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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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14.12.2005
 

Agitation
Schulunterricht auf der Metaebene

Sigmar Salzburg hat gerade an „Lesen Darstellen Begreifen“ von anno dazumal erinnert.
(So war jedenfalls der Titel bei uns.) Meine Ausgabe ist noch etwas älter, von 1976. In Band A8 steht aber derselbe Text, nur die Fragen waren noch etwas anders formuliert: "Überlegt gemeinsam, wieviel Zeit ihr in den vergangenen Schuljahren für Rechtschreibung verwandt habt. Lohnt sich das?"
Ich glaube nicht, daß in irgendeinem anderen Schulfach solche Fragen gestellt werden.
"Obwohl seit Jahren die Forderung nach einer Rechtschreibreform erhoben wird, bleibt sie aus. Wie erklärst du dir das?"
Natürlich aus dem analen zwangscharakter, das ist doch klar.
Wir hatten damals diese Schulbücher, als ich Ende der 70er Jahre Referendar war. Die Schüler wurden ununterbrochen mit tendenziösen Fragen agitiert. Der Unterricht selbst war nicht so schlimm, viele Lehrer benutzten die Deutschbücher so gut wie gar nicht.
Beim Blättern in diesen alten Schwarten fällt mir wieder mal auf, wie nachlässig Heinrich Bölls Sprache war.
"Ich probierte noch eine Buttercremeschnitte und ließ das prachtvolle Zeug langsam im Munde zerschmelzen."
"...während ich eine Nußecke verschluckte."

(Immerhin noch keine Nusse-cke!)



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Kommentare zu »Agitation«
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Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 16.12.2005 um 08.37 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=323#1985

Reform-Agitation bis in die Schulbücher hinein.

Auf der anderen Seite aber wurde 1998 ein mir bekannter Lehrer in Schleswig-Holstein disziplinarisch verfolgt, weil er in seiner Klasse das Flugblatt der Bürgerinitiative mit der Gegenüberstellung markanter alter und neuer Schreibweisen besprochen und die Blätter nicht wieder eingesammelt hatte. Die Verfolgung hat man erst ein halbes Jahr nach dem Sieg der Bürgerinitiative in der Volksabstimmung unauffällig eingestellt.
 
 

Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 15.12.2005 um 16.15 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=323#1980

»Niemand in diesem Forum erhebt sich über die Tatsache, daß Böll mit Rechtschreibschwächen zu kämpfen hatte. Das zu behaupten, führt in der Sache nicht weiter und ist daher fehl am Platz.«

Und wie dürfen dann folgende Sätze verstanden werden?

»Wahrscheinlich mußte Frau Böll ihrem Gatten auch erklären, wo ein ss und wo ein ß zu schreiben war, bzw. welche Wörter man zusammen oder getrennt schreibt. Fürwahr, es gibt Zeiten, da ist jeder ein "Küntsler" (wie es damals ein Aufkleber verkündete)..«

Sicherlich eine Form von Neuer Sachlichkeit, die halt nicht jeder begreift, weshalb man für Begriffsstutzige das Gemeinte anhand von weiteren Überzeichnungen deutlich machen muß.

Ich will mich ja mit niemandem streiten, aber wenn wir ernsthaft die Probleme der Rechtschreibdiskussion erörtern wollen, reicht es doch, wenn wir uns über diese unterhalten und nicht Spekulationen anstellen darüber, wie sich dieser oder jener verhalten hätte. Was man von Böll weiß, gibt jedenfalls keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß er seit den 70er Jahren bis heute seinen damaligen Irrtum erkannt haben würde.

Zur geschichtlichen Wahrheit gehört übrigens auch, daß es in den westlichen Ländern selten so ernstgemeinte und leidenschaftliche gute Absichten gegeben hat wie in den sogenannten 68er Jahren, insbesondere auf seiten der »Linken«. Daß »gut gemeint« noch lange nicht »gut« ist, weiß jedes Kind, und daß gute Absichten zum einen durchaus zu falschen Wegen führen können oder, zum andern, wenn sie den Köpfen entronnen und in politische »Projekte« und in die Hände von Projektgruppen übergegangen sind, oft sehr bald nicht mehr wiederzuerkennen sind und nicht selten zu schrecklichen Resultaten führen, ist auch keine neue Erkenntnis seit dem Zeitalter der Revolutionen.

 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 15.12.2005 um 14.21 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=323#1979

"Genialität und handwerkliche Genauigkeit müssen nicht in einer Person vereinigt sein." Dem kann man ohne Abstriche zustimmen.

Aber auch Genialität benötigt eine gewisse äußere Form, um sich der Öffentlichkeit vermitteln zu können. Deshalb finden sich hinter den Kulissen oft genug Menschen zusammen, die einander in wunderbarer Weise nach außen hin ergänzen. Es spricht nichts dagegen, daß Bölls Frau ihm über die Hürden der Orthographie geholfen hat. Die Kleinschreibung jedoch nur aus dem Grunde zu fordern, weil man selbst damit überfordert ist, halte ich für bedenklich. Es ist schwer vorstellbar, daß ein intelligenter Mensch wie Böll wirklich glauben konnte, die intellektuellen Unterschiede zwischen Menschen ließen sich verringern, indem man das Kommunikationsmittel Schrift vereinfache. Diese Hoffnung aber war mit dem Kongreß verbunden und wurde auch so formuliert – man lese einmal das Taschenbuch.
Der "sozial" (was auch immer das sei) angehauchte Anspruch, mit dem uns die Reform der Orthographie angepriesen worden ist, geistert erstaunlicherweise sogar durch das Gedankengut einiger Reformkritiker. "Gute Absichten" im Sinne mitmenschlicher Fürsorge sind von den Betreibern der Reform nie beabsichtigt gewesen, diesen Glauben verlor auch ein gutgläubiger Mensch rasch, wenn er sich die Mühe machte und sich mit der Sache näher befaßte. Ich habe die Schule in den Siebzigern von innen erlebt und die geschilderten, unsäglich "kritischen" Lehrbücher in der Hand gehabt - sie waren für einen regulären, sinnvollen Unterricht schlicht ungeeignet. Trotzdem wirkten sie, denn sie verbreiteten die Atmosphäre, auf der unter Tarnbegriffen verschiedene, autoritär verwirklichte und für die „Beschenkten“ meist nachteilige Sozialreformen prächtig gediehen.

Niemand in diesem Forum erhebt sich über die Tatsache, daß Böll mit Rechtschreibschwächen zu kämpfen hatte. Das zu behaupten, führt in der Sache nicht weiter und ist daher fehl am Platz. Daß der Schriftsteller zu seiner Schwäche steht, macht ihn geradezu sympathisch. Nicht um Moral geht es – weder um die Heinrich Bölls, noch um die der Reformkritiker.
Die interessante Frage ist doch – plastisch beleuchtet am Beispiel Böll - folgende: Ein künstlerisch einseitig hochbegabter Mensch leidet möglicherweise unter seinem Defizit. Was darf, was kann er von der Gesellschaft erwarten? Es gibt für ihn zwei Möglichkeiten der Daseinsbewältigung:
1. Er hofft, daß die Mitmenschen sein Defizit mit Toleranz hinnehmen, wobei ihm die eigene Genialität zugute kommt, die man an ihm bewundert.
2. Er fordert, daß sich die Gesellschaft an das Niveau seines Begabungsdefizits ausrichtet. Mit anderen Worten: Das Defizit muß vergesellschaftet werden.

Auf Heinrich Böll bezogen: Darf - zur Verdeutlichung erlaube ich mir eine Überzeichnung - ein hinreißend kreativer Erzähler die Abschaffung der Schrift durch den Staat fordern, weil er selbst nicht schreiben kann? Ohne Form kein Inhalt, das wird auch Böll gewußt haben. Seine Erben jedenfalls sind davon überzeugt, denn sie haben meines Wissens die Übertragung seiner Werke in die Neuschreibung untersagt.
 
 

Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 15.12.2005 um 11.28 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=323#1977

In einer Veranstaltung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste im Oktober dieses Jahres mit dem Thema »Literatur der Zwischenzeit« las Reiner Kunze eine Erzählung von Heinrich Böll. Daneben standen Lesungen von Gert Heidenreich, Peter Horst Neumann, Albert von Schirnding und anderen, die aus Werken von Nachkriegsautoren wie Felix Hartlaub, Ilse Aichinger, Wolfgang Borchert u.a. vortrugen. Und Reiner Kunze liest ausgerechnet Heinrich Böll! Man mochte dies, als man es auf der Einladung las, kaum für möglich halten. Und doch wurde daraus der Höhepunkt des literarisch durchaus hochkarätigen Abends. Und das lag nicht nur an Reiner Kunze.

Wer sich über die Rechtschreibschwächen Bölls erhebt, die er ja selbst unumwunden zugibt, bedient genau das Schema, das die Weltverbesserer der 60er und 70er Jahre, sicher vielfach mit den besten Absichten, aufgestellt haben: Die guten Rechtschreiber spielen ihr »Herrschaftswissen« aus gegen die in dieser Hinsicht Benachteiligten!

Denn die Lesung Kunzes gibt Böll ja recht! Eine Erzählung lebt von ihrer Geschichte und davon, wie diese erzählt wird, und da spielt es keine Rolle, ob der Geschichtenerzähler auf dem Marktplatz von El Ghardaia oder Timbouktou lesen und schreiben kann, sondern daß er erzählen kann. Und es spielt auch keine Rolle, ob er, falls er seine Geschichten doch aufschreibt, dabei Rechtschreibfehler macht oder alles klein oder nur in Großbuchstaben schreibt. Warum sollte Böll mit seinen auch von ihm selbst als Problem erkannten Rechtschreibschwächen damals nicht daran geglaubt haben, daß eine Vereinfachung des Schreibens möglich sein und ihm und allen, die ähnliche Probleme hatten wie er, damit abgeholfen werden könnte?

Es erinnert ein bißchen an den Unterschied zwischen improvisierter und notierter Musik. Die Jazzmusiker der frühen Jahre kannten keine Noten, waren zum Teil dennoch inspirierte Virtuosen, die, was das Können betraf, hinter ihren Kollegen der klassischen Zunft keineswegs zurückstanden. Man kennt die Geschichte, wie dem Jazzmusiker X ein Notenblatt vorgehalten wurde, auf dem eine seiner legendären Soloimprovisationen von einem fleißigen Studenten nachgeschrieben worden war. »Das soll ich gespielt haben? Völlig ausgeschlossen, das wäre mir viel zu schwierig«, war die Reaktion.

Nicht weniger bemerkenswert ist, daß Böll trotz seiner unübersehbaren, teilweise geradezu peinlichen sprachlichen und stilistischen Schwächen eine so starke Faszination auf die Leser seiner Zeit ausüben konnte, auch auf diejenigen, die sich als Literaturkritiker oder als anspruchsvolle Leser daran hätten stoßen müssen. Der Nobelpreis ist als Ausweis literarischer Unfehlbarkeit sicherlich nicht unbedingt verläßlich, aber so ganz ohne Grund bekommt ein Schriftsteller den auch nicht. Was also macht die Bedeutung Bölls aus, die kein Schulmeister durch Hinweise auf seine mäßigen Deutschleistungen wird nachträglich ernsthaft in Frage stellen können?
 
 

Kommentar von Glasreiniger, verfaßt am 15.12.2005 um 09.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=323#1975

Immerhin ist die konsequente Kleinschreibung nicht so ein kompletter Unfug wie die real existierende RSR. Böll ist in dieser Hinsicht z.B. in guter Gesellschaft mit J. Grimm. Es ist keineswegs ehrenrührig, eine Meinung zu vertreten, die sich nicht durchsetzt. Schlimm ist es jedoch, wenn, wie im vorliegenden Fall geschehen, etwas von der Mehrheit des Volks Abgelehntes mit hinterhältigen Tricks und wider besseres Wissen der Verantwortlichen durchgesetzt wird.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 15.12.2005 um 09.44 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=323#1974


Heinrich Böll
An wessen Seite er sich wohl gestellt hätte?

Im Jahr 1973 fand der "kongreß vernünftiger schreiben", gemeinsam veranstaltet vom PEN-Zentrum der Bundesrepublik, dem Verband deutscher Schriftsteller (VS) und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) statt. Wir erinnern uns, daß damals die Kleinschreibung durchgesetzt werden sollte. Als Kondensat erschien ein Büchlein, herausgegeben von Ingeborg Drewitz und Ernst Reuter. Heinrich Böll nahm an einer Podiumsdiskussion im Rahmen dieser Veranstaltung teil. Das Buch überliefert Bölls mündlichen Beitrag zur Rechtschreibreform:

"Eine sprache verliert weder an informationswert noch poesie, wenn sie - wie die englische und die dänische - von der groß- zur kleinschreibung übergeht. Ich habe außerdem noch einen subjektiven, oder besser gesagt, familienegoistischen grund, für die kleinschreibung zu plädieren: die entlastung meiner frau, die ich in fragen der groß- und kleinschreibung immer noch und immer wieder um rat fragen und in ihrer arbeit unterbrechen muß, und das seit nunmehr fast dreißig jahren! Multipliziere ich dieses familieninterne problem in die küchen, wohnzimmer, schlafzimmer von millionen familien hinein, so spricht alles für kleinschreibung, bedenke ich - siehe oben - noch einmal die tatsache, daß eine sprache weder informationswert noch poesie verliert, wenn sie einige dutzend majuskeln ablegt."

Wahrscheinlich mußte Frau Böll ihrem Gatten auch erklären, wo ein ss und wo ein ß zu schreiben war, bzw. welche Wörter man zusammen oder getrennt schreibt. Fürwahr, es gibt Zeiten, da ist jeder ein "Küntsler" (wie es damals ein Aufkleber verkündete).

Das Taschenbuch "vernünftiger schreiben" ist im Antiquariat zu erhalten (Fischer Taschenbuch Verlag). Es enthält entlarvende Beiträge, die Lektüre ist jedem gesellschaftspolitisch, pädagogisch und linguistisch Interessierten zu empfehlen.
 
 

Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 15.12.2005 um 08.25 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=323#1973

Daß Böll mit seinen restringierten und stereotypen Ausdrucksformen Literatur-Nobelpristräger geworden ist, kann sicher nicht auf seine meisterhafte Beherrschung der deutschen Sprache zurückgeführt werden - viel eher darauf, daß er dem "Zeitgeist" sehr gut entsprochen hat.
Hätte er sich in Sachen Rechtschreibreform an die Seite von Grass oder Lenz gestellt? Eine Spekulation nicht ohne Reiz: Die RSR-Apologeten mit Böll an ihrer Seite würden Autoren wie Kunze oder Jelinek noch unduldsamer marginalisieren können.
(Am Rande: Böll wäre es aber wahrscheinlich doch noch als störend aufgefallen, daß unsere Parlamentarier gestern in die eine oder andere "Ausschussitzung" enteilt sind.)
 
 

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