Zum vorherigen / nächsten Tagebucheintrag
Zu den Kommentaren zu diesem Tagebucheintrag | einen Kommentar dazu schreiben
10.11.2015
Intonation
Disambiguierung von „oder“
Wir haben ein ausschließendes und ein nichtausschließendes oder, und das wäre ziemlich ärgerlich und wird von den Logikern sogleich durch verschiedene Zeichen disambiguiert. Aber die Intonation leistet dasselbe: sinkend nach ausschließendem, progredient nach nichtausschließendem, vgl.
Möchten Sie Kaffee oder Tee?
Hätten Sie gern einen Jungen oder ein Mädchen?
Suchen Sie einen Mann oder eine Frau?
So gibt es eigentlich für die gesprochene Sprache keinen Grund, die Homonymie zu beseitigen.
Diesen Beitrag drucken.
Kommentare zu »Intonation« |
Kommentar schreiben | neueste Kommentare zuoberst anzeigen | nach oben |
Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 16.11.2015 um 02.46 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1648#30568
|
Ich verstehe die Beispiele nicht ganz. Zumindest auf den ersten Blick scheint in allen Fällen ein Entweder-Oder vorzuliegen. Was gibt es da zwischen den Sätzen zu vergleichen?
Und man soll auf die Intonation achten, aber die ist bei Fragesätzen ja auch von anderen Gesichtspunkten bestimmt: normalerweise steigend, aber gegebenenfalls auch fallend oder gleichbleibend, wenn die Frage eher beiläufig und unaufdringlich klingen soll, zum Beispiel. Jedenfalls wird es bei einem solchen Fragesatz schwierig, Unterschiede in der Intonation festzustellen, die von der Art des oder abhängen.
Der Charakter des oder ist etwa bei der Frage nach Kaffee oder Tee ohnehin klar, wie mir scheint. Dann wird sich die Intonation nach den angedeuteten anderen Gesichtspunkten richten. Falls gar nicht die Auswahl zwischen den beiden Getränken gemeint ist, würde man doch anders fragen, zum Beispiel: Möchten Sie etwas trinken? Es gibt Kaffee und Tee.
|
Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.11.2015 um 05.15 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1648#30569
|
Mir scheint, daß bei nichtausschließendem oder die gleichbleibende (tatsächlich "progrediente") Intonation auf eine mögliche Fortsetzung hindeutet, als ob man versuchsweise ein paar Optionen vorschlägt, denen noch andere folgen könnten. Bei ausschließendem ist die Alternative damit abgeschlossen, die Stimme sinkt, es gibt weiter nichts zu sagen.
(Meine Frauen finden das plausibel, andere Probanden habe ich gerade nicht zur Hand.)
|
Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 16.11.2015 um 12.04 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1648#30576
|
Ja, da ist schon etwas dran. Das ist sehr fein beobachtet und jetzt auch gut erklärt. Ich sagte ja nur, daß die Beispiele das nicht gut illustrieren, unter anderem, weil die Art des oder normalerweise schon aus dem Kontext klar ist.
Das ist auch ein Problem der Schreibung. Das Fragezeichen zeigt die Frage an, man setzt standardmäßig eine nicht fallende Intonation an, und so kann ich auch die Frage nach Kaffee oder Tee stellen.
Beim Fragetyp "Möchten Sie A oder B?" geht man standardmäßig von einer zur Wahl gestellten Alternative aus. So würde sich auch die in einem Reisebüro gestellte Frage "Möchten Sie nach Italien oder Nigeria?" auf den ersten Blick lesen, als ob eine Entscheidung zwischen den beiden Ländern erfragt werden soll, obwohl die ungewöhnliche Auswahl etwas anderes nahelegen müßte. Wenn es nur zwei von noch mehr denkbaren Vorschlägen sein sollen, käme beim Sprechen eine Zäsur hinzu, die so zu schreiben wäre: "Möchten Sie nach Italien? Oder Nigeria?" Vermutlich würde der Fragende aber noch mehr Verdeutlichung investieren, zum Beispiel: "Möchten Sie vielleicht nach Italien? Oder zum Beispiel nach Nigeria?"
Ich meine deshalb, daß die Intonation ein Aspekt ist, aber sie allein kann den Charakter des oder oft nicht klarstellen, falls das überhaupt nötig ist. Bei Bedarf kann eher eine deutlichere Formulierung Klarheit schaffen.
|
Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.11.2015 um 12.12 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1648#30577
|
Das ist sicher richtig. Ich wollte nur sagen, daß manche Zweideutigkeit, die im Kernbereich der Sprache schockierend wirken könnte, sich in der Praxis bei weitem nicht so katastrophal auswirkt, weil es eben Mittel gibt, die bei ausschließlicher Beschäftigung mit dem Wörterbuch nicht zu erkennen sind.
Hierzu gehört auch die Sache mit dem "halben Türken", die ich anderswo besprochen habe.
|
Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 16.11.2015 um 14.36 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1648#30578
|
Umgangssprachlich gibt es auch keinen klaren Unterschied zwischen und und oder:
Sie können nach Italien oder nach Nigeria reisen.
Sie können nach Italien und nach Nigeria reisen.
(Beide Reisen bieten wir Ihnen an.)
|
Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 16.11.2015 um 15.07 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1648#30579
|
Ich muß zur Hälfte widerrufen. Ich bin gerade jetzt erst darauf gekommen, daß die Frage nach Tee oder Kaffee zweierlei bedeuten kann. Im einen Fall lautet die Antwort, je nachdem, entweder "Tee" oder "Kaffee". Im anderen Fall lautet die Antwort entweder "Ja, gerne" oder "Nein, danke".
Der zweite Fall ist vermutlich nicht so selten, wie ich angenommen hatte. Die Antwort würde im Ja-Fall vermutlich aber eher lauten, je nachdem: "Ja gerne, bitte Kaffee" oder "Ja gerne, bitte Tee". Oder kürzer: "Kaffee" beziehungsweise "Tee". Das heißt, im Ja-Fall wird der unausgesprochene Zusatz zur Frage "... und wenn ja, was von beidem?" gleich mitbeantwortet. Ausführlich könnte die Frage im zweiten Fall auch so formuliert werden: "Möchten Sie Kaffee oder Tee, und wenn ja, Kaffee oder Tee?" Da sind die beiden oder zusammen. In der Praxis beschränkt sich der Frager auf den ersten Teil. Somit werden eigentlich beide Fragen mit den verschiedenen oder gleichzeitig gestellt, so versteht es jedenfalls der Hörer.
Die Beispiele sind also doch tauglich, aber ganz schön trickreich. Ich war selbst Opfer jener automatischen Unterstellung eines Normalfalls geworden, die ich im vorigen Beitrag angesprochen hatte. Hoffentlich stimmt mein Kommentar diesmal. Professor Ickler durchschaut die sprachlichen Hintergründe in Windeseile, unsereiner muß sich da erst den Kopf zerbrechen.
|
Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.11.2015 um 16.30 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1648#30580
|
Danke für die Blumen, aber verdient sind sie nicht. Es ist doch klar, daß jeder von uns in seinen eigenen Gedankenkreisen befangen ist, oft seit Jahren und Jahrzehnten. In sprachlichen Dingen hat er sich oft auch die Beispiele schon ebenso lange zurechtgelegt. Da ist es doch ganz natürlich, daß ein anderer erst mal Luft holen und vielleicht nachhaken muß. Das empfinde ich aber immer als Gewinn.
(Wie viele hundert Kapitelchen einer deutschen Grammatik haben wir uns über die Jahre hin schon in diesen Gesprächen erarbeitet? Man müßte mal alles zusammentragen.)
|
Kommentar von Germanist, verfaßt am 19.11.2015 um 16.18 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1648#30619
|
Die "andere" ODER-Schaltung hat 3 Ausgänge, nämlich zusätzlich "oder keines von beiden?".
|
Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 19.11.2015 um 22.28 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1648#30620
|
Wenn dieses dritte Oder vom nichtausschließenden Oder ausginge, dann wäre es sozusagen eine triviale Ganz-egal-Schaltung, denn sie wäre für jede beliebige Konstellation der Ausgangswerte wahr. Das brächte wohl nichts.
Legte man aber das ausschließende Oder zugrunde, wäre es dasselbe wie "nicht und". Also auch nichts Neues.
|
Kommentar von Germanist, verfaßt am 19.11.2015 um 22.40 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1648#30622
|
Das ausschließende ODER benötigt für n Möglichkeiten n-1 Umschalter; das nichtausschließende ODER benötigt für n Möglickeiten n Umschalter, jeweils in Kaskaden geschaltet. (Jeder Umschalter hat 1 Eingang und 2 Ausgänge. Den Umschaltern können auch die Weichen eines Rangierbahnhofs entsprechen.)
|
Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 18.12.2015 um 15.24 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1648#30929
|
Möchte jemand Kaffee oder Tee?
|
Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 30.03.2022 um 10.49 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1648#48808
|
Ich habe ein schönes Beispiel gefunden. Ein Transplantationschirurg wird in einem Interview gefragt: "Sprechen Sie vor oder nach dem Eingriff mit den Angehörigen?" Als Leser erwartete ich, daß die Antwort "Davor" oder "Danach" lauten würde. Zu meiner Überraschung lautete sie "Nein".
https://www.spiegel.de/gesundheit/organspende-ich-sehe-natuerlich-die-menschen-auf-der-warteliste-a-6702cff3-45fd-4a1b-8104-35a926ae78e2
Die Intonation – auch die Nichtbetonung/Betonung – rund um "oder" sowie bei "Angehörigen" muß dem Chirurgen signalisiert haben, daß mit der Frage eigentlich nur gemeint war: "Sprechen Sie mit den Angehörigen?" Ich konnte diese Intonation als Leser nicht hören und nahm daher an, es werde, wie meistens bei "oder", danach gefragt, was von zwei Möglichkeiten zutrifft.
|
nach oben
Zurück zur vorherigen Seite | zur Tagebuchübersicht
|