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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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05.02.2006
 

Sonntagmorgen
Die Revision bleibt auf halbem Wege stehen

Mit seinen Beschlüssen vom 3.2.2006 hat der Rat für deutsche Rechtschreibung sich selbst das Urteil gesprochen.
Die Revision der bereits mehrmals revidierten Rechtschreibreform bleibt auf halbem Wege stehen, soll aber nicht zu Ende sein. Wie kann man auf dieser Grundlage Wörterbücher schaffen und Schüler unterrichten? Zugleich ist die herkömmliche Rechtschreibung quicklebendig und erweist sich in jeder Hinsicht als die eigentlich moderne, leserfreundliche.

Ich blättere in alten Aufzeichnungen. Zum Schamlosesten, was über die Reform und ihre Kritiker geschrieben wurde, gehört der Artikel im Focus vom 16.8.2004 unter dem bezeichnenden Titel „Revolte gegen die Schüler“. Die Verfasser wußten nämlich genau Bescheid. Trotzdem schrieben sie über die widerspenstigen Medien FAZ, Axel Springer Verlag und Spiegel: „Eins aber haben die Schreibrevoluzzer erreicht: Deutschland ist wieder geteilt.“ Der Rest ist auch nicht besser. Man könnte gelegentlich Herrn Steinbrück an seine dort wiedergegebenen Äußerungen erinnern. Wahrscheinlich würde er sie als Geschwätz von gestern bezeichnen.

Jetzt wissen wir auch, was „den Sprachwandel beobachten“ bedeutet: beobachten, welche Folgen der gewaltsame Eingriff des Staates hat. Es ist ein elendes Geschäft, unter künstlich erzeugtem Zeitdruck an der Reform herumreparieren zu müssen und dabei nicht einmal zugeben zu dürfen, daß man repariert; „weiterentwickeln“ muß man es gehorsamst nennen.

Gespräch mit einem Augen- und Ohrenzeugen. Während der Pressekonferenz am 3.2.2006 soll der Ratsvorsitzende Zehetmair gesagt haben, es seien ihm immer noch zu viele Professoren im Rat. Ich warte auf den Mitschnitt.



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Kommentare zu »Sonntagmorgen«
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Kommentar von Peter Müller, verfaßt am 05.02.2006 um 13.17 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#2431

Zehetmair hat gesagt:

Der Sprachwissenschaftler kann es letztlich auch nur subjektiv beantworten und empfinden. Der aus der Politik Kommende, Unverdorbene und Unverbildete sagt klipp und klar: es ist kein Ruhmesblatt, und im Grunde sind eher zu viele Wissenschaftler als zu wenige dabeigewesen, und eigentlich hat das Murren des Volkes und wer immer es ist, aus der Politik, dazu geführt, daß man zu einer neuen Besinnung gekommen ist. Ich will das ganz unverblümt sagen. Typisch ist ja, daß 1996 das Regelwerk über allem stand und bei uns heute als Leitfaden der Sprachgebrauch Priorität hat.

Er hat noch andere amüsante Dinge gesagt. Zum Beispiel hält er die Betonung für entscheidend, ob man recht haben groß oder klein schreibt.

Der Skript der PK ist hier zu finden.

 
 

Kommentar von rrbth, verfaßt am 05.02.2006 um 14.48 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#2432

Herzlichen Dank an Herrn Müller.

Ich hab den Text mal überflogen, und es ist schon erstaunlich, was man da lesen kann. Vielleicht hat Herr Zehetmair ja solche Wissenschaftler gemeint:
«E: Ja, aber da muß man jetzt fairerweise sagen, daß sich gerade bei klasse zwischen 1996 und heute in der Sprache viel getan hat. Sie finden heutzutage ja fast schon ein klasses Auto, ja, noch nicht so ganz, aber schon fast. Was Sie vor zehn Jahren auf keinen Fall noch gefunden hätten. Das heißt klasse ist schon noch viel adjektivischer geworden, als es vor zehn Jahren war. Ich denke, daß mir da die anwesenden Wörterbuchkollegen recht geben werden»

Wenn ich Herrn Prof. Dr. Eichinger recht verstehe, dann ist klasse „zwischen 1996 und heute“ „viel adjektivischer geworden“, weil man es „nicht so ganz, aber schon fast“ „finden“ kann. Und was war es vorher?

In der Tat, z.B. bei google – gab es vor 10 Jahren noch nicht so ganz – finden sich ein paar Belege – hauptsächlich auf at-Domains und in Foren. Das ist also der berühmte Sprachwandel, den die Reformer umsetzen wollen. Deshalb, weil es „vor zehn Jahren auf keinen Fall noch gefunden“ worden wäre, hatten die 96er Kommissionsreformer Recht.

Trotzdem, sich über Wörter Gedanken machen können, die es „nicht so ganz, aber schon fast“ gibt: Respekt, klasser Experte!
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 05.02.2006 um 15.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#2433

Der Robin Hood der Orthographie

Es ist ja verständlich und geradezu rührend, daß Herr. Z. sich jetzt als Anwalt des "Volkes" sieht, das durch sein "Murren" die abgehobenen und elitär-versponnenen Sprachwissenschaftler schließlich zur Vernunft gebracht habe. Gern wüßte man, wo Volkes Stimme in dieser Angelegenheit festgehalten wäre. Wie kommt es nur, daß ein aus der Politik (ausgerechnet!) Kommender, Unverdorbener, Unverbildeter jedesmal, wenn er sich zur Sache äußert, den größten Unsinn von sich gibt? Vielleicht ersetzen Unverdorbenheit und Unverbildetsein solide Sachkenntnis doch nur annähernd. Aber Herr Z. hat ja recht: Das ganze Elend kommt daher, daß am Anfang zuviele Professoren am Werke waren und es wiederum Professoren sind (allerdings andere), die bis heute keine Ruhe geben. Auch die erdrückende Mehrheit der Unverdorbenen, Unverbildeten im Rat wäre noch eindrucksvoller zur Geltung gekommen, wenn diese ganz unter sich geblieben wären. - Daß es so etwas wie sprachliche Fakten und eine Sprachwissenschaft gibt, scheint dem Vorsitzenden bisher völlig entgangen zu sein. Die Refomer wollten dem "Wenigschreiber" dienen, Herr Z. gibt den Volkshelden in Rechtschreibdingen - wie sich die Bilder gleichen.

 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 05.02.2006 um 16.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#2434

Zehetmair greift sehr geschickt das weitverbreitete Unbehagen an einem Phänomen unserer Zeit auf: der Expertologie.

Der Gedankenspaziergang sieht etwa so aus: Es waren „Experten“, die ihm und seinen Kollegen vor Jahren die Rechtschreibreform eingebrockt haben. (Ein Politiker kann nicht alles wissen und ist somit auf das Urteil von Fachleuten angewiesen – in der Steuerpolitik, bei den Renten, in Wirtschaftsfragen, im militärischen Bereich usw. usf.) Irgendwann meldeten sich dann andere „Experten“ zu Wort, die kein gutes Haar am Werk ihrer Kollegen ließen. Zudem wollte auch die öffentliche Kritik an dem einmal eingeschlagenen Weg nicht verstummen. Als Politiker ist man in solcher Lage gezwungen, sich selbst etwas eingehender mit der Materie zu beschäftigen. Es gilt dann, sich vom Joch des Gelehrtenstreits zu befreien, das heißt sämtliche Argumente nochmals zu wägen und, dabei stärker als beim ersten Mal seinem eigenen Gefühl folgend, am Ende eine Entscheidung zum Wohle aller zu treffen. Man hätte sich und dem ganzen Volk viel Ärger ersparen können, wenn man die Sache nicht aus der Hand gegeben und den heillos zerstrittenen „Experten“ nicht das Feld überlassen hätte. In diesem Sinne waren selbst jetzt noch zu viele Wissenschaftler beteiligt. Aber was soll’s? Ende gut, alles gut. Papa Zehetmair hat’s gerichtet.

Diese Argumentation hat gute Chancen, für plausibel gehalten zu werden. Eine Prise Expertenschelte, ein Schuss Selbstkritik – das kommt immer gut an. Zehetmair versteht es glänzend, das Totschlagargument vom Volkseigentum Sprache für seine Zwecke zu nutzen. Dass die Sache in Wahrheit komplizierter ist, wird in der Debatte gern verschwiegen. Ohne Sachkunde geht es nun einmal nicht. Auch die Steuergelder gehören uns allen. Dennoch sollten, müssen sie von Leuten verwaltet werden, die etwas davon verstehen. Sich vor der Entscheidung zu drücken, welcher der verschiedenen Expertenmeinungen Geltung zu verschaffen ist, und sich dabei hinter einer anonymen Masse „murrender“ Zeitgenossen zu verstecken, gereicht der Politik nicht zur Ehre.

 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 05.02.2006 um 17.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#2437

Ein Adverb wird nicht einfach so zum Adjektiv. Die erste Stufe zum Adjektiv ist immer der prädikative, d.h. undeklinierte, Gebrauch, und manche Adverbien sind (bisher) auf dieser Adjektiv-Stufe geblieben: 'zu, weg, pleite, egal, fit, schade, schuld, quitt, plemplem, okay, futsch', 'null und nichtig', 'recht und billig' können nicht attributiv gebraucht werden.
Adverbien, die die zweite Stufe zum Adjektiv, den attributiven und deklinierbaren Gebrauch geschafft haben, sind: 'kaputt, hiesig, dortig, teilweise, stückweise', wobei manche noch nicht als hochsprachlich angesehen werden.
Adjektive, die attributiv gebraucht, aber nicht dekliniert werden können, sind: 'super, klasse, spitze, rosa, lila, beige, orange' ('klasse' als attributives Adjektiv 'eine klasse Frau' schon im Grammatikduden von 1988).
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 05.02.2006 um 17.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#2438

eine klasse Idee: Störig 1985 und Rechtschreibduden (Mannheim) 1973
ein klasse Film, ein klasse Typ, eine Klassefrau: Brockhaus/Wahrig 1982
 
 

Kommentar von Tobias Bluhme, verfaßt am 05.02.2006 um 18.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#2439

Herr Germanist,

ein fitter Typ und ein fittes Hirn sind doch recht gängig...
 
 

Kommentar von Ein Leser, verfaßt am 05.02.2006 um 20.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#2440

„Eins aber haben die Schreibrevoluzzer erreicht: Deutschland ist wieder geteilt.“

Da hat der "Focus" sogar vollkommen recht, wenngleich auch in einer etwas anderen Weise, als es der Verfasser des Artikels wohl beabsichtigt hatte.
 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 05.02.2006 um 20.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#2441

Prof. Eichinger: "Ja, das ist wahr, das ist so: Diese Schreibung [gemeint ist pleite gehen] ist jetzt praktisch verschwunden."

Man fragt sich angesichts dieser und anderer Äußerungen in der Pressekonferenz wirklich, was die Reformertruppe eigentlich liest. Es drängt sich doch sehr der Eindruck auf, hier schmorten einige selbsternannte Experten im eigenen Saft.
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 05.02.2006 um 21.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#2442

Mit "Diese Schreibung ist jetzt praktisch verschwunden" meinte er wohl: Diese Schreibung ist jetzt verschwunden. Seine Äußerungen wimmeln ja nur so von Füllwörtern. Von jemandem, der nicht mehr lebt, würde er vermutlich sagen, der sei jetzt praktisch tot. Mit "verschwunden" wiederum meint er nicht die Schreibpraxis, sondern das Regelwerk. Jede Wette!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.02.2006 um 17.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#2451

Ja, mit "praktisch verschwunden" umschreibt Eichinger, daß die Reformer die bisher übliche Schreibweise "pleite gehen" abgeschafft und für die Schule verboten haben. Und das ist nur ein Fall unter vielen. Eichinger weiß, daß er eine Ungeheuerlichkeit feststellt, daher die Umschreibung. Zur Begründung führt er an einer früheren Stelle an: "Entweder klein und zusammen oder groß und auseinander." Das ist das Erbstück aus dem Nachlaß Eugen Wüsters. Niemand kann sagen, warum ausgerechnet diese komische Regel den Rang einer unumstößlichen Wahrheit erlangt hat. Alle Versprechungen, man wolle sich am Usus orientieren usw., erweisen sich als hohles Wortgeklingel. Da sitzen sie, die Sprachveränderer, und maßen sich an, Wörter aus dem Deutschen zu beseitigen, gewachsene und richtige Schreibweisen zu verbieten und dafür neue, zum Teil völlig aus der Luft gegriffene vorzuschreiben.
Wenn man die Mitschrift liest, kann man es kaum fassen, mit welcher Frivolität diese Leute an der Sprache herumfingern! Und das nun auch noch "mit erhöhtem Tempo", weil die KMK drängt!

 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 06.02.2006 um 18.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#2452

Stichwort: "Expertologie": Das hat doch der letzte Bundeskanzler (übrigens: Wie fern ist der schon gerückt...) vorgemacht, der auch so viele Arbeitskreise, Kommissionen, Expertenrunden bestellt hat, bis keiner mehr den Überblick hatte. So kann man Verantwortung abwälzen und trotzdem die Fäden in der Hand behalten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.10.2012 um 07.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#21651

Sonntagmorgen, es regnet in Strömen. Ich habe noch ein bißchen an der Übersetzung der koreanischen Gedichte gefeilt, nun werfe ich einen Blick auf die Google-News.

Die Sendung "Wetten, daß" (dass) hat einen neuen Moderator, das scheint die Bevölkerung sehr zu beschäftigen. Ich kenne den neuen so wenig wie den alten, frage mich allerdings manchmal, ob ich da was versäumt habe, Fernsehen und so. In der neuen Sendung scheinen die üblichen "Prominenten" aufmarschiert zu sein. Das Selbstreferentielle des Fernsehens ist es, was mich am meisten abschreckt. Sogar die Nachrichten kann ich im Fernsehen nicht ertragen, wie ich neulich bei meiner Schwiegermutter feststellte, die ein Fernsehgerät hat. Ich weiß aber noch nicht genau, woran das liegt. Vielleicht daran, daß ich dauernd denken muß, es könnten auch ganz andere Nachrichten sein. Das Vorgefertigte, scheinbar Endgültige der Auswahl. Man hat ja die Kinderfrage gestellt, wie es komme, daß jeden Tag haargenau so viel passiert, daß es am nächsten Tag in die Zeitung paßt.

Peer Steinbrück, der gegenwärtig zum Superstaatsmann aufgeblasen wird, was ihm wohl nicht gut bekommen wird, hat gesagt: „Ich glaube, dass es Transparenz nur in Diktaturen gibt.“ Wieso schlucken unsere sonst so kritischen Journalisten einen so offensichtlich unsinnigen Satz? Es liegt doch auf der Hand, daß gerade zur Entschlüsselung von Diktaturen (China, Nordkorea, Vatikanstaat) nur astrologische Angebote gemacht werden können, während in Demokratien letztlich nichts verborgen bleibt (Wulff).

Acht von zehn Bundesbürgern wünschen sich angesichts der europaweiten Krise eine neue Wirtschaftsordnung. (Zeit 15.8.12)
Auch „Wirtschaftswachstum“ sei ihnen nicht so wichtig wie Umwelt, sozialer Ausgleich u.a.
Ich frage mich, ob alle Bundesbürger wissen, worin die gegenwärtige Wirtschaftsordnung besteht und wie sie funktioniert. Wissen wir leidlich Gebildeten es eigentlich? Auch was Wirtschaftswachstum ist, dürften nur wenige wissen. Man stößt doch täglich auf grundlegende Mißverständnisse und Illusionen, z. B. über den "Generationenvertrag" (verfassungswidrig zu Lasten Dritter geregelt, wie Herwig Birg kürzlich in Erinnerung rief).

Neulich nahm ich an einem islamwissenschaftlichen Kolloquium teil. Aufgeklärte muslimische Gelehrte wissen, daß es Zeit wäre, den Koran mit denselben textkritischen und -geschichtlichen Methoden zu untersuchen, wie es seit der Aufklärung (zuerst sehr mühsam und gefährlich, sogar Kant hielt die Klappe) mit der Bibel geschehen ist, aber sie sind sich einig, daß das zur Zeit nur im Westen möglich ist. Viele Fragen können in Ägypten oder Syrien einfach nicht gestellt werden. Ich nehme an, daß es zwar nicht die Sprache, wohl aber die Diskussionskultur ist, die über den Fortschritt entscheidet. Es ist interessant und deprimierend, den Verlauf von Diskussionen unter solchen Bedingungen zu beobachten. Wo Berufung auf die Tradition und Rechtgläubigkeit alles bestimmt, kann es keine neuen Ideen geben. Diese Länder fügen weder der von ihnen genutzten Technik des Westens etwas hinzu, noch werden sie jemals andere Nobelpreise als höchstens die für Literatur und "Frieden" an sich ziehen.

Wir wundern uns, daß Faustkeile 500.000 Jahre lang ohne jede Veränderung hergestellt wurden. Nachdem ich viel Ethnographisches gelesen habe, nehme ich an, daß unsere Vorfahren ebenso wie die Papua usw. durchaus imstande gewesen wären bzw. sind, Computer zu entwickeln; an der Intelligenz und Geschicklichkeit liegt es nicht. Aber es wird so gewesen sein wie bei uns im frühen Handwerk: Der Vater gibt an den Sohn weiter, "wie es gemacht wird", nämlich so und nicht anders. Die herrschende Technik war sakrosankt, vielleicht auch mit Tabus bewehrt. Das Neue ist das Böse.
So auch die Sprache, die Gesprächskultur, die Verteilung des Rederechts und die Auswahl gültiger Beiträge. In Afrika wurden Rechtsstreitigkeiten durch die Zahl der Sprichwörter entschieden, die eine der Parteien aufbieten konnte. Der Gedanke, man könne es auch anders machen, lag fern.

Die Lektüre des "Katechismus der Katholischen Kirche" ist für Sprachinteressierte sehr aufschlußreich. (Man kann ihn runterladen und sollte es tun.) Wir leben nicht in "zwei Kulturen" (Snow) und nicht in dreien (Lepenies), sondern in unendlich vielen.

Es regnet immer noch.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 10.10.2012 um 17.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#21665

"Wo Berufung auf die Tradition und Rechtgläubigkeit alles bestimmt, kann es keine neuen Ideen geben."

Wo es aber gute neue Ideen gibt, sollte man sie nicht leichtfertig als Eintagsfliegen abtun, sondern ihnen ein langes Leben wünschen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.11.2012 um 07.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#21837

Zur künstlichen Aufregung in den Medien gehört nicht nur, daß man angeblich erst jetzt etwas von Nebeneinkünften erfahren zu haben vorgibt, sondern auch die Sondertarife, die Parteimitgliedern von Versicherungen eingeräumt worden sind. Für Uneingeweihte: Sobald man irgendeinem Verband angehört, werden einem Rahmenverträge aller Art angeboten, die besonders günstige Versicherungen, Einkaufsmöglichkeiten usw. versprechen. Als ich noch Mitglied im Philologenverband und im Hochschulverband war, habe ich auch solche Angebote bekommen. Ich hatte allerdings den Eindruck, daß die zugrunde liegenden und dann verbilligten Angebote ohnehin nicht die günstigsten waren, und bin darauf nicht eingegangen. Es wäre aber nichts Anrüchiges gewesen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.11.2012 um 17.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#21844

Steinbrücks Vortragshonorare waren hoch, wenn auch im Vergleich zu Clinton (250.000 Euro) nur ein Taschengeld. Diese Honorare werden nicht wegen der besonderen Qualität der Vorträge, sondern wegen der Prominenz der Vortragenden gezahlt, das Ganze gehört also eher zum Show-Business. Die Prominenz verdankt Steinbrück seinen politischen Ämtern, das Geld gehört also von Rechts wegen gar nicht ihm persönlich. Er vermarktet sein Amt. Wir alimentieren die Bundestagsabgeordneten so, daß sie davon gut leben können, aber auch ihre ganze Kraft für den Bundestag einsetzen. Natürlich würde auch eine Verzehnfachung der Diäten keinen Politiker vom Streben nach Nebeneinkünften abhalten. Geld kann man nie genug haben. Besonders komisch ist die Behauptung, Steinbrück halte ja auch vor Bankiers usw. kapitalismuskritische Reden, sei also offensichtlich nicht korrumpierbar. Ob die Unternehmer und Bankiers ihn so gern einladen, weil sie sich damit einer Selbstgeißelung unterziehen?
Nebeneinkünfte schaffen Abhängigkeiten, das muß pauschal angenommen werden. Daher auch die restriktive Genehmigungspraxis bei Staatsdienern. Inzwischen sieht das auch Steinbrück selbst so: Als die Buchhonorare bekannt wurden, sagte Steinbrück, er habe sie nicht angegeben, weil man ihm in diesem Bereich keine Abhängigkeiten unterstellen könne. Daraus folgt, daß man ihm bei den Vortragseinladungen Abhängigkeiten unterstellen kann.
Wieviel Arbeit steckt jemand in seine Tätigkeit im Aufsichtsrat von Thyssen/Krupp (neben Bundestagsmandat, hundert Vorträgen pro Jahr, Bücherschreiben und vielem anderen)? Immerhin wird sie mit 115.000 Euro honoriert.

Viele Politiker nutzen ihre oft nur kurze politische Karriere, um möglichst schnell so viel wie möglich für sich und ihre Familien herauszuholen. Arm ist noch niemand geworden, der für ein politisches Amt „zur Verfügung stand“. Warum auch? Das ist immer noch durchsichtiger als der Lobbyismus.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.11.2012 um 18.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#21845


"Es musste schon ein verheerender Wirbelsturm kommen, damit Barack Obama seinen Anzug auszieht. In Trekkingschuhen, braunen Chino-Hosen, einem verwaschen-ozeanblauen Hemd und dunkelblauer Funktionsjacke zeigte er sich am Mittwoch im von Hurrikan Sandy schwer getroffenen New Jersey. Einer von ihnen, Amerikaner unter Amerikanern, blue- statt white-collar. So spendete der Präsident Trost und Zuversicht. Die Idee, dass ein Spitzenpolitiker wie Obama oder dessen Berater zuvor Stunden damit zugebracht haben, über die Botschaft dieses verwaschen-ozeanblauen Hemds zu räsonieren, die es wiederum von Journalisten und dem Wahlvolk zu entschlüsseln gilt: absurd." (ZEIT 3 .11.12)

Gar nicht absurd! Vgl.:

  "I've got an idea for television." Coal was pacing again, very much in charge. "We need to cash in on the shock of it all. You need to appear tired, as if you were up all night handling the crisis. Right? The entire nation will be watching, waiting for you to give details and to reassure. I think you should wear something warm and comforting. A coat and tie at 7 A.M. may seem a bit rehearsed. Let's relax a little."
   The President was listening intently. "A bathrobe?"
   "Not quite. But how about a cardigan and slacks? No tie. White button-down. Sort of the grandfather image."
   "You want me to address the nation in this hour of crisis in a sweater?"
   "Yes. I like it. A brown cardigan with a white shirt."
   "I don't know."
   "The image is good. Look, Chief, the election is a year from next month. This is our first crisis in ninety days, and what a wonderful crisis it is. The people need to see you in something different, especially at seven in the morning. You need to look casual, down-home, but in control. It'll be worth five, maybe ten points in the ratings. Trust me, Chief."
   "I don't like sweaters."
   "Just trust me."
(John Grisham: The Pelican Brief. 1992)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.11.2012 um 05.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=390#21846

Was viele auch nicht wissen dürften: Es gibt eine verbreitete Praxis, zu Vorträgen einzuladen und dem Vortragenden zwar kein Honorar zu zahlen (das Geld ist oft gar nicht vorhanden, z. B. beim Ortsverein einer Partei), wohl aber eine Spendenquittung auszustellen – als habe er 1000 Euro bekommen, aber gleich an den einladenden gemeinnützigen Verein usw. gespendet. Damit mindert er seine Steuerlast bis zur sehr hoch bemessenen Grenze der Abziehbarkeit. Die Spende ist gewissermaßen fiktiv, der Steuervorteil aber ganz real.
Solche Quittungen habe ich in bescheidenem Rahmen auch bekommen, aber keinen Gebrauch davon gemacht. Mit der Gemeinnützigkeit sollte mal gründlich aufgeräumt werden, wie mit Steuerschlupflöchern überhaupt. Das würde auch der Heuchelei gewisse Grenzen setzen.
 
 

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