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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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25.01.2015
 

Grammatische Exerzitien 10
Der Relativsatz

Relativsätze sind Nebensätze, die mit einem satzwertigen Relativelement (Pronomen oder Adverb) eingeleitet werden.
Es sind drei Haupttypen zu unterscheiden:

1. Relativsätze als Gliedteilsätze (Attributsätze) schließen sich an ein Bezugselement im Matrixsatz an.

2. Fehlt ein Bezugselement, ist der Relativsatz „frei“ und damit als Gliedsatz zu betrachten.

3. Als Textappositivsätze kommentieren sie ein Textstück beliebigen Umfangs.

Attributsätze können restriktiv oder appositiv sein. Freie Relativsätze sind immer restriktiv. Der Unterschied ist formal nicht immer zu erkennen:
Wir beliefern die einzige Brauerei in Palästina, die in Ramallah ihren Sitz hat. (NN 5.7.03)

1. Relativsätze als Gliedteilsätze (Attributsätze)

Der Relativsatz ist Attribut eines Substantivs:
Er spricht hierüber in einer Standardrede, deren Text er nie aus dem Stegreif variiert. (SZ 3.11.84)
Auch Pronomina können Bezugselemente eines Relativsatzes sein:
Er, der erfahren ist in jedem Zauber, wird dich leicht entzaubern können. (Wilhelm Hauff: Zwerg Nase)
Wer, der die Entwicklungsgeschichte der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland kennt, wollte bestreiten, daß... (Aus Pol. u. Zeitgesch. 10.11.89)
Indefinitpronomina wie alles, vieles, etwas, manches oder nichts und das generalisierende das sowie substantivierte neutrale Adjektive im Superlativ ziehen heute gewöhnlich den relativischen Anschluß mit was nach sich:
Eigentlich habe ich ja alles, was man braucht, ich meine, was man hier braucht. (Theodor Fontane: Effi Briest, 1. Kapitel)
Aber die Frau hörte auf nichts, was er sagte. (Brüder Grimm: Hänsel und Gretel)
Doch kommt auch der Anschluß mit das vor:
Der Jugendrichter bringt von Haus aus nichts mit, das ihn zur Lösung seiner Aufgabe befähigt. (Helmut Ostermeyer: Strafunrecht. München 1971:110)
Der Schwager ahnte nichts von dem, das in mir vorging. (Thomas Bernhard: Auslöschung. Frankfurt 1986:483)
Aus einem nachgestellten Genitiv- oder Präpositionalattribut heraus gilt der Bezug nicht als korrekt:
Bereits 1920 (...) hat er das Manuskript zu einem „Enzyklopädischen Wörterbuch Esperanto-Deutsch“ vollendet, aus dem Vorwort zu dessen 1. Lieferung ich eben zitiert habe. (Muttersprache 92, 1982:295)
im Kampf gegen den Klimakollaps (in Relation zu dem auch die schlimmste Wirtschaftskrise nur Kleinkram ist) (SZ 8.1.09)
Die Uredition, kurz vor deren Fertigstellung auch Galba starb, ist schon für sich eine Kostbarkeit. (FAZ 23.2.91)
Dagegen ohne weiteres mit dem Genitiv des anaphorischen Pronomens wie oben: eine Stegreifrede, deren Text ...
Auch:
Das Buch enthält außer den Gedichten Eichendorffs noch seine Versepen und dazu die Poesie Wilhelm von Eichendorffs, des Bruders, mit dem gemeinsam er sein Dichterleben in Heidelberg und Berlin begann. (FAZ 16.9.87)
Aber nicht:
Die Japanerin Midori heiratet unter Zwang ihrer Verwandten Yukio, gemeinsam mit dem sie nach Australien reist. (Wikipedia 2009)

Kongruenz nach Personalpronomina:
Person: Bezieht sich der Relativsatz auf ein Pronomen der ersten oder zweiten Person, so kann der Anschluß mit dem einfachen Relativpronomen der dritten Person hergestellt werden:
Du, der weiß, was uns Menschen bewegt... (Gebet)
Häufiger ist die Verbindung von Relativ- und wiederholtem Personalpronomen. Das Verb kongruiert dann mit dem Personalpronomen:
Es ist mir, der ich wißbegierig bin, an dem Menschen vieles dunkel geblieben. (Nietzsche: Der Wanderer und sein Schatten)
Du, der du weißt... (Rilke)
Die wir ihm näherstanden, haben bedauert, daß die Folgen eines Sturzes vor zwei Jahren ihn uns ferner rückten. (FAZ 12.7.04)
Ihr, die ihr euch von Christo nennet... (Arie von J. S. Bach)
Numerus: Nach dem Anredepronomen Sie für eine Einzelperson wird der Anschluß mit dem Pronomen im Singular hergestellt:
mit Ihnen, der das gesagt hat (bei weiblichem Adressaten: die...)
Bei zusätzlichem Personalpronomen steht das Verb im Plural, der relativische Anschluß kann den sachlich gebotenen Singular oder den formalen Plural fortführen:
„Und das sagen Sie, Czako, gerade Sie, der Sie das Menschliche stets betonen?“ (Theodor Fontane: Der Stechlin, 2. Kap.)
Sie, die Sie jetzt diese Vorschau in der Hand halten und überlegen, brauche ich dieses Buch oder brauche ich es nicht. (Buchwerbung von Kiepenheuer & Witsch)
Genus: Neutrale Substantive, die weibliche Personen bezeichnen, werden entweder mit grammatischer Genuskongruenz oder – heute seltener – nach dem natürlichen Geschlecht wiederaufgenommen:
dieses schöne Mädchen, das jahrelang, von mir kaum beachtet, in meinem Hause lebte (Franz Kafka: Ein Landarzt)
Nun siehst du deutlich das schlanke holde Mädchen, die im weißen dünnen Nachtgewande bei dem Kessel kniet. (E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf)
Stellung: Der attributive Relativsatz steht meist unmittelbar hinter seinem Bezugselement, weil dadurch mißverständliche Bezüge vermieden werden; er kann jedoch auch extraponiert werden.
„Anknüpfende“ Relativsätze beziehen sich auf ein Satzglied im Obersatz, spezifieren dieses aber nicht, sondern führen die Darstellung mit eigener Illokution fort, weshalb auch logische Partikeln wie aber möglich sind (Blatz II 899):
Wir langten in einem Dörfchen an, wo wir die Nacht verbrachten.
Sie sind in der normativen Stilistik umstritten. Blatz II 901 verteidigt sie wegen ihrer weiten Verbreitung, auch bei Klassikern. (Zur problematischen Deutung des Beispiels als Relativsatz s. u.)

2. Relativsätze als Gliedsätze („freie Relativsätze“)

Relativsätze ohne Bezugselement im Obersatz heißen freie Relativsätze.
Das Bezugselement kann fehlen, wenn es entsprechend der Verbrektion der gleichen Ergänzungsklasse angehören würde wie das Relativum, anders gesagt: wenn der freie Relativsatz und das Relativum zur gleichen Ergänzungsklasse gehören. Der einfachste Fall liegt vor, wenn beide Teilsätze dasselbe Verb enthalten:
Darf eine Prinzessin glauben, woran sie glauben will?
Hier wird häufig die Wiederholung des Verbs vermieden; es ist jedoch zu ergänzen und regiert weiterhin das Relativum:
Darf eine Prinzessin glauben, woran sie will? (FAS 2.12.01)
Weitere Fälle:
Graf Peter blieb immer, der er war. (Adelbert von Chamisso: Schlemihl)
Beide Verben fordern eine Ergänzung im Nominativ, im Obersatz wäre ein der oder derjenige/derselbe einsetzbar.
Wer rastet, (der) rostet.
Für wen ein Auslandsaufenthalt in Jahrgangsstufe 10 nicht in Frage kommt, (für den) besteht die Möglichkeit, das Auslandsjahr auch von vornherein in der Jahrgangsstufe 11 einzuplanen. (Bayer. Ministerium für Unterricht und Kultus: Die neue Oberstufe des Gymnasiums in Bayern. 2008:33)
Bei Nichtübereinstimmung wird eher ein Bezugselement im Nominativ oder Akkusativ weggelassen:
Wem man im Orient begegnete, schaute auf romantische Lebensumstände zurück. (Otto Flake: Es wird Abend. Frankfurt 1980:306)
Ein deutlicher markiertes Bezugselement im Obersatz (Dativ, Genitiv, Präpositionalgruppe) kann bei Ungleichheit mit dem Relativum nicht weggelassen werden:
Wer den Tod nicht fürchtet, dem kann man mit dem Tod auch nicht drohen. (Literaturen Nov. 2001:47)
Die Wiederholung des Personalpronomens findet sich auch beim freien Relativsatz:
Die wir ihm näherstanden, haben bedauert, daß die Folgen eines Sturzes vor zwei Jahren ihn uns ferner rückten. (FAZ 12.7.04)
In Fällen wie
Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los. (Goethe)
ist scheinbar ein Bezugselement vorhanden; es ist jedoch als Apposition anzusehen, so daß der Relativsatz gleichwohl frei ist. (Blatz II:850: „epexegetisch“)
Freie Relativsätze dienen auch dazu, Satzglieder oder -gliedteile in eine hervorgehobene Position am Anfang oder Ende eines Satzes zu bringen. Man unterscheidet Links- und Rechtsspaltung (Engel).
s. Spalt- und Sperrsatz
(http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1607)

Relativsatzverschlingung

Der relativische Anschluß wird aus einer untergeordneten satzwertigen Konstruktion heraus hergestellt, formal jedoch vom Verb des Matrixsatzes regiert:
Da sind eine Menge Aushöhlungen in dem Felsen, aus denen man nicht weiß, was man (daraus) machen soll. (Seume bei Blatz II 930)
Und was sollen wir erst von Winston Churchill sagen, von dem Manne, den ich nicht zögere, als den bedeutendsten Staatsmann unserer Epoche zu bezeichnen! (Dolf Sternberger in: Die deutsche Sprache im 20. Jahrhundert. Göttingen 1969:80)
Enthält der Relativsatz ein Verb des Sagens, Denkens, Fühlens oder Wollens, so kann an das vorweggenommene Relativum ein Inhaltssatz mit daß angeschlossen werden:
Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Hier könnte es sich auch um einen gleichlautenden, mit das angeschlossenen Relativsatz handeln; darauf deutet die gelegentlich anzutreffende Schreibweise hin (vgl. Blatz S. 932: „ziemlich veraltet“). Fälle wie Wen wollt ihr, daß ich euch losgebe? sind jedoch eindeutig.
Die Verschlingung wird ganz oder teilweise vermieden, wenn der relativische Anschluß nicht mehr vom untergeordneten Prädikat regiert ist, das vielmehr sein eigenes pronominales Objekt erhält:
Das gehört unter die Dinge, von denen Kant sagt, daß man sie weder behaupten noch widerlegen kann. (Jean Paul nach Blatz II 931)
Das weiß doch jeder, daß der Weg des Erfolgreichen mit jenen Leichen gesäumt ist, von denen er jetzt kaum noch Zeit hat, sie in den Keller zu räumen. (SZ 5.9.86)
(statt: die er jetzt kaum noch Zeit hat in den Keller zu räumen)

3. Relativsätze als Textappositivsätze

Weiterführende Relativsätze sind ihrer Funktion nach selbständig (sie haben eine eigene Illokution), formal jedoch als Relativsätze gebildet. Da sie kein Glied im Obersatz bilden, lassen sie sich nicht erfragen. Sie kommentieren den Obersatz oder ein passendes Textstück; sie können vorangestellt, nachgestellt oder in Parenthesennischen vorkommen:
Was ich noch sagen wollte: ...
Hier könnte man von einem elliptischen Sperrsatz sprechen: Was ich sagen wollte, ist dies: ...
In beiden deutschen Staaten lockerten sich später die sexuellen Normen, wobei ich davon überzeugt bin, daß das jeweils gesellschaftlich Erlaubte und Angebotene nicht mit dem identisch ist, was die Leute in ihren Betten wirklich anstellen.
(SZ 29.12.95)
Was zu beweisen war.(Schlußformel in mathematischen Texten)
Womit wir beim Thema wären.
Parenthetisch:
Aber was hat ihn in diese Kneipe am Kurfürstendamm verschlagen, in der, womit früher alles gesagt war, nur Leute wie ich verkehren? (Peter Schneider: Der Mauerspringer. Darmstadt 1984:110)

Verkappte Relativsätze
(Vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1609)

Die anknüpfenden Relativsätze lassen sich als Spiegelbilder einer anderen Art von Satzverkleidungen auffassen: verkappte Relativsätze, scheinbar selbständige Sätze, die funktional Attributsätze sind:
Es war einmal ein König, der hatte zwei Söhne.
Es gibt Redner, denen hilft kein Redenschreiber. Einen kenne ich, dessen Redenschreiber möchte ich nicht sein. (Kursbuch 84, 1986:139)
Daß es sich um keine Satzreihe handelt, merkt man an der progredienten Intonation des ersten Teils (die einem Korrelat gleichwertig ist) und daran, daß der zweite Satz keine unabhängige Illokution hat, folglich auch nicht mit Adverbien wie aber, übrigens usw. versehen sein kann:
*Es gibt Leute, die haben aber/übrigens sehr viel Geld.

Diese verkappten Relativsätze werden fast immer rechts herausgestellt (extraponiert). Bei anderer Stellung verlieren sie ihren relativsatzähnlichen Charakter:
Einen Redner, dessen Redenschreiber möchte ich nicht sein, habe ich kürzlich kennengelernt.

Trajektion (nach Blatz)

Welchen Kranken du anrührst, der wird gleich gesund. (Goethe)
Statt: Der Kranke, welchen du anrührst ...

Partielle Trajektion (nach Blatz):

Alles, was er mir Böses zugefügt hat, habe ich vergessen.
Statt: Alles Böse, das/was er mir zugefügt hat... (Hier lag ursprünglich ein partitiver Genitiv vor: was Böses = was an Bösem.) Historisch gesehen, ist die Trajektionsstellung sogar die ursprünglichere.

Anmerkungen:

1. Die herkömmliche Definition des Relativsatzes über das einleitende Relativelement kritisiert Lehmann (HSK Syntax 2), aber auch schon Sütterlin (1910:391), der eine durchgreifend andere Einteilung der Nebensätze vorführt.

2. Relativsatz mit Anschluß aus einem nachgestellten Attribut heraus ist im Englischen möglich, aber kaum im Deutschen; Ausnahmen sind oben erwähnt. Das folgende Beispiel ist aus dem Englischen übersetzt:
Gelegentliche Versuche (...) dienten nur dazu, bei den Linguisten ein nahezu haßvolles Mißtrauen zu schaffen, für viele von denen „Logik“ und damit Verwandtes nahezu Schimpfwörter wurden. (Laszlo Antal (Hg.): Aspekte der Semantik. Frankfurt 1972:293)
Zusätzlich verwirrt:
Mit der genannten Umkehr sind einige Probleme und offene Fragen verbunden, von denen auf einige im folgenden eingegangen wird. (Gerhard Helbig: Probleme der Valenz- und Kasustheorie. Tübingen 1992:55)

3. Relativsätze kommen auch im Zusammenhang der Extraktion („Fernattribution“) vor:
Es gibt vier Männer, mit denen Hitler, aus jeweils verschiedenen Gründen, einen Vergleich herausfordert. (Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler:11)
Dadurch wird die unter Anm. 2 beschriebene Konstruktion vermieden (*einen Vergleich mit denen ...). Ebenso: die Studenten, von denen ich einen nicht kenne = one of whom I do not know (nach Hammer 93); möglich wäre auch deren einen ich nicht kenne (nach dem Muster: dessen Freundin ich nicht kenne).

4. Das Relativum kongruiert im Numerus manchmal nicht mit seinem Bezugselement:
Einer der aufregendsten Menschen, den (statt die) ich je kennen gelernt habe, war mein Schwager.
Dieser „unlogische“ Bezug wird von der Sprachpflege kritisiert (Duden 9. Mannheim 2001:720) oder als falsch abgelehnt (Wahrig Fehlerfreies und gutes Deutsch. Gütersloh 2003:433).

5. Textappositivsätze sind nicht „in Konstruktion“; es sind gesonderte Äußerungseinheiten, die man weder im Vorvorfeld noch im Nachnachfeld eines Satzes unterbringen muß.

6. Beim freien Relativsatz kann das angeblich „fehlende“ Bezugselement nicht immer ohne formale Änderungen eingesetzt werden:
„Wer Köln kennt, weiß, dass diese Stadt tausend Gesichter hat.
= Derjenige, der Köln kennt, weiß, dass diese Stadt tausend Gesichter hat.“
(Beispiel nach Dudengrammatik 2005:311, aber anders gedeutet als dort)

7. „Nebensätze mit w-Pronomen plus (auch) immer erinnern an freie Relativsätze. Das zweite Beispiel mit Pro-Adverb wann deutet allerdings darauf hin, dass ein Sonderfall von Interrogativnebensatz vorliegen könnte: wann wird nämlich sonst nur interrogativ gebraucht: (...) Ich komme dich besuchen, wann immer du willst.“ (Dudengrammatik)
Gegen die interrogative Deutung spricht, daß die Verallgemeinerung gerade nicht im indirekten Fragesatz stehen kann: *Ich will wissen, wann immer du kommst. Vgl. auch die parallelen Konstruktionen Man bleibt, wo man mag, und geht weg, wann man mag. (ebd. S. 327)

8. „Die Volkssprache hat sich mit dem Relativpronomen bis jetzt noch nicht befreundet; sie ersetzt es, so gut es geht, durch Demonstrative oder wendet die Partikel wo an, z. B.
Das Haus, wo (= das) ich gekauft habe.“ (Blatz I:427)
Dies ist auch schriftsprachlich anzutreffen, wenn ein zeitlicher oder räumlicher Sinn gefunden werden kann:
Es geht doch nichts über die Momente, wo (=in denen) man das Gute des Lebens mit seinen Freunden oder allein in der Erinnerung noch einmal genießt. (Johann G. Seume: Prosaschriften. Darmstadt 1974:659)
Aber alle Versuche, den Arzneimittelmarkt zu steuern, führen in der politischen Diskussion unweigerlich an den Punkt, wo (=an dem) sich Sozialsystem und Marktwirtschaft unversöhnlich gegenüberstehen. (SZ 3.3.84)
Das kasusvertretende (ebenso wie das lokale) wo hat das früher häufige da zurückgedrängt (Paul IV, S. 210). Statt der Verbindung von Präposition und Pronomen steht besonders bei Bezug auf Gegenstände meist das relative Pronominaladverb (worüber, womit usw. statt über das, mit dem usw.). Bei Personen ist das weniger üblich, doch kommen in beiden Richtungen sehr oft Abweichungen vor:
Soll man das, über was (= worüber) man im Augenblick verfügt, im Kampf um eine prinzipiell ungewisse gesellschaftliche Zukunft aufs Spiel setzen? (Helmut Seiffert: Hochschuldidaktik und Hochschulpolitik. Neuwied 1969:3)
Weiterführende Relativsätze werden gegebenenfalls mit dem Pronominaladverb eingeleitet:
Lavater besaß eine Sanduhr, die man alle Viertelstunden umdrehen mußte, womit er sich zu einem ökonomischen Zeitgebrauch anhielt. (Therese Wagner-Simon/Gaetano Benedetti (Hg.): Sich selbst erkennen. Göttingen 1982:163)
„Weiterführende Nebensätze können nur hinter dem Hauptsatz stehen. Sie können also nicht vor den Hauptsatz gestellt oder in ihn eingebettet werden. Nicht: Worüber ich mich sehr freute, er hat mich eingeladen.“ (Nach Canoo)
Diese Konstruktion ist sehr wohl möglich, nur nennt man sie natürlich nicht „weiterführend“. Ein Fehler, der sich sonst eher in Texten von Nichtmuttersprachlern findet:
Wie bereits darauf hingewiesen wurde, handelt es sich bei den Possessivkomposita um eine besondere Art des Determinativkompositums. (Michael Lohde: Wortbildung des modernen Deutschen. Ein Lehr- und Übungsbuch. Tübingen 2006. S. 82)

9. Umgangssprachlich, vor allem süddeutsch, wird das Relativpronomen mit der Partikel wo verbunden; veraltet ist die Verbindung mit da:
die Lehrerin, die wo uns das beigebracht hat(aus einem Schülertext)
Gaßaus gaßein kam er endlich an den Meerbusen, der da heißt: Het Ey, oder auf deutsch: das Ypsilon. (Johann Peter Hebel: Kannitverstan)
Damit schlagen Sie auch gleich weiteren Feinden Ihrer Digitalcamera ein Schnippchen, die da heißen Schlag, Stoß, Druck oder Kratzer. (Kodak-Werbung)
In den meisten Fällen verhindert das eingefügte da die im Nebensatz unerwünschte Verbzweitstellung.

10. Die verkappten Relativsätze sind immer restriktiv. Das folgt aus der semantischen Unabgeschlossenheit des Obersatzes. Darum können im verkappten Relativsatz auch keine Partikeln wie aber, übrigens, ja usw. stehen, die auf Sätze mit eigener Illokution beschränkt sind:
Es gibt Leute, die haben sehr viel Geld. *Es gibt Leute, aber sie haben nicht viel Geld.
Ich habe einen Bekannten, der fährt einen Porsche. *Ich habe einen Bekannten, der fährt übrigens einen Porsche.


11. Der Genitiv des anaphorischen Pronomens der wird manchmal einer irrtümlich empfundenen Rektionsverpflichtung unterworfen, besonders nach Präpositionen:
Eines Morgens, in dessem trüben Zwielicht alle Zeit stehengeblieben zu sein schien (...) (Michael Ende)
Die Geschichte des Antisemitismus (...) hat die höchsten Werte der abendländischen Gesellschaft, in derem Namen Juden verfolgt und getötet wurden, diskreditiert. (Das Parlament 1.1.88 – statt in deren)
Man kann darin die Entwicklung zu einem Artikelwort sehen.

12. Relativattraktion und umgekehrte Attraktion: Die ahd. und mhd. Kasusangleichung des Relativpronomens an das Bezugselement ist heute kaum noch anzutreffen, die umgekehrte Angleichung (Attractio inversa) ist ebenfalls selten: „Was ich möchte, ist euren Respekt.“ (Gerhard Schröder in SZ 13.4.99)

13. Es wird behauptet, daß nach substantivierten neutralen Adjektiven der Anschluß mit was üblich oder besser sei: all das Schöne, was wir in diesen Tagen erlebten (Duden 9:719; Dudengrammatik 2005:1039); all das Traurige, was in diesen Augen lag ... (Wahrig Fehlerfrei 432); das Spannende, was diesen Film auszeichnet (Flämig 315). In Wirklichkeit ist hier der Anschluß mit das üblicher.

14. Es wird auch behauptet, daß freie Relativsätze im Fokus einschränkender Partikeln nicht mit einem resumptiven Element im Nachsatz verträglich sind werden können: ?Nur wer mitspielt, der kann gewinnen. Vgl. aber:
Nur wer noch träumen kann, der kann die Welt verändern.
Nur wer bereit ist, auf seine Kunden zuzugehen und ihre Sichtweisen und Bedürfnisse kennenzulernen, der kann sie erfolgreich ansprechen.
Denn nur wer die gemeinen Fallstricke im Unternehmerleben kennt, der kann die Fallen auch wirklich umgehen! (Klappentext zu: Die miesesten Fallstricke für Existenzgründer und Jungunternehmer: Nur wer sie kennt, kann sie vermeiden )
In Wirklichkeit ist wer zweideutig: 1. = 'wer auch immer', 2. = 'derjenige, welcher'. Nur der erste Fall schließt die Einschränkung durch eine Fokuspartikel aus, da die Verallgemeinerung gerade alle Beschränkungen aufhebt: *nur jeder beliebige – das wäre tatsächlich ein Widerspruch.

15. Als falsch gilt die Nutzung des Relativpronomens in zwei verschiedenen Kasusfunktionen:
Aber auch Stella hätte nicht sagen können, woher die Eifersucht gekommen war, die (Akk.) Antonia fünfzig Jahre lang nicht gekannt hatte und (Nom.) sie nun jede Minute des Tages beherrschte. (Martin Mosebach: Ruppertshain. München 2004:286)

16. Manchmal wird vom Relativum in kopulativer Verbindung ein weiterer, andersartiger Nebensatz abhängig gemacht:
Toby fuhr flüchtig mit der Schnauze über ihr Gesicht, das er streifte und auf diese Weise seine Küsse nur andeutete. (Martin Mosebach: Ruppertshain. München 2004:144)
Das war früher üblicher:
Besonders war sie sorgfältig, alle Zugluft abzuwehren, gegen die er eine übertriebene Empfindlichkeit zeigte und deshalb mit seiner Frau, der es nicht luftig genug sein konnte, manchmal in Widerspruch geriet. (Goethe: Wahlverwandtschaften)
Hierher auch verschiedenartige Ergänzungen:
In Wirklichkeit schrieben die Schmähepisteln Ulrich von Hutten und zwei, drei quicke Freunde, deren Adepten und schließlich allerlei findige Federn, deren Namen und die Örtlichkeiten ihrer Schreibpulte nie mit Sicherheit ermittelt wurden. (ZEIT 13.6.02)

17. Die folgende konzessive Konstruktion sieht Blatz nicht als Trajektion an:
In welche Unternehmung er sich auch einläßt, stets hat er Glück.
(Auch mit verallgemeinerndem soviel u.ä.). Der kommentierende Satz ist nicht integriert, hat daher keine grammatische Beziehung zum folgenden Hauptsatz.

18. Relativsätze können durch Satzabschnitte vertreten werden:
Zu Beginn der neueren deutschen Geschichtsschreibung hat es bereits einen Historikerstreit gegeben, heftiger als derjenige in der Bundesrepublik. (SZ 31.3.90)

19. Einige Anschlüsse werden oft als relativ bezeichnet, obwohl sie es nicht sind. Vgl.
der Moment, nach dem das passiert ist
der Moment, nachdem das passiert ist
Hier suggeriert Eisenberg (S. 233) eine Nähe oder Verwandtschaft der beiden Ausdrucksweisen, die in Wirklichkeit nicht gegeben ist. Die Bedeutung der beiden Ausdrücke ist sehr verschieden: Im ersten Fall liegt der Moment vor dem, was passiert ist, im zweiten Fall danach. Im zweiten Fall wird der Moment nur expliziert: der Moment = nachdem das passiert ist. Im ersten Fall wird eine Relation zwischen dem Moment und dem Passierten ausgedrückt. Anders gesagt: der Moment nominalisiert im zweiten Fall nur den Nebensatz(inhalt), als typisches textuelles Abstraktum, allerdings unter einem bestimmten Aspekt. Der Nebensatz (der nicht durch ein Relativum eingeleitet ist) wird dadurch für bestimmte syntaktische Zwecke hergerichtet. Vgl. der Ort, wo x begraben ist usw.
Dieser Fall wird bei Blatz II:814f. diskutiert: Vor alten Zeiten, als noch Engel auf der Erde wandelten... Hier würde bei relativem Bezug auf Zeiten „der handgreifliche Widersinn entstehen, daß die erzählte Geschichte sich zutrug vor den Zeiten, in denen Engel auf der Erde wandelten.“. Also ist besser doppelte Besetzung der Adverbialstelle annehmen, appositiv zueinander. Doppeldeutig ist die Konstruktion, wenn die Konjunktion oder Partikel ohne Bedeutungsänderung in ein Relativum überführt werden kann:
der Augenblick, als er mich erblickte = der Augenblick, in dem er mich erblickte
Aber das sind verschiedene Programme mit gleichem Ergebnis:
„Zweifelhafter ist die Auffassung von als in dem Satze 'Eines Abends, als wir vergnügt in dem Garten saßen, fiel in der Nähe ein Schuß'; doch ist auch hier die Aussage des Nebensatzes als zweite, speziellere Zeitbestimmung anzusehen und derselbe als Konjunktionalsatz zu bezeichnen.“ (Blatz II 814f.)
Vgl.: Aber heute, da man weiß, was der Spitzel Kurras tat, stellt sich die Frage... (SZ 30.5.09)

20. Beim freien Relativsatz entspricht das Relativum der Rektion des Verbs, von dem es abhängt; meistens stimmt der Kasus gleichzeitig zum Verb des Matrixsatzes ("Matching"):
Platon versteht nur, wer mit ihm philosophiert. (Rudolf Bultmann in Gadamer/Boehm (Hg): Philos. Hermeneutik. Frankfurt 1976:248)

Oder der Kasus des Relativums steht in einer anderen Form, die in einer angenommenen Kasushierarchie (Nominativ – Akkusativ – Dativ – Genitiv – Präpositionalkasus) niedriger steht als der des Matrixverbs:
Auch wem die Grünen nicht passen, muß gestehen: Sie haben einiges bewirkt. (Zeit 11.1.91)
Darf eine Prinzessin glauben, woran sie will? (FAS 2.12.01)



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Kommentare zu »Grammatische Exerzitien 10«
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Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 27.01.2015 um 01.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#27893

Wir haben also einerseits Relativsätze mit nicht korrektem Bezug
(aus dem Vorwort zu dessen 1. Lieferung ich eben zitiert habe),
oder mit falschem (nicht kongruentem) Numerus
(Einer der aufregendsten Menschen, den ich)
oder falscher Nutzung wegen unterschiedlicher Kasus
(die Eifersucht ..., die Antonia ... nicht gekannt hatte und sie nun ... beherrschte),
alles Beispiele, die ich ebenfalls als nicht korrekt bzw. falsch beurteilen würde,

andererseits aber gibt es diese Verschlingung, die Sie, lieber Prof. Ickler, anscheinend als korrekt ansehen
(Aushöhlungen in dem Felsen, aus denen man nicht weiß
von dem Manne, den ich nicht zögere)?
Ehrlich gesagt, mir kommen solche Sätze nicht weniger falsch vor. Werden da nicht unterschiedliche Maßstäbe angelegt, oder warum kann man die Verschlingung so gelten lassen?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.01.2015 um 05.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#27895

Lieber Herr Riemer, das ist jederzeit eine berechtigte Frage, und sie betrifft bei meinem empirischen Ansatz den Umgang mit den Texten. Ich habe, wie Sie bestimmt bemerkt haben, kein eigenes Urteil abgegeben, sondern mich mit Wendungen wie "gilt als ..." aus der Affäre gezogen. Im Hintergrund steht meine unausgesprochene Ansicht, ob eine Konstruktion (es handelt sich ja oft um Lehnsyntax aus dem Lateinischen oder Englischen, daher auch oft um übersetzte Texte) sozusagen ins Deutsche paßt und Zukunft hat oder nicht. Die Nichtkongruenz des Numerus ist millionenfach belegt und nicht mehr zu beanstanden, die Satzverschlingung wird in allen großen Grammatiken als geregeltes Verfahren dargestellt und muß hingenommen werden, wenn sie auch naturgemäß nicht so oft vorkommt. Die beiden Beispiele von Mosebach (Anm. 15 und 16) halte ich für strukturwidrig und habe angedeutet, daß das Deutsche hier im Laufe der Zeit strenger geworden ist, also wohl solche Katachresen wieder ausgeschieden hat. (Tausende von Beispielen noch bei Goethe.)
Mein Verfahren ist also: das Vorfindliche darstellen, die normativen Bedenken (der, nun ja, gebildeten Sprachgemeinschaft) aber auch nicht verschweigen.
 
 

Kommentar von Andreas Blombach, verfaßt am 29.01.2015 um 04.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#27923

Auch ein paar Anmerkungen von mir:

Grundsätzlich glaube ich, dass Sie sich in Ihren Erklärungen einfacher ausdrücken können, ohne dass dadurch die Genauigkeit selbiger leiden muss. Die Fachwörterdichte ist doch arg hoch.

Sie schreiben: "Aus einem nachgestellten Genitiv- oder Präpositionalattribut heraus gilt der Bezug nicht als korrekt" und bringen als Beispiel dafür auch diesen Satz:
Die Uredition, kurz vor deren Fertigstellung auch Galba starb, ist schon für sich eine Kostbarkeit.
Das Problem hieran ist doch aber lediglich das kurzdie Uredition, vor deren Fertigstellung ... wäre völlig akzeptabel. Oder verstehe ich hier etwas nicht?
Der Relativsatz muss in solchen Fällen mit der Präposition eingeleitet werden, sonst klingt er wenigstens sonderbar.

"Enthält der Relativsatz ein Verb des Sagens, Denkens, Fühlens oder Wollens, so kann an das vorweggenommene Relativum ein Inhaltssatz mit daß angeschlossen werden:
Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Hier könnte es sich auch um einen gleichlautenden, mit das angeschlossenen Relativsatz handeln; darauf deutet die gelegentlich anzutreffende Schreibweise hin (vgl. Blatz S. 932: „ziemlich veraltet“)."
Gelegentlich anzutreffend? Google gibt mir ~61900 Treffer für die Variante mit das, ~46300 für die Variante mit dass/daß, der Ngram-Viewer zeigt für lange Zeit ein Nebeneinander der Varianten, für die jüngere Vergangenheit aber eine Tendenz zu das (https://books.google.com/ngrams/graph?content=das+man+dir+tu%2Cdass+man+dir+tu%2C+da%C3%9F+man+dir+tu&year_start=1800&year_end=2008&corpus=20&smoothing=2&share=&direct_url=t1%3B%2Cdas%20man%20dir%20tu%3B%2Cc0%3B.t1%3B%2Cdass%20man%20dir%20tu%3B%2Cc0%3B.t1%3B%2Cda%C3%9F%20man%20dir%20tu%3B%2Cc0), eine COSMAS-II-Anfrage ergibt ebenfalls einen klaren Vorsprung für das im Sprichwort (Suchanfrage: was du "nicht" willst das man dir -> 218 Treffer; was du "nicht" willst (dass ODER daß) man dir -> 134 Treffer; DeReKo 2014-II).
Richtig ist aber sicher, dass in vielen solcher Fälle die Schreibung mit dass/daß üblich ist, vermutlich durch Einfluss anderer Satztypen. Leider ist es gar nicht so einfach, dazu ordentliche Korpusabfragen zu finden, zumal solche Sätze in der Schriftsprache eher vermieden werden. (Im taz-Korpus finde ich z.B. [W]as wünschten Sie sich, dass Gott Ihnen serviert? – stammt aus einem Interview.) Häufig scheinen Konstruktionen à la Was denkst/glaubst/meinst du, dass ... zu sein: Und was meinst du denn, dass an dir zu bessern sei? (ebenfalls aus dem taz-Korpus), wobei auffällt, dass man hier auch was einsetzen könnte.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.01.2015 um 06.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#27925

Vielen Dank, lieber Herr Blombach, für den Hinweis auf das falsch eingeordnete erste Beispiel; da muß ich noch einmal in meine Belegsammlung greifen. Was das andere betrifft, das haben wir ja schon mal diskutiert (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1043#24245). Die Statistik muß ich vielleicht noch einmal überprüfen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.01.2015 um 06.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#27926

Eigentlich genügen ja die beiden Beispiele, das mit "kurz" könnten man einfach streichen (bitte tun Sie es, falls Sie den Eintrag gespeichert haben!). Andere Beispiele wären:

Die Südtiroler haben eine große Sprachgemeinschaft außerhalb ihres Staates, mit der sie sich solidarisch fühlen und die Zugehörigkeit zu der sie verteidigen. (Florian Coulmas: Sprache und Staat. Berlin 1985:55)

Grundsätzlich ist die Frage zu stellen, auf Grundlage welcher Prinzipien und Kategorien der L1-Erwerber in der frühen Phase seine Äußerungen bildet. (Sascha Felix: Psycholinguistische Aspekte des Zweitsprachenerwerbs. Tübingen 1982:83)

Die Regel muß vielleicht noch anders formuliert werden. Meine Grammatikkapitel enthalten bestimmt noch weitere Versehen, für Hinweise auf die ich dankbar wäre...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.04.2015 um 04.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#28665

Es war wie eine Erlösung, die er auch für sich erhoffte, den entscheidenden Schritt dazu er aber nicht wagte. (FAS 19.4.15, Volker Weidermann über Grass)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.06.2015 um 18.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#29041

Das letzte Mal, das ich ihn in Prag sah, gingen wir in größerem Freundeskreis ins Kino. (Willy Haas: Die literarische Welt. München 1960:36)

Man erwartete vielleicht daß, aber ein Relativsatz geht auch, und zwar weil sich mit dem Relativum der adverbiale Akkusativ ergibt: ich sah ihn das letzte Mal.
Vgl. der letzte Tag, den ich ihn sah/daß ich ihn sah
Aber nicht *die letzte Gelegenheit, die ich ihn sah – weil es nicht gibt: ich sah ihn die letzte Gelegenheit.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.06.2015 um 06.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#29047

Noch ein kleines sprachliches Vexierbild:

Die Bedeutung des Griechentums wird hier auf anderen Wegen gesucht, als die der Klassizismus gegangen ist. (Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes. 9. Aufl. Göttingen 2011:11)

Der Relativsatz ist "frei", also ohne Bezugselement im Obersatz, denn (denen) ist ausgelassen. Bedenkt man, daß die nichtelliptische Fassung so aussähe:

Die Bedeutung des Griechentums wird hier auf anderen Wegen gesucht als denen, die der Klassizismus gegangen ist.

– so sieht man, daß als zum Obersatz gehört, das Komma also eigentlich an der falschen Stelle sitzt. Logischer wäre:

Die Bedeutung des Griechentums wird hier auf anderen Wegen gesucht als, die der Klassizismus gegangen ist.

Aber das geht natürlich erst recht nicht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.06.2015 um 19.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#29076

„Ein freier Relativsatz kann in der Regel durch ein Pronomen zu einem gebundenen Relativsatz gemacht werden: Wer nicht hören will, der muss fühlen. Wen sie mag, den nimmt sie mit.“ (Duden 9, 2011:787)

Das ist falsch. Das Demonstrativum ist nicht das Bezugswort des Relativums ("der ... wer ... " wäre ja nicht einmal grammatisch), sondern ein "resumptives" Pronomen, wie man mit Recht gesagt hat; ähnlich wie bei der Linksversetzung. Der Relativsatz bleibt frei.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 06.06.2015 um 23.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#29077

Ist die Duden-Behauptung ganz falsch oder sind nur die Beispiele falsch? Vielleicht hätte da statt "in der Regel" besser "manchmal" (natürlich mit einem passenden Beispiel) gestanden.

Wollte man die Linksversetzung vermeiden, müßte man umstellen:
*Sie nimmt den mit, wen sie mag.

Aber:
Sie nimmt das mit, was sie mag.

Bei was scheint die Umwandlung in einen gebundenen Relativsatz durch ein zusätzliches Demonstrativum möglich zu sein. Eigentlich seltsam, daß es solche Unterschiede zwischen wer und was gibt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.06.2015 um 04.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#29135

Außerhalb Italiens, wo Latein ja auch immer etwas vom Glanz der eigenen Vergangenheit ausstrahlte, hatten es die lateinischen Musen naturgemäß noch schwerer, auch in der Romania. (Wilfried Stroh: Latein ist tot – es lebe Latein. Berlin 2008:229)

Rein grammatisch gesehen ist der relativische Anschluß zweideutig. Er kann sich auf Italien beziehen oder auf die Ortsangabe "außerhalb Italiens". Das ist der Nachteil gegenüber dem Relativpronomen. Es gibt natürlich eindeutige Formulierungen, aber man muß sich anstrengen, sie zu finden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.07.2015 um 06.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#29551

Hier ein schönes englisches Beispiel, das die Einbettung noch einen Schritt weitertreibt:

We need to become clear about certain subsidiary distinctions, failure to observe which would tend to muddy the application of the criterion we envisage. (Syntax and Semantics 14, 1981:204f.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.08.2015 um 04.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#29623

Die Verordnung ist Teil eines Programms, mit der Amerikas Regierung ihren Beitrag dazu leisten will, die globale Klimaerwärmung zu stoppen. (FAZ 4.8.15)

Von allen genusflektierten Wörtern steht das Relativpronomen am häufigsten im falschen Genus. Das Genus scheint hier am wenigsten funktionale Last zu tragen, daher ja auch das umgangssprachlich verallgemeinerte wo (auch in standardsprachlich womit, damit usw.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.04.2016 um 05.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32245

(1) Wer ein ausländisches Staatsoberhaupt oder wer mit Beziehung auf ihre Stellung ein Mitglied einer ausländischen Regierung, das sich in amtlicher Eigenschaft im Inland aufhält, oder einen im Bundesgebiet beglaubigten Leiter einer ausländischen diplomatischen Vertretung beleidigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe, im Falle der verleumderischen Beleidigung mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
-
Erstreckt sich der Relativsatz nur auf das Mitglied oder auch auf das Staatsoberhaupt? Da Erdogan sich zur Zeit von Böhmermanns kindischem Erguß nicht in Deutschland aufhielt, wäre der Fall juristisch schnell entschieden.

Die türkische Regierung hat nicht ganz unrecht, wenn sie das deutsche Fernsehen als mehr oder weniger staatlich ansieht. Der Staat ist auf mehreren Ebenen beteiligt, treibt ja auch mit seinen Machtmitteln die Gebühren ein.

Interessant würde es, wenn irgendein Böhmermann sich mal über Obama hermachte ("Nigger" usw.).
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 12.04.2016 um 10.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32252

Obama hat sich bisher nicht als dankbare Leberwurst erwiesen, oder?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.04.2016 um 07.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32256

Scheuer: Was Erdogan macht, ist schwer erträglich. Der aktuelle Fall Böhmermann zeigt, dass Erdogan nicht nur Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei mit Füßen tritt, sondern auch Europa seine Vorstellungen aufzwingen will. Hier dürfen wir nicht nachgeben. Man muss den Stil von Böhmermann nicht gutheißen. Mir gefällt das keineswegs. Aber dass es solche Satire gibt, gehört zum aufgeklärten Europa. Punkt. Ich fühle mich darin bestätigt, dass die Türkei nicht Vollmitglied der Europäischen Union sein kann. Für die EU sollte bei der Eröffnung weiterer Beitrittskapitel dieses Beispiel ein klares Signal sein.

Die Welt: Erdogan beruft sich auf ein Gesetz, das Teil unseres Strafgesetzbuchs ist. Wenn am Ende eine Verurteilung von Jan Böhmermann steht, hat dann der Rechtsstaat funktioniert?

Scheuer: Wir müssen alles vermeiden, was ein Abrücken des aufgeklärten Europas von seinen Grundsätzen wäre. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Die Auswirkungen der Diskussion zeigen sich in der Absage der Sendung und im Personenschutz für Jan Böhmermann – dass dies notwendig geworden ist, ist in einer freien Gesellschaft unerträglich.

(welt.de 13.4.16)

-

Wie gesagt, Erdogan ist ja von unseren Medien sozusagen zum Abschuß freigegeben. Die Verteidiger der Meinungsfreiheit würden bestimmt etwas anders reagieren, nähme sich ein satirischer Rotzlöffel einmal der Lesben oder Juden an. Schon das viel harmlosere Bild des Papstes in seiner verpißten Soutane hat die "Grenzen der Satire" heraufbeschworen.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 13.04.2016 um 12.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32260

"Satirischer Rotzlöffel"? Klingt wie ein Kommentar aus den verknöcherten Tagen meines Vaters. Ich wüßte auch nicht, welche lesbischen oder jüdischen Diktatoren leberwurstbeleidigt das Verbot einer treffenden deutschen Satire gefordert und sich damit eine rotzlöffelige Reaktion verdient haben sollten.

https://virchblog.wordpress.com/2016/04/12/nochmal-schmaehkritik/
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.04.2016 um 13.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32261

Es geht hier nicht darum, was jemand "verdient" hat.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 13.04.2016 um 13.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32262

Sondern?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.04.2016 um 10.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32271

Lieber Herr Virch, ich habe etwas gezögert, ob ich darauf noch antworten sollte. Die Antwort oder vielmehr die Antworten stehen z. B. auf der von Ihnen selbst anderswo verlinkten Seite http://verfassungsblog.de/erlaubte-schmaehkritik-die-verfassungsrechtliche-dimension-der-causa-jan-boehmermann/ – insbesondere der Beitrag von "Alkmene" gefällt mir recht gut, aber auch andere.

Auch mir scheint, wie gesagt, daß mit zweierlei Maß gemessen wird. Wenn ich z. B. über eine bekannten Politiker sagen würde: "Schwule Sau darf ich ihn ja hierzulande nicht nennen", würde es mir wohl nicht helfen, daß ich den krassen Ausdruck eingerahmt habe. Diese billige Trick wird mit Recht nicht anerkannt. Und den Kunstvorbehalt (wie auf der genannten Seite erwogen) kann ich wohl auch nicht geltend machen. ("Ziegenficker" ist im Zusammenhang noch einen Tick krasser – weshalb sogar Leute, die bloß darüber diskutieren, Ziegenf*** schreiben.)

Wenn jemand sich so exponiert, sollte er die Folgen auf sich nehmen, das wäre wirklich mutig, aber nicht dieses sophistische Sichherausreden. Wir genießen eine nie dagewesene Meinungsfreiheit – daß sie Grenzen hat, ist keine besonders verdienstvolle Einsicht. Darüber müssen wir nicht pathetisch "aufgeklärt" werden.
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 14.04.2016 um 13.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32273

Zu #32245:

Die Formulierung des § 103 StGB ist zwar nicht ganz eindeutig, aber das zweite »wer« scheint mir doch stark dafür zu sprechen, daß sich der Relativsatz nur auf »Mitglied einer ausländischen Regierung« bezieht. Außerdem weist das Kriterium »mit Beziehung auf ihre Stellung« sowohl auf die Regierungsmitglieder als auch auf die (vereinfacht gesagt) ausländischen Botschafter, auf die sich der Relativsatz ja keinesfalls beziehen kann, voraus, so daß man schon eine ungewöhnlich komplizierte Verschränkung zu beiden Seiten annehmen müßte, um den Relativsatz auch noch auf das Staatsoberhaupt zurückzubeziehen. Ich meine daher, daß der Aufenthaltsort des Staatsoberhauptes kein Tatbestandsmerkmal ist, und lese die Vorschrift wie folgt:

Wer ein ausländisches Staatsoberhaupt beleidigt oder wer ein Mitglied einer ausländischen Regierung, das sich in amtlicher Eigenschaft im Inland aufhält, mit Beziehung auf dessen Stellung beleidigt, oder wer einen im Bundesgebiet beglaubigten Leiter einer ausländischen diplomatischen Vertretung mit Beziehung auf dessen Stellung beleidigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe, im Falle der verleumderischen Beleidigung mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

Demnach wäre es beispielsweise auch strafbar, den in Deutschland akkreditierten türkischen Botschafter zu beleidigen, wenn der sich gerade in der Türkei oder in Frankreich aufhält.

Ein interessanter Grenzfall ist dann gegeben, wenn das Staatsoberhaupt zugleich Mitglied der Regierung ist, wie es etwa in den Niederlanden der Fall ist. Wenn Herr Ickler gleich beispielsweise König Willem-Alexander als Regierungsmitglied beleidigt, macht er sich strafbar, weil Seine Majestät heute in Erlangen weilt. Morgen wäre eine solche Handlung, zumindest nach § 103 StGB, nicht mit Strafe bewehrt. Eine Beleidigung des Königs als Staatsoberhaupt ist dagegen immer strafbar, und zwar sogar dann, wenn sich die Beleidigung nicht auf sein Handeln in diesem Amt bezieht.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 14.04.2016 um 14.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32275

Lieber Herr Prof. Ickler, wie ich auszudrücken versucht habe, verfehlt Herr Thiele in seinem Verfassungsblog ebenso den Kern der Sache wie alle anderen, die bei Böhmermann aufklärenden, „edukatorischen“ oder sonstigen Hintersinn suchen. Dem Gedicht vorauszuschicken, der Vortrag sei verboten, war in meinen Augen albern, wie ironisch Böhmermann auch dazu posierte. Die Verse werden durch das Herbeispekulieren von kontextbedingten Metaebenen auch nicht zur Satire, sondern sind und bleiben purer Spott. Es ist somit über Spott zu reden und darüber, ob er in diesem Fall angemessen und verdient ist. (Man kann Spott doch ebenso verdienen wie Lob oder Tadel.)

Ich zähle Erdogans zahlreiche Verfehlungen nicht auf; sie sind ja bekannt. Es geht darum, daß er ihrer ungeachtet ein kritisches (inhaltlich korrektes) Liedchen über seine Person zum Anlaß genommen hat, den deutschen Botschafter einzubestellen und ein Verbot zu fordern, während er in der Türkei bereits Hunderte von Anzeigen wegen Beleidigung gegen harmloseste Kritiker erstattet hatte; all dies mit zähnefletschendem Ernst. Erdogan will ein untadeliges Image erzwingen und ist bei aller Brutalität zweifellos eine spottwürdige Figur.

Böhmermanns Gedicht wird allgemein als inhaltlich völlig überzogen und wirklichkeitsfern gewertet (Thiele spricht von einer „fiktiven“ Schmähkritik). Niemand glaubt im Ernst, Erdogans „Gelöt" stinke nach Döner, und auch die anderen Stichworte aus Vorurteilen gegen Türken sind gerade wegen deren Gegenstandslosigkeit erheiternd. Das Publikum weiß, daß es sich um Blödsinn handelt, und worüber es sich besonders freut, ist das sichere Gefühl, daß ein Erdogan das niemals begreifen wird. Böhmermann läuft gleichsam feixend am Gatter des Zähnefletschers entlang und provoziert ihn zu noch lächerlicherem Gebrüll. Das ist schlicht, aber witzig. Und es ist obendrein recht mutig, denn daß das Gatter hält, ist fraglich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.04.2016 um 16.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32276

Ich bin natürlich weit davon entfernt, mich auf Erdogans Seite zu schlagen. Aber wenn Sie meinen, das Ganze sei keine Satire, sondern Verarschung usw. (auf Ihrer Website), dann ist das zunächst einmal Ihre Interpretation, sicher eine vertretbare, aber keine von jedermann sofort geteilte – wie ja die Reaktionen zeigen, ich meine die deutschen.
Außerdem kommt es solchen Fällen nicht nur auf die Absicht an (die Böhmermann m. W. nicht erklärt hat, die man vielmehr erraten muß), sondern noch viel mehr auf die erwartbare Wirkung (in diesem Fall sicher auch gewünschte Wirkung). Ich kann persönlich überzeugt sein, daß Schweine sehr intelligente, dem Menschen besonders ähnliche Tiere sind, trotzdem wird "Schwein" als beleidigend aufgefaßt.
Außerdem möchte ich auch zu bedenken geben, daß in Deutschland Millionen von Türken oder Türkischstämmigen leben, und es ist eine alte Beobachtung, daß viele Menschen zwar gern über ihr eigenes Volk oder ihre Gemeinschaft Witze machen (Iren, Juden, Katholiken über Kleriker!...), dasselbe aber nicht so gern von anderen hinnehmen. Nun will ich nicht der Tyrannei des Vermeintlichen huldigen und mich in vorauseilendem Gehorsam üben, aber es ist vielleicht nicht ganz abwegig, ein gewisses Maß an Voraussicht und auch an Anstand zu verlangen. Wie gesagt, wir haben anderswo gerade wieder was über Israelkritik gelesen.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 14.04.2016 um 18.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32281

Natürlich vertrete ich meine Meinung, auch wenn sie nicht von jedem geteilt wird, und ich halte ihr zugute, daß sie sich begründen läßt, ohne daß dafür Metaebenen und volksaufklärerische Absichten unterstellt werden müßten. Die Böhmermannverteidiger scheinen durchweg zu glauben, sie müßten ihn zum Satiriker adeln, um sein Gedicht rechtfertigen zu können. Daß Erdogan keinen Anlaß habe, sich beleidigt zu fühlen, habe ich nicht gesagt. Vermutlich empfindet er es sogar als besonders beleidigend, verspottet (ganz recht: nach Strich und Faden verarscht) zu werden. Böhmermanns diesbezügliche Absicht muß nicht erraten werden. Bestimmt fühlen sich auch deutsche Türken von ihm unanständig behandelt. Zu unrecht. Nicht sie sind angesprochen, sondern der unanständige Präsident der Türkei.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.04.2016 um 04.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32282

Wir stimmen also vollkommen überein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.04.2016 um 08.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32299

Der Fall Böhmermann brachte mir ein anderes Jüngelchen in Erinnerung: Mathias Rust. Ich bin überrascht, daß das auch schon wieder fast 30 Jahre her ist, und noch mehr darüber, daß ich vergessen oder nie gewußt habe, welche Folgen die Geschichte laut Wikipedia für die russische Innenpolitik hatte, damit aber letztlich auch für die Außenpolitik und für uns.
Natürlich kann ein Dumme-Jungen-Streich unerwartete positive Folgen haben.
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 16.04.2016 um 09.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32301

Gem. Rechtsauslegung von § 103 dürfen im Geltungsbereich des Paragraphen ausländische Staatsoberhäupter oder beglaubigte Leiter einer ausländischen diplomatischen Vertretung unter Strafandrohung niemals beleidigt werden, Mitglied einer ausländischen Regierung nur dann nicht, wenn sie sich in amtlicher Eigenschaft in Deutschland aufhalten.
Demnach wäre man straffrei, wenn man einen türkischen Außenminister beleidigt, wenn er in Wien ist, wenn er aber in Berlin weilt nicht?
Woher wohl diese Unterscheidung kommt?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 16.04.2016 um 09.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32302

Mich wundert bei dieser Sache vor allem folgendes: Kann denn jedes Jüngelchen einfach so einen x-beliebigen Beitrag in einem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender bringen? Ist Böhmermann für Qualität und Inhalt seines Beitrags ganz allein verantwortlich? Wieso muß er das offenbar ganz allein ausbaden, warum fragt niemand danach, welche Verantwortung andere Programmacher, Direktoren usw. des Senders Das Erste bzw. der ARD haben?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.04.2016 um 10.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32304

Die Reichweite (der "Skopus") des Relativsatzes wird zur Zeit in den Leserspalten stark diskutiert, z. B. in der WELT nach einem Beitrag von Torsten Krauel.
Die Juristen werden ihre Auslegungstradition haben, aber meine anfängliche Vermutung, daß es hier ein grammatisches Problem gibt, war offenbar richtig.
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 16.04.2016 um 10.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#32305

Im Entwurf des Strafrechtsänderungsgesetzes von 1950 waren die grammatischen Bezüge im damaligen § 102 noch eindeutig erkennbar:

Ȥ 102

Wer durch eine in den §§ 99 und 100 bezeichnete Handlung

1. ein ausländisches Staatsoberhaupt,

2. mit Beziehung auf ihre Stellung ein Mitglied einer ausländischen Regierung, das sich in amtlicher Eigenschaft im Inland aufhalt, oder einen im Bundesgebiet beglaubigten Leiter einer ausländischen diplomatischen Vertretung

herabwürdigt, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren, im Falle des Handelns wider besseres Wissen mit Gefängnis nicht unter drei Monaten, bestraft.

Die Strafverfolgung findet nur auf Verlangen der ausländischen Regierung statt.«

Ich nehme an, daß die Gliederung in Nummern bei der Schlußredaktion beseitigt worden ist, weil man sie für nicht notwendig hielt.

In der Begründung zu dem Entwurf wird übrigens auch auf die unterschiedliche Behandlung des Staatsoberhaupts einerseits und von Regierungsmitgliedern und Leitern diplomatischer Vertretungen andererseits im Hinblick auf den Aufenthaltsort eingegangen (http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/01/013/0101307.pdf, S. 39).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.08.2016 um 16.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#33186

Die Regeln zum Matching und Nicht-Matching (Haupteintrag Anm. 20) sind natürlich nicht erst kürzlich entdeckt worden, wie einige Junggermanisten frohgemut behaupten, sondern in den klassischen Grammatiken besprochen.

„Aber auch wo beide Sätze verschiedenen Kasus verlangen, kommt einfache Setzung vor. Im Mhd. war dieselbe bei Zwischenstellung ganz gewöhnlich. Hierbei galt im allgemeinen die Regel, daß Gen. und Dat als die charakteristischeren Kasus den Vorzug vor Nom. und Akk. erhielten, vgl. ouwe des da nach geschiht, swen genüeget des er hat, anderseits des priset man mich mere dan dem sin vater wunder lie. Die erstere Art weist noch deutlich auf die ursprüngliche Zugehörigkeit des Pron. zu dem regierenden Satze. Im Nhd. ist sie nicht mehr möglich. Die leichteste Art der Vernachlässigung des Kasusunterschiedes ist die bei Zusammenfall der Formen des Nom. und Akk.“ (Paul IV:192f.)

„Bei dem Relativ der kann das Determinativ der, derjenige fehlen, wenn a) das Determinativ in dem nämlichen Kasus, Genus und Numerus zu stehen hätte wie das Relativ, und b) wenn der Kasus des Determinativs, vom Relativ abweichend, der Nominativ oder Akkusativ sein müßte, zumal wenn in letzterem Falle die Form des Determinativs die nämliche wäre, wie die des Relativs.“ (Blatz II:875, vgl. ebenso 868 und 878)

Usw.



Ergänzend: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1369#33237
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.09.2016 um 08.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#33346

„Die berühmte Stelle bei Kant: Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde, ist sprachlich fehlerhaft, und einer der Herausgeber Kants hat mit Recht vorgeschlagen, 'durch die' zu ändern in 'von der'.“ (Engel, Stilkunst 2016:212)

Vorgeschlagen wird also die übliche Ausweichkonstruktion mit von anstelle einer schwierigen Verschränkung. Ich glaube nicht, daß das geboten ist, auch wenn es nicht falsch wäre und in der Tat oft so zitiert wird, weil es so im Gedächtnis der Kantleser hängen geblieben ist. Aber Kant dürfte gemeint haben, daß es ein und derselbe Akt ist, in dem man die Maxime befolgt und sie daraufhin prüft, ob sie allgemeines Gesetz werden könnte.

(Man spürt geradezu, wie der lateinisch geschulte Verfasser am liebsten schreiben würde: Handle nach derjenigen Maxime, die du zugleich ein allgemeines Gesetz zu werden wollen kannst.)
 
 

Kommentar von Andreas Schubert, verfaßt am 21.09.2016 um 15.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#33347

Pardon für mein Stutzen, lieber Prof. Ickler, doch ich sehe nicht, wie Prüfung und Befolgung einer Maxime ein und derselbe Akt sein könnten (die Prüfung, beiläufig, scheint hier weniger auf Verallgemeinerungsfähigkeit als auf Wünschbarkeit zu gehen).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.09.2016 um 17.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#33348

Es geht darum, wie Kant es gemeint haben könnte. Ich nehme an, daß er einen so zentralen Satz nicht gedankenlos formuliert hat.

Nehmen wir das Paradebeispiel. Darf ich lügen? Als Befolgung einer Maxime dargestellt: Man darf lügen. Also darf ich jetzt lügen. Aber eine solche Maxime würde die Kommunikation aufheben und damit sich selbst. Das "kann" man nicht wollen, aus logischen Gründen (nicht aus moralischen, denn das Moralische ergibt sich ja gerade erst aus der logischen Überlegung). Kant könnte nun gemeint haben, daß das nicht zwei Gedanken sind, sondern sozusagen ein und derselbe.
Meine Kantlektüre liegt Jahrzehnte zurück, ich habe daher keine Stellen im Kopf, an denen diese Interpretation vielleicht gestützt wird. Jedenfalls geht es nicht darum, wie ich selbst mir so etwas vorstelle.

Um zum Anfang zurückzukommen: Warum sollte Kant, der sich seine Worte immer genau überlegte, "durch" gesagt haben, wenn er es nicht meinte?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.09.2016 um 07.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#33363

Kant gibt wenig später noch folgende Formulierung:

Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch (!) deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.

Das scheint mir ebenfalls in die angedeutete Richtung zu gehen und zu erklären, warum Kant auch bei der bekannteren Formulierung schon dieses durch gesetzt hat.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.09.2016 um 05.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#33376

"Verkappte Relativsätze" können anscheinend nicht restriktiv sein:

Ich kenne jemanden, der kann nicht lesen.
*Kennen Sie jemanden, der kann nicht lesen?


Das ist vergleichbar den Kausalsätzen:

Er kommt nicht, nur weil es regnet.
*Er kommt nicht, nur da es regnet.


(da ist in Wirklichkeit keine kausale Konjunktion, sondern deutet einen evidenten Zusammenhang an, den aber der Hörer selbst herausfinden muß.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.09.2016 um 05.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#33377

Zum Haupteintrag und Anm. 1:

Eigentlich gibt es ja keine besonderen Relativpronomina. Daher die Bedenken, sie zur Definition des Relativsatzes heranzuziehen.

„Relativsätze sind Nebensätze, in denen ein notwendiges Glied sachlich keinen Ausdruck gefunden hat, sondern sich aus dem übergeordneten Satz ergibt, sei es, daß das fehlende Glied identisch ist mit einem einzelnen Glied des Hauptsatzes, sei es, daß der Hauptsatz als Ganzes das fehlende Glied ist.“
Anm.: „So ist der Relativsatz das Gegenstück zu den abhängigen Behauptungs- und Fragesätzen, wo umgekehrt der Nebensatz die Rolle eines fehlenden Glieds des Hauptsatzes spielt.“ (Behaghel III:712)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.10.2016 um 15.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#33539

Wenn das sogenannte Relativpronomen mit Demonstrativ- und Interrogativpronomina "formengleich" ist (wie auch die Dudengrammatik sehr deutlich sagt: der, welcher, wer) – mit welchem Recht setzt man dann überhaupt eine solche Wortklasse an? Das Relativische kommt in anderen Merkmalen der Relativsätze zum Ausdruck (Stellung, Intonation). Man spricht ja auch nicht mehr von Adverbien, wenn Adjektive adverbial gebraucht werden. Folgerichtig müßte man sagen: Es gibt im Deutschen keine Relativpronomina (mehr).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.01.2017 um 07.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#34301

Zum Haupteintrag Anm. 16:

Christian Lehmann, Spezialist für Relativsätze, schreibt:

"Die syntaktische Funktion des deutschen Relativpronomens unterliegt universalen Beschränkungen, die über die syntaktische Funktion bestehen, die der Nukleus einer Relativkonstruktion im Relativsatz haben kann: Die “Zugänglichkeit” einer bestimmten syntaktischen Funktion für die Relativsatzbildung endet in jeder Sprache auf einer Stufe der Hierarchie der syntaktischen Funktionen. Im Deutschen endet sie vor dem Glied einer koordinierten Konstruktion. Deshalb sind Konstruktionen des Typs B1.a ungrammatisch.

B1.a Da ist der Mann, der und seine Frau gestern vorbeigekommen sind.
B1.b Da ist der Mann, der mit seiner Frau gestern vorbeigekommen ist.

In Fällen wie B1.a ist der Mangel leicht so wie in #b zu beheben. In Fällen wie B2 dagegen gibt es keinen Ausweg.

B2 In andren Fällen wird eine neue von ihm [dem Sprachsinn] geforderte Formung ... von der Lautneigung, zwischen der und ihm gleichsam ein vermittelnder Vertrag entsteht, modifiziert. (Humboldt 1836[1972]:460)

Der Autor optiert hier für eine Verletzung der geltenden Beschränkung; andernfalls hätte ihn die Lücke der deutschen Syntax am Ausdruck gehindert."

(http://www.christianlehmann.eu/ling/lg_system/grammar/index.html)

Ob universal oder nicht, der relative Anschluß wird vor allem in älterer Sprache oft dazu benutzt, auch noch andere Konstruktionen anzuschließen. Humboldt dürfte keinerlei Verstoß gegen syntaktische Regeln empfunden haben. Die historischen Grammatiken liefern viele Beispiele.
Es ist problematisch, "universale" Beschränkungen für Relativsätze auszusprechen, weil "relativ" nicht überall dasselbe bedeutet. Der "Rückfall" vom Relativ ins Demonstrativ oder von der indirekten Rede in die direkte ist in manchen Sprachen das Übliche, in anderen verpönt. Deutsch oder englisch ist nicht ohne weiteres "universal".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.02.2017 um 06.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#34489

Zur "Trajektion" (s. Haupteintrag):

Dem wiederum war ein Runder Tisch vorausgegangen, der öffentlich machte, was viele Kinder Schreckliches erlebt haben. (FAZ 9.2.17)

Die kanonische Form des Relativsatzes wäre:

Dem wiederum war ein Runder Tisch vorausgegangen, der das Schreckliche öffentlich machte, das viele Kinder erlebt haben.

Nachdem das Bezugselement in den Relativsatz verschoben ("verschleppt" nach Behaghel) worden ist, muß der Anschluß wie beim freien Relativsatz mit was hergestellt werden.

Der partitive Genitiv wird schon lange nicht mehr als solcher empfunden.

(Der Satz könnte auch als indirekter Fragesatz aufgefaßt werden.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.02.2017 um 10.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#34563

Den Stolz auf was für ein Land fordert er bei seinen hier lebenden Landsleuten ein? (FAZ 20.2.17)

Dieselbe Einschränkung wie bei den Relativsätzen: Aus dem Attribut heraus kann nicht erfragt werden. Ausgangspunkt ist Stolz auf ihr Land; man kann fragen welchen Stolz?, aber nicht den Stolz auf welches Land?. Das Fragepronomen (bzw. Relativpronomen) in Spitzenstellung zu bringen bringt auch nichts: auf welches Land den Stolz?.

Allerdings kommt es doch ziemlich oft vor, auch wohl unter englischem Einfluß, und scheint eine ärgerliche Lücke im System zu füllen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.02.2017 um 09.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#34584

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#27895

und den Anmerkungen 15 und 16 im Haupteintrag.

Bei wohlwollender Interpretation könnte man die Beispiele von Mosebach für absichtlich archaisierend (goethisierend) halten, aber das traue ich Mosebach nicht zu. Es paßt zu gut zu anderen Schnitzern.

Den heute nicht mehr üblichen kopulativen Anschluß andersartiger Sätze an einen Relativsatz behandelt Hermann Paul im vierten Band seiner Grammatik (§ 419) besonders ausführlich und bringt eine große Menge von Beispielen für die allmählich zurückgedrängte Konstruktion. Die Entwicklung ist wohl unter die allgemeine schriftsprachliche Logisierung zu stellen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.06.2017 um 08.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#35244

Ein Relativsatz konnte früher so gebraucht werden, als ob es ein Adverbialsatz wäre, z. B. ein Konditionalsatz; vgl. Blatz II 879. Im Spätahd. finde ich gerade das Rezept Contra paralysin:

Siuuelich man odor wib firgihdigod uuerde. zeseuuen halbun. so laza man imo in dero uuinsterun hende an demo ballen. des minnisten uingeres. unde ane dero minnistun cehun ballen. des zeseuuen fuozes.
Ob ez imo abor uuinstu[[ru]]‹n› halbun si. so laze man imo in dero ceseuuen hende ane [[de]]‹mo› ballen des minnisten uingeres. unde an dero uuinsterun [[min]]‹ni›stun cehun ballen.


Das wirkt wie ein Satzbruch, wurde damals aber nicht so empfunden. Den zweiten Satz habe ich mitangeführt, weil man die genaue Parallele zum Konditionalsatz sieht. (jdm. lazen bedeutet hier "zur Ader lassen", das Objekt Blut wird nicht genannt.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.06.2017 um 12.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#35372

Althochdeutsches Vaterunser:

Fater unser
thu pist in himile


Wipf übersetzt: "Unser Vater, du bist im Himmel" (Althochdeutsche poetische Texte. Stuttgart 1992:99)

Aber das ist falsch, das Personalpronomen ist relativisch zu verstehen. Ähnlich in anderen Texten, mit Endstellung des Verbs:

fater unser thû in himilom bist, dazu Paul Dt. Gr. IV, 194

Beide Stellen sind schon genau so zu verstehen wie unser der du bist.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 16.06.2017 um 17.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#35373

Gotisch: Atta unsar thu in himinam
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.06.2017 um 18.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#35374

Attribut wie in der griechischen Vorlage.

Bei Flasch bin ich übrigens erst darauf aufmerksam geworden, wie seltsam die Bitte an Gott ist, uns nicht in Versuchung zu führen. Das ist doch eigentlich, was der Teufel, der "Versucher" tut. Man liest jahrzehntelang darüber hinweg. Nach Flasch haben wir hier noch die ungeschiedene Gottesvorstellung, von der das Böse erst nach und nach abgetrennt und dem Teufel zuwiesen wurde.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.06.2017 um 05.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#35379

Die Zweideutigkeit von indirektem Fragesatz und freiem Relativsatz läßt sich durch einen sophistischen Trugschluß erläutern:

Wer siegt, ist offen.
Müller siegt.
Müller ist offen.


Dasselbe mit dem determinierten Substantiv:

Der Sieger ist offen.
Müller ist der Sieger.
Müller ist offen.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.11.2017 um 16.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#37093

Ergo Domine non solum es quo maius cogitari nequit sed es quiddam maius quam cogitari possit. (Anselm von Canterbury: Proslogion 15)

Herr, Du bist also nicht nur, über dem Größeres nicht gedacht werden kann, sondern bist etwas Größeres, als gedacht werden kann.

Wörtlich wäre: Du bist nicht nur, Größeres als welches nicht gedacht werden kann...

quo ist von maius abhängig, das geht in der deutschen Übersetzung verloren.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.01.2018 um 04.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#37623

Der mehrzielige Fragesatz ist allgemein bekannt: Wer hat was womit und wozu getan?

Es gibt aber auch den mehrzieligen Relativsatz:

Das soziale Merkmal Migrationshintergrund beschreibt Personen, die selbst oder deren Vorfahren aus einem anderen Staat eingewandert sind. (Wikipedia)

Hugo Schuchardt hat beide zusammen 1893 sprachvergleichend behandelt: http://schuchardt.uni-graz.at/id/publication/442

Dort auch die treffende Bemerkung: "Im Deutschen ist der mehrzielige Fragesatz nicht heimisch, es verträgt ihn aber."
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.07.2018 um 04.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#39115

Having aimed to be a writer before entering the field of psychology (Skinner, 1976, pp. 262–283), Skinner had extensive training in English and other languages (Bjork, 1997, pp. 23, 31–48, 77; Skinner, 1983, p. 171) and remained a voracious reader of literature for his entire life (Coleman, 1985; Malone, 1999; Skinner, 1959, 1967). Two letters sent by Skinner to the editors of the journals Scientific Monthly, in 1954, and Science, in 1957, the year Verbal Behavior was published, show what a meticulous and elegant writer he was. In both of them, he complains vigorously about the editors having substituted that for which in his articles. His 1954 letter to the editor of Scientific Monthly is probably related to the editing of A Critique of Psychoanalytic Concepts and Theories (Skinner, 1954a/1999), published in 1954 in that journal. Skinner complains about a change made in “all the qualifying relative pronouns in my article from ‘whiches’ to ‘thats’.” He affirms that the grammarians have been prescribing this substitution for centuries, but he does not “subscribe to this bit of authoritarian dictation” (Skinner, 1954b).

(Maria de Lourdes R. da F. Passos, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3359847/)

Die Verfasserin zeigt dann, wie die Setzung eines Kommas einen Relativsatz verändert und damit Skinners grundlegende Definition von Sprachverhalten.

(Die Verfasserin hat besondere Verdienste in der Aufdeckung von Skinners Quellen und seiner Vertrautheit mit Max Müller, Philipp Wegener, Hermann Paul, Otto Jespersen u. a. – All diese waren sich einig, daß die Sprache oder das Sprachsystem nur eine Abstraktion und keinesfalls zu hypostasieren sei.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.01.2019 um 05.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#40461

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#35372

Vgl. https://repository.kulib.kyoto-u.ac.jp/dsp:ace/bitstream/2433/184971/1/dbk02500_041.pdf
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.01.2019 um 04.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#40601

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#34584:

Prüfers Urgroßvater war der deutsche Missionar Bruno Gutmann, auf dessen Spuren er sich begab und darüber 2015 ein Buch veröffentlichte. (Wikipedia Tillmann Prüfer)

(Ich hatte mal nachgeschlagen, weil Prüfer in der ZEIT vom 31.3.2017 einen besonders dummen Kommentar zur Rechtschreibreform veröffentlicht hatte.)
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 23.01.2019 um 23.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#40658

Noch ist Deutschland weit davon entfernt, wieder zu jenem kranken Mann Europas zu werden, das es vor den Agenda-Reformen war.

(http://www.spiegel.de/politik/deutschland/news-heiko-maas-mike-pompeo-angela-merkel-davos-friedrich-merz-a-1249115.html)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.04.2019 um 09.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#41176

Weil wir es in dieser Rubrik besprochen haben:

Böhmermann "zerrt Merkel vor Gericht". Er setzt alles daran, seine Harmlosigkeit zu beweisen; nun wehrt er sich gegen den Schaden, den die "Vorverurteilung" durch Merkel ihm gebracht hat. Ich kann mir nicht helfen, ich finde, Satiriker sollten sich auf der Anklagebank wohler fühlen als auf der Bank der Ankläger. Aber es gibt keine echten Kerle mehr.

Wird sich der Satiriker in Zukunft vorab bescheinigen lassen, daß seine Darbietung rundum unbedenklich ist?
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 02.04.2019 um 12.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#41177

Ich mochte sein „Schmähgedicht“ weil es einen Despoten mittels derber Unterstellungen verspottet. Briten und Amerikaner sangen während des Krieges zur Melodie des „Colonel Bogey“-Marsches „Hitler has only got one Ball“ (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=783#27815). Sowas kann sehr witzig sein. Spießig hingegen war Böhmermanns Ausrede, er habe nur zeigen wollen, was man nicht darf. Die Klage gegen Merkel ist albern.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.04.2019 um 15.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#41178

Einverstanden. Es ging auch mir nie um das "Schmähgedicht", das ich gar nicht gelesen habe, sondern um die kleingeistige Verteidigung und Selbstverzwergung.

Jetzt liest man auf der rechten Seite sogar ein Lob auf den Mut des Herrn B., sich mit der allmächtigen deutschen Diktatorin anzulegen. Als wenn es da irgendein auch nur klitzekleines Risiko gäbe!

Schrumpf-Tucholsky, -Ossietzky...
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.08.2019 um 05.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#42022

Wie die Lösungsmittel der Liquids mit den künstlichen Aromen durch das Erhitzen reagieren, sei ungewiss und potentiell toxisch, schreiben die Forscher. (FAS 25.8.19)

Das Unbehagen des Lesers kommt daher, daß die Konstruktion vom indirekten Fragesatz in einen freien Relativsatz kippt; beide hängen vom formal gleichen Einleitungswort ab.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.01.2021 um 08.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#44984

Trotzdem macht sich zu leicht, wer nun schnell alle Schuld bei den Unternehmen sucht. (faznet.de)

Die schriftsprachliche Konstruktion des freien Relativsatzes ist nicht leicht zu beherrschen. Hier fehlt das Akkusativobjekt es; das wird leicht übersehen.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 10.01.2021 um 11.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#44988

An der Grammatik ist aber eigentlich nichts auszusetzen, nur am Sinn. Wer schnell alle Schuld bei den Unternehmen sucht, macht sich zu leicht. (Es fehlt ihm an Gewicht.)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 10.01.2021 um 12.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#44989

Nein, er gibt zu viel Gewicht ab.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 10.01.2021 um 12.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1629#44990

Stimmt. Geht aber leider nur metaphorisch.
 
 

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