versuchen wollen. Zugegeben, es stellt sich die Frage, was es dann überhaupt noch zu tun oder auch nur zu reden gibt. Ich meine, dafür braucht es einen Anlaß. Für mich ist das nächste vorhersehbare Ereignis, das einige Bewegung auslösen könnte – in welche Richtung auch immer –, die Neuauflage des Rechtschreibduden im Juli.
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 27.05.2006 um 20.02 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4198

Das einzige, was mir "typisch deutsch" vorkommt, ist die Neigung, bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit über das "typisch Deutsche" zu schimpfen. Gibt das einem vielleicht so ein wohliges Gefühl, daß man selbst zu den wenigen gehört, die nicht "typisch deutsch" sind? Das erinnert mich stark an die Vergangenheitsbewältiger, die immer nur die Vergangenheit der anderen bewältigen. Im übrigen schließe ich mich völlig dem kurzen, aber wie immer sehr treffenden Beitrag von Prof. Ickler an.

Nach dieser kleinen Abschweifung möchte ich anregen, wieder zum Thema zu kommen. Dazu einige wenige Vorschläge:
Ich rege an, einen Diskussionsfaden "Gott und die Welt" zu schaffen, damit alle, die gerne über das "typisch Deutsche", die Schlechtigkeit der Politiker und der Beamten, die Feigheit der Lehrer, über Ohmsche Widerstände usw., usw. räsonnieren, sich dort so richtig austoben können (ich beteilige mich gelegentlich auch gerne an diesen Diskussionen).
Dann rege ich an, einen oder mehrere Diskussionsfäden zum RSR und dessen Empfehlungen einzurichten. Mir scheint eine fundierte Diskussion vor allem über das bisherige (endgültige?) Ergebnis der Arbeit des RSR und dessen Bericht noch nicht so recht in Gang gekommen zu sein. Einige wertvolle Beiträge sind leider im Forum sehr verstreut und schwer wieder aufzufinden.

Ich fürchte nämlich, daß die gegenwärtigen Diskussionen in diesem Forum den Eindruck erwecken müssen, daß viele die Schlacht schon verloren gegeben haben und sich jetzt nur noch mit Wehklagen begnügen. Mir scheint, daß wir die gemeinsame Sache nur dadurch voranbringen können, daß wir beharrlich, immer und immer wieder, die Schwächen und Unsinnigkeiten der Reform, der reformierten Reform, der reformierten reformierten Reform usw. so klar wie nur möglich ans Tageslicht zerren. Ob es etwas nützt – wer weiß?
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 27.05.2006 um 18.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4197

Ist es nicht letztlich müßig zu fragen, ob die Reform und der Modus ihrer Durchsetzung typisch deutsch sind? Schließlich läßt sich die Fragestellung immer so drehen, daß die bejahende Antwort entweder trivial ausfällt (selbstverständlich war die Reform von 1996 mit all ihren Weiterungen nicht nur etwas typisch, sondern sogar singulär Deutsches) oder aber (es hat auch zu anderer Zeit und andernorts schon Rechtschreibreformen gegeben) falsch ist. (Das Modell für eine solche Debatte, die von einer unscharfen Fragestellung und ungeklärten Begriffen lebt, liefert der sogenannte Historikerstreit.)

So gesehen hätte die Feststellung "typisch deutsch" lediglich polemischen Wert. Man sollte ihn nicht unterschätzen, darf aber nicht übersehen, daß man damit auf dem Niveau des Gegners argumentiert, der seine Position ja gelegentlich auch gerne mit sühnedeutschen Begründungen untermauert ("deutscher Sonderweg" bei der Großschreibung u. dgl.).

Andererseits gibt es offensichtlich doch etwas "typisch Deutsches". Das absurde Gebaren von deutschen Fußgängern an roten Ampeln bei völliger Verkehrsruhe wurde als Beispiel schon genannt; es steht für eine Mentalität, die sowohl für die größten – vor allem militärischen – Leistungen der Deutschen als auch für ihre schlimmsten Schandtaten notwendige Bedingung ist. Diese Mentalität hat sowohl die militärische und politische Katastrophe des Zweiten Weltkriegs als auch die moralische Katastrophe des Judenmordes ungebrochen überstanden. Das zeigt nicht nur das bizarre Verhalten an roten Ampeln (es wird übrigens ebenfalls regelmäßig mit dem angeblichen Kindeswohl begründet), sondern eben auch die Willfährigkeit gegenüber staatlicher Sprachplanung.

Aber auch damit gibt es noch keinen hinreichenden Grund, der Frage nachzugehen, ob die deutsche Rechtschreibreform etwas typisch Deutsches sei. Genauer: Die Frage stellt sich schon, aber nur in anderen Ländern und für solche Kultuspolitiker, die dieselbe oder zumindest eine sehr ähnliche Reform planen und vorher abklären möchten, ob sie ihren Untertanen (bzw. Bürgern) so etwas zumuten können. Für die deutschsprachigen Teilnehmer an der Diskussion über die deutsche Rechtschreibreform scheint die Frage, mitsamt den möglichen Antworten, jedoch nicht handlungsrelevant zu sein.

Dennoch sollte man sie nicht aus den Augen verlieren. Hans Zehetmair war, bei aller sonstigen Inkompetenz, deshalb erfolgreich, weil er die Mentalität der Deutschen richtig einzuschätzen wußte. So hat er den privaten Briefeschreiber aus dem Konflikt befreit, entweder unhöflich ("du") sein oder etwas vermeintlich Unrechtes ("Du") tun zu müssen, und damit den "Rechtschreibfrieden" gefördert. Andere Konflikte nach dem Muster "Man macht es so oder so falsch" hat die Revision jedoch in genügender Menge bestehen lassen. Und da eröffnen sich dann sogar Handlungsmöglichkeiten.
 
 

Kommentar von rrbth, verfaßt am 27.05.2006 um 13.14 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4192

„Sie müssen den Radweg benutzen!“

Nicht unbedingt, wie man hier nachlesen kann:

»Ein Radweg darf nach der geänderten StVO mittels Z 237, 240 oder 241 nur dann als benutzungspflichtig gekennzeichnet werden, wenn die Benutzung des Radweges
- nach der Beschaffenheit und dem Zustand zumutbar
- die Linienführung eindeutig, stetig und sicher ist
- sowie die Anordnung der Radwegebenutzungspflicht erforderlich und verhältnismäßig ist.

Werden diese Kriterien nicht erfüllt, so darf nicht mit den o. g. Zeichen beschildert werden. Dann handelt es sich um einen "anderen Radweg"
 
 

Kommentar von GL, verfaßt am 27.05.2006 um 12.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4191

Auf die Frage von Frau Pfeiffer-Stolz, wie man Menschen resistent macht gegen obrigkeitliche Dummheit?

Ganz einfach und aus persönlicher Erfahrung: "mit Geld".
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 27.05.2006 um 10.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4189

"Was ist typisch deutsch?" (Wolfgang Wrase) Ich schildere mal zwei Erlebnisse, um meinen Eindruck zu veranschaulichen.

In den frühen sechziger Jahren (noch relativ wenig Autos) kam ich in Berlin mit einem amerikanischen Studienkollegen spät in der Nacht an eine leere Straßenkreuzung und blieb stehen, weil die Ampel rot war. Er war ganz erstaunt, daß ich auf einmal wartete, denn wir wollten ja schnell nach Hause. Ich machte ihn auf die Ampel aufmerksam: "Rot!" Er: "Aber hier ist doch jetzt nicht der geringste Verkehr!", und er ging los, ich schließlich drei, vier Meter zögernd hinterher. "Was würdest du sagen, wenn ein Polizist dich sähe?" Er (in aller amerikanischen Unschuld und selbstbewußt): "Ich würde ihm sagen, ich bin doch intelligenter als eine Maschine." Wir waren damals in unseren zwanziger Jahren.

Inzwischen habe ich das Leben in Amerika intensiver kennengelernt. Spät in der Nacht (ich hatte mich in Minneapolis verfahren, nicht der geringste Verkehr, jede Fahrtrichtung drei Fahrbahnen, mit breitem Trennstreifen zwischen den Fahrtrichtungen) wendete ich mit dem Auto an einer Ampel, nachdem sie auf Grün gesprungen war, und fuhr also zurück, — und da war auch schon nach 100 Metern die Polizei. "Wissen Sie, warum wir Sie angehalten haben?" — "Nun, ich habe da eine 'U-Kehre' gemacht", sagte ich mit meinem Akzent des Nicht-Eingeborenen, ich hätte mich leider verfahren. — "U-Kehren sind an Ampeln nicht erlaubt," wurde mir ernst gesagt, und ich zahlte also gleich mein Beet und bekam einige negative Punkte bei der staatlichen Verkehrsverwaltung eingetragen.
Tage später fiel mir ein, daß ich in meinem staatlichen Vorbereitungsheft zur Führerscheinprüfung zu U-Kehren nichts gelesen hatte, und ich fragte also nach. "Ja, in Minneapolis haben die da diese Verordnung. Da darf man an Kreuzungen mit Vorfahrtszeichen nicht wenden." — "Nicht überall im Staat?" — "Nein. In St. Paul [Minnesotas Hauptstadt und "Zwillings"-Stadt von Minneapolis und in den Vorstädten, ohne jeden Freiraum dazwischen] z. B. nicht. Mit Vorfahrtszeichen heißt übrigens nicht nur bei Ampeln, auch bei Stop-Zeichen." — "Aber nachts kann ich doch gar nicht sehen, ob an der Seitenstraße ein Stop-Zeichen oder ein Vorfahrt-beachten-Zeichen steht!" (Hier in den USA gibt es keine Zeichen, die anzeigen, daß man Vorfahrt habe — niemand "hat Vorfahrt" hier; eine sehr vernünftige Regelung! Es gibt nur Zeichen, daß man dem anderen die Vorfahrt gewähren muß.) Ja, ich hätte recht; nachts könne man das nicht immer sehen. Hätte ich also dem Polizisten da nach Mitternacht gesagt, ich hätte nicht gewußt, warum er mich angehalten hat, ich sei nicht aus Minneapolis, — ich hätte vielleicht eine Chance gehabt und wäre vielleicht nur mit einer kostenlosen Verwarnung davongekommen. Zeit zu so einem Gespräch wäre schon gewesen, denn da war ja zu der Nachtzeit nicht der geringste Verkehr...
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 27.05.2006 um 07.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4187

Hilfspolizei

Was ist typisch deutsch? Ich schildere ein Erlebnis, um meinen Eindruck zu veranschaulichen.

Radfahrer müssen sich in München Mühe geben, mit den Fußgängern nicht in Konflikt zu kommen. Die Radwege laufen mit den Gehwegen zusammen, da wird der Platz knapp, also muß man oft wie eine Oma fahren. An einem warmen Tag sehe ich, daß im Moment ganz wenig Autoverkehr neben mir ist, und ich habe spontan Lust, ein paar hundert Meter so schnell wie nur möglich zu fahren. Erik Zabel zu spielen. Das bietet sich an, weil auf den drei breiten Spuren für Autos, die in dieselbe Richtung laufen, fast nichts los ist. Auch hinten kommt kaum etwas nach. Ich bin zwar verpflichtet, den Radweg zu benutzen, aber die halbe Minute, denke ich mir, werde ich schon überstehen, ohne daß sich jemand von den zwei, drei Autofahrern aufregen wird, die es in dieser Zeit vielleicht schaffen, mich zu überholen. Eine halbe Minute Freiheit in München, ein einziges Mal! Und losgesprintet.

Ein Auto, das in fünf Meter Abstand an mir vorbeischleicht, hupt ausgiebig, während die große Ampel weiter vorn auf Rot steht. An der Ampel (wo ich wieder in den Radweg einmünden wollte) läßt die Fahrerin die Scheibe herunter und ruft mir in einer Endlosschleife die Belehrung zu, daß ich unbedingt den Fahrradweg benutzen müsse. "Sie müssen den Radweg benutzen!" "Sie haben doch endlos Platz gehabt! Die ganze Straße war doch frei! Ich habe niemanden behindert, oder?" "Das spielt keine Rolle, Sie müssen den Radweg benutzen! Nein, das müssen Sie! Da gibt es kein Diskutieren, das ist Ihre Pflicht!" Und so weiter.

An einem Einzelfall kann man nicht die Mentalität der Nation festmachen, aber ist das nicht typisch deutsch? In anderen Ländern hupt man eher, weil man jemanden vor Schaden bewahren will oder um jemanden zu grüßen oder einfach so, um der Lebensfreude Ausdruck zu verleihen. In Deutschland hupt man, um dem Mitmenschen unmißverständlich seine Empörung darüber zu Gehör zu bringen, daß er sich eines Fehlverhaltens schuldig gemacht hat. Denn das darf nie wieder vorkommen!
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 27.05.2006 um 07.15 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4186

Der Wolf und die sieben "Geisslein"

Die sieben "Geisslein", wie man neuerdings immer häufiger in pädagogischen Texten liest, erkennen nun mal das Böse nur an der "rauen" Stimme und an den "schwarzen" Füßen. Sobald diese Merkmale fortfallen – es könnte auch ein Oberlippenbärtchen sein, davon wußte aber Grimm noch nichts –, darf man dem Anklopfenden die Türen öffnen. Das ss hat weder eine "raue" Stimme, noch schwarze Füße, und es trägt auch kein Oberlippenbärtchen. Also lassen wir es ein.

Wie macht man Menschen resistent gegen obrigkeitliche Dummheit? Die Massengesellschaft ist schlecht dafür gerüstet.
 
 

Kommentar von Michael Schuchardt, verfaßt am 26.05.2006 um 22.34 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4185

Ich glaube, daß alle Menschen eine Orientierung suchen, die ihnen sagt, was richtig und was falsch ist. Früher war die Orientierung die Religion (in der westlichen Welt). Da die Religion diese Funktion nicht mehr ausübt oder nur noch in viel geringerem Maße, z. B. weil sie diskreditiert wurde (z. B. im Ostblock) oder weil sie in der westlichen Wohlstandsgesellschaft lästigt geworden ist (zu viele Pflichten), suchen sich die Menschen andere Orientierungspunkte. In der DDR sorgte "Die Partei" für die Orientierung.

Im Westen sind dann sog. Idole, z. B. aus dem Musikbereich, dem Sport u. a. Was der schlagartige Verlust der Orientierung bedeutet, das kann man am Beispiel der Bevölkerung der ehem. DDR ablesen.

Wenn ich selber nicht weiß, was ich tun oder sagen soll, dann lasse ich das meine Vorgesetzten machen. Ich behaupte, daß die meisten Angestellten – auch wenn sie anderer Meinung sind – Anordnungen widerspruchslos befolgen. Bloß nicht anecken, um nicht in den Fokus zu geraten, heißt hier die Devise.

Ich versuche oft das Thema RSR anzusprechen. Meistens wird mir zugestimmt, wenn ich sage, daß sie schlecht ist aber dann kommt auch gleich der Satz: Man wird sich daran gewöhnen.

Es ist ja so anstrengend, gegen etwas einzutreten, wenn man alleine ist, da ist es doch besser still zu sein und "Rutsch mit den Buckel herunter" zu denken. Das ist doch die Haltung der Masse der Bevölkerung. Hier kann nur eine mitreißende Persönlichkeit etwas anderes erreichen. Bitte aber jetzt nicht an den Unseligen aus Braunau am Inn denken. Es gab auch in der Geschichte bessere. Z. B. möchte ich Scharnhorst nennen.

Diejenigen, die in erster Linie solche Dinge vorantreiben oder aufhalten, bezeichnet man doch als die sogenannte Intelligenz. Ich frage mich:
Warum sind viele aus diesem Bereich so still gewesen? Also hier sind vor allem die Verlage (Buch und Zeitung) zu nennen.

Ist es nicht vielmehr so, daß es soundso viele Persönlichkeiten gegeben hat, die sich nicht durchsetzen konnten, weil eine Mehrheit nur den schnöden Mammon im Kopf hatte oder von der Politik bedroht wurden (das wurde mir glaubhaft berichtet). Die Mehrzahl der anderen wollte nicht anecken und hat den Mund gehalten. Die Politiker ("Volksvertreter") selbst schauen doch alle nur auf ihre Führer und halten den Mund, wenn sie anderer Meinung sind.

Deshalb ist es so wie schon vor hunderten von Jahren. Der Fisch stinkt vom Kopfe her. Unsere Köpfe, also die Leute, die an der Spitze des Staates stehen, sind verkehrt. Es ist ja wohl so, daß der Entschluß des A.-Springer-Verlags zur Reformschreibung zurückzukehren, von der Springerwitwe beeinflußt und diese wieder eng mit Frau Merkel befreundet ist. Solange die Köpfe, die sich unser Volk wählt, keinen Verstand haben, und nur solchen Pappfiguren wie Frau Wolff u. Zehetmair und deren Munkler die Stimme geben, wird sich nichts ändern.

Was mich richtig aufregt ist, daß unser Land von dieser Clique wirtschaftlich UND kulturell ruiniert wird. Im Byzantinischen Reich hat es wenigstens während der Abwärtsentwicklung eine Kulturblüte gegeben.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 26.05.2006 um 21.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4184

PS: Ich nehme außerdem an, daß Rauchverbote etwa in Gaststätten sich nur durchsetzen lassen, wenn sie mit saftigen Strafen bewehrt sind. Das ist bei unserer Rechtschreibreform nicht der Fall. Die Ausgangsüberlegung war doch die Absurdität, daß man sich freiwillig und zielstrebig unterwirft, obwohl man sich als Gegner versteht und gar nicht gehorchen müßte.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 26.05.2006 um 21.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4183

Es ist nicht in allen Nationen besser, aber ich habe den Eindruck, in vielen schon. Insofern, als man mit Vorschriften allgemein lockerer oder kreativer umgeht (von Rußland bis Afrika), und/oder insofern, als die Menschen selbstbewußter bestimmen, wie sie leben wollen und was sie sich von der Politik gefallen lassen wollen und was nicht. In vielen Ländern hält man nicht nur wenig von Politikern (das ist hier auch der Fall), sondern ignoriert dann konsequenterweise auch großenteils, was die an Firlefanz ausstoßen.

Ich kann mir einen Durchmarsch von so etwas wie unserer Rechtschreibreform in anderen Ländern nicht gut vorstellen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich kenne die Umstände nicht, unter denen ähnliche Reformen in den Niederlanden oder in Norwegen erfolgreich sein konnten. Öffentliche Rauchverbote in Gaststätten oder Beschränkungen der Höchstgeschwindigkeiten auf Autobahnen sind tatsächlich starke Eingriffe in sehr persönliche Lebensbedürfnisse, aber hier geht es zumindest auch um die Gesundheit von vielen Menschen und um Menschenleben. Im Fall von Rauchverboten steht einem empfindlichen Eingriff in die Lebensqualität der Raucher immerhin die empfindliche Beeinträchtigung der Nichtraucher gegenüber, die mit diesem Verbot beendet wird. Damit will ich nicht sagen, daß ich für Rauchverbote wäre, aber es gibt jedenfalls bessere Gründe für solche Maßnahmen, es handelt sich da nicht einfach um eine entfesselte Bürokratie.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 26.05.2006 um 18.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4182

Kaum. Bekanntlich ließ sich jüngst sogar in Italien ein Rauchverbot in Gaststätten durchsetzen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.05.2006 um 18.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4181

Ist es anderswo besser?
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 26.05.2006 um 17.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4179

In Deutschland ist die Demokratie nach 1945 zunächst einmal als Gegenbewegung zur Nazi-Diktatur eingerichtet worden. Als Schutz, um so etwas in Zukunft zu verhindern. Nur, diese mustergültige Demokratie besteht in mustergültigen politischen Instrumenten (wobei die direkte Demokratie praktisch fehlt), nicht in einem demokratischen Eifer der Bevölkerung. Vorher hatte man den Kaisern und sonstigen Herren gedient, dann den Diktator als Erlöser verehrt, und jetzt?

Ich spitze zu: Jetzt gehorchen die Deutschen der Demokratie. Sie tun immer, was man ihnen sagt. Sie tun, was irgendwo geschrieben steht: Gesetze, Verordnungen, Richtlinien. Sie sind überaus gehorsam und pflichtbewußt. Dieses maximale Bedürfnis nach Gehorsam ruft den Obrigkeitsstaat geradezu hervor, ersatzweise obrigkeitsstaatliche Anmaßungen von Politikern und Verwaltungen. Zumindest werden diese Zumutungen von oben endlos geduldet. Wir sollen anders schreiben? Dann schreiben wir anders. Und immer springen sofort eine Menge hundertfünfzigprozentige Deutsche herbei, die den neuen Anordnungen mit Furor nachhelfen. Sie gießen schäumend Spott und Haß über alle aus, die sich nicht gleich mit unterwerfen wollen. Ich nenne hier stellvertretend einen Namen: Hans-Ulrich Jörges. Aber man könnte auch tausend andere Namen nennen.

Woher kommt aber der ganz besonders ausgeprägte Gehorsam als Wesenszug der Deutschen (gemeint ist, wenn man den Durchschnitt aller Deutschen betrachtet)? Das weiß ich auch nicht.
 
 

Kommentar von Abl. abs., verfaßt am 26.05.2006 um 16.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4178

Herr Kratzbaum ehrt mich in ganz besonders hohem Maße, wenn er meine Dialektik im ersten Satz so sehr nachvollziehen kann, daß er gleich auch selbst in diesem Muster argumentiert.

"Die wahre Freiheit ist eben die, die man sich erkämpft hat und jeden Tag neu verteidigen muß."

Die ist sicher auch wichtig. Aber der Sinn für Freiheit zeigt sich immer erst dann (oder auch nicht), wenn es um die Freiheit der Andersdenkenden geht. Da hakt es auf allen Seiten.

Herr Schuchardt schreibt: "Die Haltung der Menschen zur Rechtschreibreform mit der Haltung im 16. und 17. Jahrhunderten zu den Relionszwistigkeiten zu vergleichen, geht ein bißchen zu weit."

Das habe zumindest ich auch nicht getan. Wir debattieren hier über die Traditionen obrigkeitsstaatlichen Denkens. Und kann man in der Tat Linien finden.

Das mit den Gebietsverlusten habe ich etwas zu niedrig geschätzt. Danke für die Korrektir.

Germanist schreibt: "Ich glaube, daß Obrigkeitsgläubigkeit nicht angeboren ist, etwa als deutsches Rassemerkmal, sondern anerzogen, als deutsches Erziehungsmerkmal. Bei der bürgerlichen Freiheit gibt in Deutschland keine Weiterentwicklung, sondern seit 1949 eine kontinuierliche Rückentwicklung."

Genau so sehe ich das auch, nur ohne den darin verborgenen Widerspruch: Denn die Linien ab dem Mittelalter waren Linien der Tradition und Erziehung, nicht der genetischen Weitergabe. Nur: Wenn wir 1949 wirklich so weit gewesen sein sollen, wieso ging es dann qua Erziehung wieder abwärts? Vielleicht, weil die falschen Strippenzieher (Medien, Werbung, Parteien) am Werk sind?

Die DDR hatte ja auch einen recht schönen Beginn und ein sehr armseliges Ende. Und so auch die BRD.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 26.05.2006 um 12.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4176

Ich glaube, daß Obrigkeitsgläubigkeit nicht angeboren ist, etwa als deutsches Rassemerkmal, sondern anerzogen, als deutsches Erziehungsmerkmal.
Bei der bürgerlichen Freiheit gibt in Deutschland keine Weiterentwicklung, sondern seit 1949 eine kontinuierliche Rückentwicklung.
 
 

Kommentar von Michael Schuchardt, verfaßt am 26.05.2006 um 12.17 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4175

@ablativus absolutus u. W. Scheuermann

Die Haltung der Menschen zur Rechtschreibreform mit der Haltung im 16. und 17. Jahrhunderten zu den Relionszwistigkeiten zu vergleichen, geht ein bißchen zu weit. Außerdem stimmt das angegebene Verhältnis der dt. Geietsverluste s. 1918 nicht. Es müßte heißen 203 : 560, d. h. mehr als ein Drittel und nicht wie angegeben "1/4". Das Dt. Reich von 1918 hatte nämlich eine Fläche von 560.000 qkm.

Der Dreißigjährige Krieg und auch die Kriege des 16. Jahrhunderts mit religiösem Hintergrund (Schmalkaldischer Krieg) waren doch überwiegend Machtkriege. Der Dreißigjährige Krieg hätte nach der Niederlage Christian IV. von Dänemark 1627/28 und den Siegen Wallensteins zuende sein können, wenn der streng kath. Ferdinand II. von Habsburg (beraten von röm.-kath. Geistlichen) nicht durch das Restitutionsedikt von 1629 Gustav Adolf auf den Plan gerufen hätte. Sogar das kath. Frankreich unter Richelieu hat später auf der Seite der Protestanten gestanden.

Wenn man immer alles auf ein so lange zurückliegendes Ereignis schieben will, dann kann man auch den Sündenfall im Paradies dazu heranziehen. Das liegt daran, daß es z. B. einen K. Marx gegeben hat, der mit einem theoretischen Werk, die Gesetzmäßigkeiten der Weltgeschichte abbilden zu können vorgab.

Das Problem mit der Rechtschreibreform ist, daß es vielen nicht weh tut. Eher ärgern sie sich über die hohen Eintrittspreise für die Fußball WM oder hohe Benzinpreise.
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 26.05.2006 um 10.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4174

So innerlich fremd wie die Demokratie ist den Deutschen auch die bürgerliche Freiheit als höchstes politisches Gut geblieben. Nur deshalb konnte auch das Bundesverfassungsgericht seine überragende Bedeutung als letzte Rettungsinstanz bekommen. Wie schnell rufen die Machthaber hierzulande nicht nach einer Verfassungsänderung - und zwar immer im Sinne einer Einschränkung der Freiheit (jüngstes Beispiel: Einsatz der Bundeswehr im Inneren - und das wegen eines
eines Fußballereignisses!). Die wahre Freiheit ist eben die, die man sich erkämpft hat und jeden Tag neu verteidigen muß. Hierzulande wird sie wohl eher als gnädig gewährtes Geschenk der Obrigkeit empfunden. Siehe auch die Aussichtslosigkeit aller Forderungen nach mehr direktdemokratischen Enscheidungsprozessen.
 
 

Kommentar von Ablativus absolutus, verfaßt am 26.05.2006 um 10.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4172

Herr Scheuermann spricht aus, daß uns die Demokratie wesensfremd geblieben ist. Nur deshalb, wegen des krampfhaften Behühens, wurde die Bundesrepublik ja eine so mustergültige Demokratie.

Der Dreißigjährige Krieg warf Deutschlands wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung um ein volles Jahrhundert zurück, ablesbar vor allem am Einsetzen der Industriellen Revolution, hier vor allem im direkten Vergleich mit England. Daraus keimte ein tiefer, später auch nationaler, Minderwertigkeitskomplex, der sich dann in zwei blutig geführten Weltkriegen sattsam entlud. Die Folgen waren unter anderem ein Gebietsverlust von 1/4, ein Bevölkerungsverlust von vielen Mio. Menschen in allen möglichen Ländern, der Untergang ungezählter Kulturgüter, 40 Jahre deutsche Teilung und dann auch noch das beschwerliche Durchfüttern "blühender Landschaften", was unmittelbar die Implosion der Sozialsysteme ausgelöst hat.

Noch heute baden wir also die Folgen des Dreißigjährigen Krieges aus. Er wäre zu verhindern gewesen, wenn die Forderungen der "Bewrischen Uffruhr" ab 1512, die bereits ganz deutlich die Revolution von 1848 vorwegnahmen, in eine tiefgreifende Umbildung unseres Sozial- und Wirtschaftswesens geführt hätte. Die Feudalherren quetschten und straften weiter vor Gottes Gnaden, Thomas Müntzer und die anderen wußten nur Herrn Jesus auf ihrer Seite. Und so siegte schon damals der Autoritarismus und hält sich -- bis heute!
 
 

Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 24.05.2006 um 15.43 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4165

In dieser absurden Weise vor dem Staat zu kuschen ...

haben die Bürger des "Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation" in dreißig überaus blutigen Jahren erlernt, aus denen schließlich nur das Instrumentum Pacis Osnabrugense, bzw. das Instrumentum Pacis Monasteriense (= der Westfälische Friede von 1648) einen Ausweg zu weisen schienen, in denen das alte Cuius-regio-Prinzip des Augsburger Religionsfriedens von 1555 re-etabliert wurde.
Der schauderliche Krieg wurde durch eine bis ins Innerste zielende Entmündigung beendet, aber es schien nach 30 Jahren der Verwüstung kein zu hoher Preis zu sein, um einfach überleben zu können.

In einem der Nachfolgestaaten des Heiligen Römischen Reiches, einer inzwischen gleichfalls untergegangenen "demokratischen Republik" wurde die resultierende Haltung ausgedrückt durch den Satz: "Da sollen sich die da oben einen Kopf machen."

Dagegen hat die nur "mühsam erlernte demokratische Verhaltensweise" (Grass) immer noch nur geringe Chancen.
 
 

Kommentar von GL, verfaßt am 23.05.2006 um 05.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4151

Musste die deutsche Sprache scheinbar verschwinden, weil selber denken schlau macht? Weit davon entfernt zu sein, eine druckreife Leistung zu erbringen und die Angst, in das typische Fettnäpfchen zu tappen, mag einer der Gründe sein, weshalb die Politiker sich weigern, hier Verantwortung zu übernehmen.

Das Wort Partei kommt m.E. von Party (Feierlichkeit bzw. Fest). Zum Charakter ihrer "Events" in Sachen Rechtschreibung passt, dass für sie in der Öffentlichkeit nichts zu feiern gibt. Immerhin macht ihnen Tischkussion (eine Mischung von politischer Veranstaltung und Party) vor, um was es sich überhaupt handelt. Dieser absurde Leerlauf kostet mich heute höchstens noch ein kaltes Lächeln!

(Tischkussion: sehen Sie auch unter www.tischkussion.de)
 
 

Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 21.05.2006 um 19.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4136

W. Wrase: »Das kommt davon, wenn man etwas unterstützt, was man ablehnt. Dann zählt nicht die Ablehnung, sondern die Unterstützung, und dann muß man es eben ausbaden.«

Ganz meiner Meinung! Dumm nur, daß das kaum einer merken und diese Lektion folglich – wie einige andere auch – an den meisten ohne Lernerfolg vorübergehen wird. Wo macht sich denn im Alltag bemerkbar, daß es bezüglich der Rechtschreibreform etwas auszubaden gibt? Doch vermutlich lediglich daran, daß es alle Nase lang (Naselang? nas[e]lang?) neue Rechtschreibwörterbücher zu kaufen gibt. Vor einem Kauf können sich die meisten zwar drücken, nur Lehrer können es eigentlich nicht. Kam aber von denen irgendein nennenswerter Protest? So gesehen scheint der Schweizer Lehrerverband mit seiner Ablehnung der 2006er Revision zumindest gemerkt zu haben, daß es da etwas gibt, was erheblich stört. Aber ich bin mir nicht sicher, ob der gedankliche Bogen bis hin zum „etwas ausbaden müssen“ dort schon komplett geschlagen worden ist. Und wenn doch, würde man das wohl kaum zugeben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.05.2006 um 17.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4132

Die menschliche Größe Zehetmairs bestand für Gauger übrigens in folgendem: "'Man wird uns als Kultusminister einmal fragen', sagte er, 'was habt ihr da eigentlich gemacht?'"

Diese bemerkenswerte Einsicht in die Unsinnigkeit seines Tuns sprach Kultusminister Zehtmair bekanntlich im Spiegel-Interview von 1996 aus – und dann setzte er diese als unsinnig erkannte Reform mit aller Härte durch. Später bekannte er seinen Fehler und versprach "tätige Reue", aber da war er schon im Ruhestand, und wie er dann den Rat ganz im Sinne der KMK steuerte und die Öffentlichkeit hereinlegte, ist ja bekannt. Wir werden menschliche Größe neu definieren müssen.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 21.05.2006 um 07.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=514#4130

In dieser absurden Weise vor dem Staat zu kuschen, also ihm unterwürfig zu folgen, auch wenn man es weder will noch muß, darin sind die Deutschen immer noch Meister. Es sind leider nicht nur Politiker, die sich so verhalten. Es gibt unzählige Leute, die bei jedem Wort versuchen, die Rechtschreibreform zu befolgen, obwohl sie sagen, die Reform sei bescheuert, rausgeschmissenes Geld, eine Zumutung für die Bürger usw., und obwohl sie wissen, daß sie schreiben könnten, wie sie wollen. In meinem Umfeld verhalten sich fast alle so. Und dann kommen irgendwann die Reformbetreiber und werten die üblichen Schreibungen aus: "Seht her – breiteste Zustimmung zur Rechtschreibreform!" Ich werde dann sagen: Das kommt davon, wenn man etwas unterstützt, was man ablehnt. Dann zählt nicht die Ablehnung, sondern die Unterstützung, und dann muß man es eben ausbaden.
 
 

nach oben


Ihr Kommentar: Sie können diesen Beitrag kommentieren. Füllen Sie dazu die mit * versehenen Felder aus und klicken Sie auf „Kommentar eintragen“.

Sie können in Ihrem Kommentar fett und/oder kursiv schreiben: [b]Kommentar[/b] ergibt Kommentar, [i]Kommentar[/i] ergibt Kommentar. Mit der Eingabetaste („Enter“) erzwingen Sie einen Zeilenumbruch. Ein doppelter Bindestrich (- -) wird in einen Gedankenstrich (–), ein doppeltes Komma (,,) bzw. ein doppelter Akut (´´) werden in typographische Anführungszeichen („ bzw. “) umgewandelt, ferner werden >> bzw. << durch die entsprechenden französischen Anführungszeichen » bzw. « ersetzt.

Bitte beziehen Sie sich nach Möglichkeit auf die Ausgangsmeldung.
Für sonstige Diskussionen steht Ihnen unser Diskussionsforum zur Verfügung.
* Ihr Name:
E-Mail:
(Wenn Sie eine E-Mail-Adresse angeben, wird diese angezeigt, damit andere mit Ihnen Kontakt aufnehmen können.)
* Kommentar:
* Spamschutz:   Hier bitte die Zahl einhundertvierundfünfzig (in Ziffern) eintragen.
 


Zurück zur vorherigen Seite | zur Tagebuchübersicht


© 2004–2018: Forschungsgruppe Deutsche Sprache e.V.

Vorstand: Reinhard Markner, Walter Lachenmann, Jan-Martin Wagner
Mitglieder des Beirats: Herbert E. Brekle, Dieter Borchmeyer, Friedrich Forssman, Theodor Ickler, Michael Klett, Werner von Koppenfels, Hans Krieger, Burkhart Kroeber, Reiner Kunze, Horst H. Munske, Adolf Muschg, Sten Nadolny, Bernd Rüthers, Albert von Schirnding, Christian Stetter.

Webhosting: ALL-INKL.COM