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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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13.11.2005
 

Gegen die Blockade
Im Rat für deutsche Rechtschreibung formieren sich die Blockierer

Sie wollen unbedingt verhindern, daß sich der Rat mit Fällen beschäftigt, wie sie in der folgenden Liste noch einmal exemplarisch und mit kurzen Kommentaren von mir zusammengestellt sind:

gestern Abend usw. (ebenso: neulich Abend): Die Großschreibung ist sogar nach den Kriterien der Reformer grammatisch falsch, da an dieser Position kein Substantiv stehen kann.

Pleite gehen (ebenso: Bankrott gehen): Die Großschreibung ist grammatisch falsch, da gehen sich nicht mit Substantiven verbinden läßt; vgl. kaputt, verloren, verschütt, entzwei, verlustig gehen (mit unterschiedlich geregelter Zusammenschreibung, auf die es hier nicht ankommt).

Recht haben: Grammatisch falsch, vgl. wie Recht du hast. Hier ist die Desubstantivierung längst vollendet, weshalb Konrad Duden 1876 schreiben konnte:

„Bei Ausdrücken wie leid tun, not tun, weh tun, schuld sein, gram sein; mir ist angst, wol, wehe, not ist von selbst klar, daß das zum einfachen Verbum hinzugetretene Element nicht als Substantivum fungiert; (man erkennt) die nicht substantivische Natur jenes Zusatzes am besten durch Hinzufügung einer nähern Bestimmung. Man sagt er (...) hat ganz recht, hat vollständig unrecht u. dgl. Die Anwendung von Adverbien, nicht von Adjektiven, zeigt, daß man einen verbalen Ausdruck, nicht ein Verb mit einem substantivischen Objekt vor sich hat.“ (Die Zukunftsorthographie (usw.). Leipzig 1876, S. 70)
Das neuerdings in den Schulen gelehrte, ebenso falsche Leid tun (es tut mir sehr Leid) ist nur deshalb aus dem verbindlichen Teil herausgenommen, weil die Kultusminister es mit Hilfe des neugeschaffenen leidtun dem Überschneidungsbereich (Getrennt- und Zusammenschreibung) zugeschlagen haben. Die bisherige Schreibweise leid tun gilt jetzt als „falsch“.

Diät leben: Bis zur Rechtschreibreform waren sich die Wörterbücher einig, daß es sich bei diät leben um eine adverbiale Verbindung handelt. Sie antwortet auf die Frage, wie man lebt, nicht was man lebt. (Das Adjektiv wurde im Zuge der Reform aus den Wörterbüchern getilgt, erst das Duden-Fremdwörterbuch 2005 führt es wieder ein: „diät : den Vorschriften einer Diät folgend, der Ernährung durch Diät entsprechend“.)

jemandem Freund/Feind/Todfeind sein: Auch diese Großschreibung beruht auf einer Verkennung der sprachlichen Tatsachen. Die Wörter waren in dieser Verwendung nie etwas anders als Adjektive: Je näher verwandt, je feinder einand. Den vielbelachten Spinnefeind kommentierten Augst und Schaeder so: „Das ist in der Tat ärgerlich“. Er verschwand dann wieder, aber der Rest ist auch nicht besser.

Not sein, Not tun: Diese Großschreibungen beruhen auf Unkenntnis eines vor etwa 500 Jahren eingetretenen Wortartwechsels (mit Umdeutung des regierten Genitivs). Näheres im Dt. Wb., auch zur Komparation (nöter). Schnelle Hilfe ist Not und ähnliche Schreibweisen sind falsch.

jdm. Angst (und Bange) machen: Die Fügung ist die kausative Entsprechung zu angst (und bange) sein/werden und sollte daher ebenfalls klein geschrieben werden: mir ist angst, mir wird angst, das macht mir angst.

im Allgemeinen, des Weiteren, im Wesentlichen, des Langen und Breiten, im Nachhinein, im Voraus u. v. a.: Diese Großschreibungen wurden bereits im 19. Jahrhundert als „übertrieben“ (Jellinek) aufgegeben. Sie widersprechen der „phraseologischen Wortart“ der adverbialen Wendungen. Ähnlich kritisch sind die fakultativen Großschreibungen bei Weitem usw. (seit 2004) zu beurteilen.

alles Übrige, der Letze(re), Verschiedenes u. a.: Diese Ausdrücke haben den Charakter von verweisenden bzw. indefiniten Pronomina angenommen und wurden daher seit langem klein geschrieben. Das ist angemessen, vgl. mich hat verschiedenes (= einiges, manches) geärgert vs. Ähnliches und Verschiedenes (= etwas, was verschieden ist) soll man nicht vermischen.

zu Eigen machen: Die Großschreibung des nahezu obsoleten Substantivs ist ein Archaismus. Ähnliches gilt für in Acht nehmen, in Sonderheit. Auch die neue Großschreibung im nicht analysierbaren Wunder was (glauben) ist unbegründet.

Deus ex Machina, Ultima Ratio, Alma Mater, Corpus Delicti usw.: Die Forderung, substantivische Bestandteile in Fügungen aus Fremdsprachen (die selbst gar keine Substantivgroßschreibung kennen) groß zu schreiben, stellt hohe Anforderungen an die Fremdsprachenkenntnis der Schreibenden (wie sich an der Behandlung von Herpes Zoster, Chapeau Claque/claque, Pommes Croquettes u. a. gezeigt hat) und ist außerdem widersprüchlich, weil nach derselben Logik die Kleinschreibung der Adjektive zu fordern wäre, also ultima Ratio statt bisher Ultima ratio. Die bisherige Regel (das erste Wort groß, alles übrige klein) war viel einfacher und sinnvoller.

der Blaue Planet, der Große Teich u. a.: Die Groß- und Kleinschreibung von Antonomasien war stets uneinheitlich und wird es bleiben; man sollte sie nicht abschließend zu regeln versuchen, zumal die Festlegungen niemals erlernbar sein werden.

der letzte Wille, die sieben Weltwunder, das schwarze Brett, die erste Hilfe, der weiße Tod u. v. a.: Entgegen einer jahrhundertelangen Entwicklung zur Großschreibung „fester Begriffe“ (Nominationsstereotype), die sogar weit über den alten Duden hinausreichte (Schneller Brüter usw.), wollte die Neuregelung wegen ihrer Fixierung auf „Eigennamen“ hier weitgehende Kleinschreibung durchsetzen. Führende Reformer wie Augst haben jedoch längst dafür plädiert, das Hintertürchen „Fachsprache“ weit zu öffnen und in allen fraglichen Fällen auch die Großschreibung wiederzuzulassen. Die revidierte Neuregelung spricht vage von „manchen Fachsprachen“, „einigen Fällen“ o. ä. Selbst wenn die marktführenden Wörterbücher sich einig sind, daß der schnelle Brüter nur klein, die Erste Hilfe in fachlichen Texten jedoch auch wieder groß geschrieben werden darf, kann eine solche Lösung keine Verbindlichkeit beanspruchen.

jenseits von gut und böse: Warum wird die Großschreibung hier abgeschafft und gleichzeitig bei für Jung und Alt, im Großen und Ganzen, über Mein und Dein usw. eingeführt?

du, dein usw. in Briefen: Die Schreibung der höflichen Anrede in Briefen geht die staatliche Orthographienormung nichts an.

Dutzend/dutzend, Hunderte/hunderte usw.: Die Regelung der substantivischen Zahlwörter ist zu überprüfen.

Es ist geradezu skandalös, mit welcher Unverfrorenheit die Blockierer, darunter studierte Germanisten, angesichts der Liste falscher und rückständiger Beispiele behaupten, es bestehe kein Handlungsbedarf. Man kann nicht einmal sagen, daß sie einem Wunsch der Kultusminister entgegenkommen, denn es ist ja umgekehrt: die Kultusminister sind Erfüllungsgehilfen der Interessenverbände, die sich ihrer erfolgreichen Lobbyarbeit sogar rühmen.



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Kommentare zu »Gegen die Blockade«
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Kommentar von Alexander Glück, verfaßt am 17.11.2005 um 09.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=287#1610

--> Pfeiffer, Lindner

a.) Formulierung im Kölner Expreß von vorgestern: "...hat wieder Mal...". An sowas zeigt sich überdeutlich, daß das Problem im totalen Niedergang grammatischer Kenntnisse liegt.

b.) Die "Rückkehr zum Alten" wird durch die Reformer weit mehr betrieben als durch die Kritiker. Zahllose Regeln schicken uns in die Zeiten vor Duden und vor der Vereinheitlichung der Rechtschreibung zurück. Die Rechtschreibreform bekämpfen heißt: Errungenschaften halten.
 
 

Kommentar von borella, verfaßt am 16.11.2005 um 15.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=287#1600

Gehört nicht direkt hierher, aber zur Information:

Auf der Seite: "http://www.nzz.ch/bildschirmschoner/" der NZZ kann ein Bildschirmschoner heruntergeladen werden, welcher die 100 Regeln der NZZ-Hausorthografie nach dem Zufallsprinzip zur Anzeige bringt.
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 16.11.2005 um 15.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=287#1599

Ich würde statt "Qualitätsorthographie" oder gar "alter Rechtschreibung" einfach "übliche" oder "allgemein gebräuchliche" sagen. Das entspricht erstens den Tatsachen und stellt die Staats-Orthographie in die Außenseiter-Ecke – wo sie hingehört.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 16.11.2005 um 11.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=287#1591

Frontale Konfrontation ist gut. Es bläst heute wirklich von vorn.
 
 

Kommentar von Kai Lindner, verfaßt am 16.11.2005 um 10.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=287#1590

Liebe Karin Pfeiffer-Stolz,

das sollte keine Kritik sein. Ich mag zwar die Schulorthographie nicht, kann aber als moderner Mensch sehr gut mit Anglizismen und anderen Fremdwörtern leben. Auch wenn ich es erschreckend finde, wie oft in den Medien Fremdwörter (bzw. Wörter ganz allgemein) falsch verwendet werden... oder, wie oft ein unpassendes Fremdwort für ein sehr viel treffenderes deutsches Wort verwendet wird. Dieses hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen und es vergeht keine Tagesschau, in der ich nicht unweigerlich zusammenzucke, wenn die Sprecher, ohne weiteres nachdenken, vom Teleprompter ihren sprachlichen Unsinn ablesen.

Bei Workshop dachte ich in erster Linie an die "Werkstatt" meines Vaters (die sicherlich Beispielhaft für alle nicht ISO zertifizierten Hobbywerkstätten stehen könnte)... diese ist nämlich sehr unordentlich, für mich nicht durchschaubar, und wenn ich eine Mutter zur Schraube suche, muß ich erst einmal etwas herumsuchen – also ganz so, wie die Schulorthographie. Damit passen Workshops doch hervorragend zu diesem Thema...

Der Begriff Schulorthographie ist in Ordnung (trifft es doch den Nagel genau dort, wo es ihm weh tut), Qualitätsorthographie hingegen klingt in meinen Ohren etwas schwerfällig (und nicht jeglicher Text in "alter" Rechtschreibung verdient das Prädikat "Qualitätsortographie" – zumindest nicht meine eigenen Texte ;-).

 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 16.11.2005 um 08.10 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=287#1587

Lieber Kai Lindner,
unsere "Jugendsünden" sind nicht einfach so zu entfernen wie Fettflecke, die man herausschneidet. Würden wir so verfahren, blieben Löcher im Verlagsprogramm. Um jedoch weiterhin für die gute Rechtschreibung tätig sein zu können, muß unser Verlag florieren. Deshalb lieber keine Löcher. Auf den Titel "Workshop" bin ich vor zehn Jahren gekommen, weil in der Lehrerfortbildung so viele "Workshops" angeboten wurden. Das erschien mir damals irgendwie griffig und modern. Seither ist dieser Titel im Programm, und ich ändere ihn aus guten Gründen nicht. Einen anderen Titel mit Anlehnung ans Englische haben wir auch noch im Programm, dieser hat schon seine Spötter im vorherigen Forum gefunden. Das ist in Ordnung, aber auch hier: Altlasten. Laufende Buchtitel ändert man nicht einfach so, denn sonst glauben die Kunden, es stecke auch neuer Wein in den neuen Schläuchen. Abgesehen von diesen Ausrutschern gibt es bei uns nur deutsche Begriffe. Kein einziges Mal habe ich mich zum Beispiel hinreißen lassen, unsere Kinder zu "Kids" zu machen oder irgendwelche Binnen-I-Wörter zu gebrauchen.
Also, bitte um Nachsicht für den Workshop.

Bezüglich der Reformschreibung möchte ich noch einmal betonen, daß frontale Konfrontation anscheinend das Gegenteil dessen bewirkt, was wir uns wünschen. Dies stelle ich immer wieder fest, wenn ich unter die Leute gehe (Messe). Man muß durch die Hintertür hineinschleichen, wenn man vorn keinen Zutritt erhält. Deshalb pflegen wir hartnäckig die Qualitätsrechtschreibung dort, wo die Texte nicht direkt für Kinder gedacht sind. Das sollte jeder so halten. Bei Schulbüchern üben wir als Verlag, soweit dies möglich ist, eine Vermeidungsschreibung bezüglich der ss-Wörter. Abgesehen davon wird ebenfalls die Qualitätsrechtschreibung verwendet. Niemand scheint dies zu merken, niemand weiß Bescheid. Daß jemand "dass" nicht als Neuschrieb erkennt, dürfte wohl eher die Ausnahme sein, wirft aber ein Licht auf das ganze Reformtheater.
In jeder Neuveröffentlichung oder Neuauflage druckt der Stolz Verlag eine ausführliche Aufklärung zur Funktion des Eszett ab. Und wir verweisen auf die Untersuchungen von Prof. Harald Marx.

Nach weiteren Hintertüren, durch die man mit Beharrlichkeit eindringen könnte, bin ich ständig auf der Suche. Steter Tropfen ...

Noch etwas: Wir sollten es vermeiden, von der "Rückkehr" zur "alten" Rechtschreibung zu sprechen. Das weckt selbst bei neutralen Personen Unmut, denn "zurück" zum "Alten" will kein Mensch, auch wenn er gar nicht weiß, worum es geht. Wir sprechen deshalb neuerdings von der kultusministeriell verordneten "Schulorthographie" im Gegensatz zur "Qualitätsorthographie" für Erwachsene.

 
 

Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 16.11.2005 um 07.20 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=287#1586

Aus gegebenem Anlaß habe ich die Schulbücher zweier unserer Kinder (12 u. 17) durchgesehen: Die Hälfte davon ist noch in alter Rechtschreibung (Lernmittelfreiheit/Schleswig-Holstein). Manche sind 12 Jahre alt.
 
 

Kommentar von Kai Lindner, verfaßt am 16.11.2005 um 00.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=287#1585

@ Karin Pfeiffer-Stolz:

Angesichts der Tatsache, daß es doch gar keine Schulbücher in ordentlicher (will sagen: nicht neuer) Rechtschreibung mehr gibt (geben kann, geben darf, geben soll), läßt der Wunsch der Lehrerin doch schon tief blicken... da hat jemand nicht nur nichts kapiert, sondern auch noch die letzten zehn Jahre verschlafen: Setzen, Sechs!

Aber auch "Workshop Grammatik"... da haben Sie sich ja einen schön doppeldeutigen Titel einfallen lassen.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 15.11.2005 um 20.50 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=287#1583

Blockieren wird man vermutlich auch die Diskussion über die s-Schreibung. Das wird nicht viel nützen. Denn die Realität sieht so aus:

Aktuelles Schreiben eines Schulleiters aus Ingolstadt, der einem unserer "Aussendienstmitarbeiter" die Möglichkeit zur Buchpräsentation einräumt.

Kommentar einer Lehrerin auf der Interpädagogika in Linz: "Das ist der Verlag, der sich so militant gegen die Rechtschreibreform gebärdet." Die Dame kaufte trotzdem.

Szene am Büchertisch, 12. November: In der Ecke für Rechtschreibung und Grammatik bittet eine Lehrerin um Hilfe. Sie hält ein Übungsheft in die Höhe, es trägt den Titel "Workshop Grammatik: das oder dass". Die Lehrerin sagt: "Ich suche so ein Heft, aber in neuer Rechtschreibung." Ich bin im ersten Moment ratlos, weiß nicht, was sie meint. Dann entgegne ich, mit dem Finger auf das "dass" tippend: "Das IST neue Rechtschreibung." Die Lehrerin schaut mich fragend an: "Und woran, bitte, erkennt man das?"

Vielleicht sieht heute das "dass" schon wieder ganz schön "alt" aus!
 
 

Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 13.11.2005 um 17.23 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=287#1570

Leben in Lüge

Daß es in totalitären Systemen oft genug zu geistig-seelischen Hilfskonstruktionen kommt, und erst dadurch eine weitestgehend zwanglose Existenz gesichert werden kann, ist ein Tatbestand, der nicht unbedingt durch wissenschaftliche Forschungen erhärtet werden muß. Vielmehr reicht eine Überprüfung eigenen Handelns aus, um die Theorie eines großen Kirchenvaters zu bestätigen, der da behauptet: „Jeder Mensch sündigt täglich unzählige Male“, und darunter sind wohl die „unforced lies“ die häufigsten Sündenfälle.

Die Lüge ist in den unterschiedlichen Gesellschaftsformen gängige Praxis. In obrigkeitsstaatlichen Systemen wird sie vorwiegend eingesetzt, um persönliche Nachteile zu vermeiden, und Demokraten setzen sie ein, um sich einen deutlichen Vorteil zu beschaffen. Die Lüge nämlich hat es leicht. Sie bedarf der Widerlegung. Die Wahrheit dagegen hat es schwer. Sie muß überzeugen.

Man gerät zu leicht in den Ruch eines "Moralisten" oder "Beckmessers", wenn man sich mit derartigen Realitäten auseinandersetzt. Und außerdem: Gegen die Gewalt der Lüge kämpfen selbst die obersten Richter der Nation vergebens an (oder besser gesagt: sie kämpfen dagegen zu keinem Zeitpunkt an), obwohl deren Richterspruch seit geraumer Zeit verdreht und verlogen wiedergegeben, wird. Eine Richtigstellung des Urteils vom 14. Juli 1998 würde vieles klären, würde die Richtung der sog. „öffentlichen Meinung“ verändern!
Warum aber kommt diese Klarstellung aus Karlsruhe nicht? Muß man denjenigen, der die Lüge duldet, nicht ebenfalls als potentiellen Lügner bezeichnen? Sorgt er nicht durch die Duldung der Lüge dafür, daß letztendlich sogar die abgebrühtesten Lügner ihre Strategie weiterbetreiben können? Muß man sie nicht geradezu als Steigbügelhalter jenes auf Lug und Trug gebauten Konzeptes bezeichnen?

Eine Wende scheint nicht in Sicht, so lange die Unverfrorenheit Rückendeckung genießt, die Lüge staatlicherseits glorifiziert wird und minderwertige Motive wie Neid und Zerstörungswut die Nachahmung derart erfolgreichen Handelns geboten erscheinen lassen.

Soviel Gerechtigkeit aber muß sein. Ehrlicher Erfolg darf niemals und unter keinen Umständen dem erschlichenen „Glück“ gleichgestellt werden.

 
 

Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 13.11.2005 um 15.41 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=287#1564

PS: Und sind "morgens" und "abends" nicht Genitiv-Formen zu "Morgen" und "Abend",
also Substantive, und damit groß zu schreiben? Wenn man der Logik der Reform folgt?
 
 

Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 13.11.2005 um 15.35 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=287#1563

1) Man könnte auch noch Fälle sammeln, in denen die reformierte Schreibweise Differenzierungen verunmöglicht, und daher sinnstörend ("Sinn störend"?) wirkt.

* alles mögliche (dies und das)/alles Mögliche (alle Möglichkeiten ausgeschöpft)

* sinngemäß aus Spiegel, "Hitlers Krieg": ein Leidtragender berichtet, die Nazi-Mitläufer haben ihm "Leid getan" (er hatte aber an dieser Stelle Mitleid!).

* "Ein Professor hielt öfter Vorträge, ein anderer seltener. Ich konnte Vorträge des Öfteren schon morgens hören."

2) Wenn "im Wesentlichen" und "des Weiteren", dann auch "ein Bisschen", "ein Anderer" und "ein Wenig" - die Reform hat "keines Wegs" alle von Substantiven stammenden oder mit Artikel auftretenden Adverbien/Adjektive wieder zu Substantiven erklärt, sondern eine willkürliche Auswahl getroffen. Wie übrigens auch bei der Getrennt- und Zusammenschreibung, und wie auch bei der Stammschreibung. Und willkürliche Festlegungen rufen Lernschwierigkeiten hervor, gerade in der Grundschule ...

 
 

Kommentar von David Weiers, verfaßt am 13.11.2005 um 12.58 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=287#1561

Spontane unheilige Gedanken am Sonntag:

Eigentlich könnten doch diejenigen, die sich der Reform gänzlich versperrten und das auch immer noch tun, froh sein: in Zukunft wird man dann nämlich ungestört Dinge veröffentlichen können, die einem großen Teil der Bevölkerung verschlossen bleiben werden. Vorausgesetzt, der jetzige Trend oder -- so hoffe ich mal -- scheinbare Trend hin zu einem immer stetigeren staatlich verordneten Abbau des Deutschen (und der Bildung schlechthin) erzeugt wirklich Generationen von Menschen, die nicht mehr richtig lesen und vor allem nicht mehr richtig schreiben und denken können. Dann könnte man doch versuchen, den Teufel mit dem Belzebub auszutreiben und meiert einfach im stillen Kämmerlein und in elitären Zirkeln herum. Dann bilden sich wieder viele schöne Geheimbünde, Orden usw. Den Nachwuchs kann man sich auch schön ruhig aussuchen und zurechtbilden, ohne daß da einer reinpfuscht. Und da man die Intelligentia zu seinem Kreis zählen könnte (da bin ich mir sicher!), wird sich über kurz oder lang auch die Möglichkeit bieten, die Heerscharen von staatlich produzierten geistig Minderbemittelten zu regieren. Und dann müßte einen, sofern man eben diesem Zirkel angehört, doch der ganze Bodensatz da unten nichts mehr angehen. Sollen die doch stammeln, krakeln und mit Wortfetzen um sich schmeißen, wie sie wollen (so à la Salvatore in Ecos berühmtem Roman).
Das ist alles nicht sehr demokratisch gedacht, das weiß ich, aber die Reformer und unsere doch so liebe demokratisch gesinnte Gesellschaft wollen es ja wohl so.
Gut, es wäre ein Rückschritt sondergleichen, aber nur scheinbar, wie ich finde, zumindest in Teilen. Denn sehen wir doch den Tatsachen mal ins Gesicht: es waren schon immer nur wenige, die Kultur geschaffen und vorangebracht haben. Und wenn man das ganze jetzt mal global durchdenkt, scheint mir obige Lösung doch nicht eben unsympathisch.
Ne?
 
 

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