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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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18.07.2012
 

Jargon der Eigenstlichkeit
Charakteristischer Superlativ

Walter Benjamin war ein preziöser Schriftsteller, den man kaum noch lesen kann.
Von einem Text über die Aufgabe des Übersetzers sollte man einige Aufklärung erwarten. Benjamin schreibt Sätze wie diese:

Was hiernach für das Verhältnis von Übersetzung und Original an Bedeutung dem Sinn verbleibt, läßt sich in einem Vergleich fassen. Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkte berührt und wie ihr wohl diese Berührung, nicht aber der Punkt, das Gesetz vorschreibt, nach dem sie weiter ins Unendliche ihre gerade Bahn zieht, so berührt die Übersetzung flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkte des Sinnes das Original, um nach dem Gesetze der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen.

Charakteristisch ist der Superlativ eigenste. (Das Tangentengleichnis erinnert an die „mathematischen“ Ausführungen in Kleists Marionettentheater.) In diesem Text auch das vielzitierte: Kein Gedicht gilt dem Leser, kein Bild dem Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft. Wenn man nur wüßte, was gelten hier heißt! Das erfährt man leider nicht, und so ist eine Diskussion über den vagen Inhalt nicht möglich. Allerdings will Benjamin gar nicht diskutieren, er verkündet seine Weisheiten apodiktisch, genau wie später seine Nachahmer Adorno usw.

Alle zweckmäßigen Lebenserscheinungen wie ihre Zweckmäßigkeit überhaupt sind letzten Endes zweckmäßig nicht für das Leben, sondern für den Ausdruck seines Wesens, für die Darstellung seiner Bedeutung. So ist die Übersetzung zuletzt zweckmäßig für den Ausdruck des innersten Verhältnisses der Sprachen zueinander.

Natürlich des innersten! Aber was bedeutet das Ganze? Man kann wiederum nicht widersprechen, weil der Sinn so ungreifbar ist. Das innerste Verhältnis wird gleich weiter ausgeführt:

Jenes gedachte, innerste Verhältnis der Sprachen ist aber das einer eigentümlichen Konvergenz. Es besteht darin, daß die Sprachen einander nicht fremd, sondern a priori und von allen historischen Beziehungen abgesehen einander in dem verwandt sind, was sie sagen wollen.

Wieso wollen Sprachen überhaupt etwas sagen? – Benjamins ganze Verachtung gilt der „Mitteilung“ oder „Aussage“. Seine Texte sind denn auch danach.

Vor längerer Zeit gab es eine Diskussion über eine Passage aus dem "Ursprung des deutschen Trauerspiels":

Während im Symbol mit der Verklärung des Unterganges das transfigurierte Antlitz der Natur im Lichte der Erlösung flüchtig sich offenbart, liegt in der Allegorie die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen. Die Geschichte in allem was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz – nein in einem Totenkopf aus. Und so wahr alle „symbolische“ Freiheit des Ausdrucks, alle klassische Harmonie der Gestalt, alles Menschliche einem solchen fehlt – es spricht nicht nur die Natur des Menschendaseins schlechthin, sondern die biographische Geschichtlichkeit eines einzelnen in dieser seiner naturverfallensten Figur bedeutungsvoll als Rätselfrage sich aus. Das ist der Kern der allegorischen Betrachtung, der barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt; bedeutend ist sie nur in den Stationen ihres Verfalls. Soviel Bedeutung, soviel Todverfallenheit, weil am tiefsten der Tod die zackige Demarkationslinie zwischen Physis und Bedeutung eingräbt.

Ist das nicht furchtbar? Ich habe anderswo schon eingewandt: Wäre es zum Beispiel denkbar, daß die Demarkationslinie zwischen Physis und Bedeutung nicht zackig ist? Warum Urlandschaft? Was bedeutet genau genommen die facies hippocratica der Geschichte? Gadamer, auch kein Muster klarer Rede, nannte dieses Beispiel preziös und elegant, von „stimmungshafter Evokationskraft“, aber sah darin gerade kein Musterbeispiel gelehrter Prosa, im Gegensatz zu Walter Killy, der es lobte.

Übrigens zitiert Benjamin zustimmend Rudolf Pannwitz, der es mit dem Preziosentum noch ärger trieb, eben George-Kreis.



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Kommentare zu »Jargon der Eigenstlichkeit«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.04.2024 um 04.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#53157

Noch ein Beispiel zum preziösen Stil:

„Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne ein solches der Barbarei zu sein.“ (Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“)

Solche Sentenzen werden gern herumgereicht und eignen sich auch als Titel und Motti. Der Ton ist wie gewohnt feierlich, was man schon an der Verwendung des Existenzverbs erkennt. Im Alltag würde man sagen „Es gibt...“ usw. oder einfach: „Jedes Dokument der Kultur ist zugleich ein Dokument der Barbarei.“ Darüber ließe sich reden, wenn der Begriff der Barbarei genauer bestimmt wäre. („Barbarisch“ ist auch aus einem vielzitierten Spruch von Benjamins Nachahmer Adorno im Ohr.) Abscheu auszudrücken ist leicht, aber was bringt es wissenschaftlich? Die Kosten der Kultur gegen ihre Wertschätzung aufzurechnen ist ja auch nicht eben neu, man denke an Jacob Burckhardts „Über Glück und Unglück in der Weltgeschichte“, wo es aber viel konkreter zugeht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.11.2020 um 18.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#44629

„Nicht leicht findet man bei Adorno eine Seite, auf der nicht vom Tauschverhältnis oder vom Verblendungszusammenhang die Rede wäre.“ (Lorenz Jäger: Adorno. Eine politische Biographie. München 2003:192)

Das ist einerseits absurd übertrieben, aber andererseits trifft es den unangenehmen Geschmack, der nach längerer Zeit zurückbleibt. Drüben in meinem Regal stehen Adornos sämtliche Werke, aber wenn ich mich frage, ob ich noch jemals hineinsehen werde, denke ich: eher nicht. Also könnte ich sie auch entsorgen, wie so manches andere, einst berühmte.

Adorno behandelt keines der Probleme, die ich jemals für nachdenkenswert gehalten habe. Husserl auch nicht, aber von dem hat Ryle es schon unübertrefflich gesagt. Husserl ist auf andere Art langweilig, sozusagen gründlicher als der "journalistische" Adorno.

Jäger zitiert auch die verrückten "Analysen" des Jazz usw., das war wenigstens unterhaltsam. Aber wo Adorno höhere Absichten hat, wird es doch schrecklich öde.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.04.2019 um 07.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#41338

Albrecht Wellmer verweist auf die hohe Kontinuität des philosophischen Denkens Adornos von seiner frühen Frankfurter Antrittsvorlesung Die Aktualität der Philosophie (1931), in der er sein Konzept der Philosophie als „Deutungswissenschaft“ (GS 1: 334) begründete, bis hin zu seinen Spätwerken. Mit 28 Jahren hätten sich bei ihm bereits „alle entscheidenden Motive seines Denkens, gleichsam dessen Grundkonstellationen“ herausgebildet. Seine spätere reiche Produktion, auch die in der Musikphilosophie und Musiksoziologie, beruhe auf der Entfaltung dieser Grundkonstellationen.

So kann man Lernunwilligkeit und Erfahrungsverweigerung auch ausdrücken.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.11.2017 um 05.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#37038

Manche Leute gebrauchen denn viel öfter als ich. Vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#29895, dazu den ebenfalls schon besprochenen Martin Buber (Denn das Gedicht ist Gesprochenheit...).
Eigentlich sollte damit eine Begründung eingeleitet werden, aber Propheten begründen nicht, sie verkünden. So auch hier: ein Orakelspruch wird an den anderen gereiht, das denn verstärkt nur den Eindruck eherner Wahrheiten (wie die "Lehrgeste" der rechten Hand, die man sich dazu vorstellen kann).
Daher meine Abneigung gegen das Wörtchen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.10.2017 um 16.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#36810

Bezeichenderweise hat Suhrkamp wieder und wieder Benjamins "Begriff der Geschichte" abgedruckt, und zwar so (Abschnitt 18):

»Die kümmerlichen fünf Jahrzehnte des homo sapiens«, sagt ein neuerer Biologe, »stellen im Verhältnis zur Geschichte des organischen Lebens auf der Erde etwas wie zwei Sekunden am Schluß eines Tages von vierundzwanzig Stunden dar.

Der getragene Ton dieses pseudopoetischen Essays hatte offenbar zur Folge, daß niemand den Unsinn bemerkte. Es müßte natürlich heißen Jahrzehntausende; so steht es anderswo, und wahrscheinlich hieß es bei Benjamin auch so. Aber der Leser ist bis dahin längst eingelullt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.04.2017 um 17.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#34885

Der hier erwähnte Keith Windschuttle zerlegt in seinem Buch auch Michel Foucault und weist auf einen Mangel hin, den ich – ebenfalls hier – an Adorno krtisiert habe: andere Autoren ohne Stellenangaben zu diskutieren. Wenn man nicht weiß, wo Platon oder Kant das ihnen Unterstellte gesagt haben sollen, kann man auch nicht beurteilen, ob sie richtig verstanden sind.

Die Verachtung wissenschaftlicher Bräuche ist nicht immer ein Zeichen von Genie.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 14.12.2016 um 10.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#34107

Was vom Büchmann übrig blieb . . .
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.12.2016 um 05.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#34106

Ein Teil des Feuilletons erschlägt uns mit Benjamin-Zitaten, ein anderer sagt eins von zwei Sprüchlein Wittgensteins auf:

Wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.

oder

Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.

Damit kommt man durchs ganze Leben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.11.2016 um 06.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#33920

Vorweihnachtliches Adorno-Zitat in der FAZ:

Noch das private Schenken ist auf eine soziale Funktion heruntergekommen, die man mit widerwilliger Vernunft, unter sorgfältiger Innehaltung des ausgesetzten Budgets, skeptischer Abschätzung des anderen und mit möglichst geringer Anstrengung ausführt.

Eine Allerweltsweisheit wird zu einem Brillanten geschliffen, dazu die adornotypische Einleitung mit "noch". Das Schenken hatte übrigens schon immer eine soziale Funktion, das sollte der „Sozialforscher“ doch wissen. Die gepriesene Verinnerlichung (Wirkliches Schenken hatte sein Glück in der Imagination des Glücks des Beschenkten) ist eine romantische Erfindung der Neuzeit.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.08.2016 um 04.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#33152

Schon wieder erwähnt die Zeitung den "Engel der Geschichte". Was denken sich diese Leute, wenn sie solche Benjaminismen nachraunen? Irgendwann kann man es nicht mehr hören.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 25.11.2015 um 11.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#30676

Zur abgeschlafften Kirche, bestimmte Leute begrüßen ja eine "allgemeine Zunahme der Religiosität" (so etwa drücken sie sich aus) aufgrund der Einwanderungswelle. Die Kirche stimmt dem ohne weiteres zu, etwa Käßmann, die dazu rät, mehr zum Gottesdienst zu gehen, dann brauche man auch keine Islamisierung zu befürchten.
Die Kirche hatte schon bisher ständig große Austrittszahlen zu beklagen, nun freut sie sich, daß Moscheen immer mehr und voller werden.
Muslime als Verbündete gegen zunehmenden Atheismus ...

Besser als Boko Haram, ja, aber vorläufig wird Boko Haram die Politik der Kirche ganz recht sein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.11.2015 um 05.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#30675

The version of academic Marxism to which most members of the aging congregation now defer is called „critical theory“. This euphemism reflects how great has been the fall. It is like the Church dropping the name Christianity and calling its faith „religious theory“. (Keith Windschuttle: The killing of history. New York/London 2000:27)

Hübsch gesagt, deshalb setze ich es mal hierher. Habermas wird auch kurz referiert, wobei das Schlappe seiner "Theorie des kommunikativen Handelns" besonders deutlich wird.

Die Karikatur einer entsprechend abgeschlafften Kirche ist übrigens keine mehr, es gibt das alles schon längst. (Immer noch besser als Boko haram...)
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 22.10.2015 um 11.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#30305

Dreifachbedeutung: beseitigen, bewahren und anheben. Inhaltlich wirklich schon vielfach zu Tode geritten. Rein sprachlich aber gerade in der Übersetzungsfrage meiner Meinung nach immer wieder der Aufmerksamkeit wert. Ist aber sicher Geschmackssache.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.10.2015 um 04.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#30301

Irgendwann erzeugt das vielbewunderte Wortspiel mit der Doppelbedeutung von aufheben nur noch Überdruß, ähnlich wie das Gerede von Widerspruch (jedenfalls bei mir). Ob es übersetzbar ist, interessiert mich dann nicht mehr.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 21.10.2015 um 21.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#30299

Wahrscheinlich sublation of contradiction.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 21.10.2015 um 20.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#30296

In der Tat: Wie drückt man die "Aufhebung des Widerspruchs" auf Englisch aus?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 21.10.2015 um 00.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#30288

Das ist allerdings keine Anekdote, sondern eine Geistreichelei.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.10.2015 um 21.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#30285

Ich kenne nur diese: "Nur einer meiner Schüler hat mich verstanden, und der hat mich mißverstanden."

Gar nicht so dumm, wenn man drüber nachdenkt...
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 20.10.2015 um 19.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#30284

Indem Hegels Unklarheit nicht mitübersetzt wird, geht natürlich etwas verloren! Es gibt übrigens ganz witzige Anekdoten über Hegel an der Berliner Universität, wo ihn schon aufgrund seines schwäbischen Akzents (jedenfalls anfangs) niemand verstanden hat.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 20.10.2015 um 17.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#30282

Nun ist aber die Verständlichkeit und Klarheit einer Übersetzung nicht unbedingt ein Gradmesser dafür, daß sie auch genau das ausdrückt, was ein berühmter Autor geschrieben hat.

Es kann so sein, dann ist der Übersetzer ein genialer Mann.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.10.2015 um 09.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#30277

Just dazu wollte ich gestern etwas kommentieren, was in der FAZ gestanden hat: Die Zusammenfassungen der IPCC-Berichte sind nach Flesch-Lesbarkeitsindex unverständlicher als die englische Übersetzung von Hegels „Phänomenologie des Geistes“.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 20.10.2015 um 07.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#30276

Fromm ist nicht zuletzt deshalb verständlich, weil sein Buch aus dem Englischen übersetzt wurde, das wiederum nicht seine Muttersprache war. (Auch Hegel ist in englischer Übersetzung klarer als im Original.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.10.2015 um 06.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#30275

Unter den einst vielgelesenen Erbauungsschriftstellern Benjamin, Adorno, Bloch, Herbert Marcuse, Fromm, Buber usw. war Fromm der lesbarste. Sein Bestseller "Die Kunst des Liebens" wird anscheinend heute noch gelesen. Zu meiner Studentenzeit hat jeder es im Regal, besonders die Kommilitoninnen, ganz schrecklich. Ich habe es wahrscheinlich auch gelesen, aber wieder vergessen, was drinsteht. Erst vor kurzem weggeworfen, wie auch die anderen Genannten.

Fromm war "Laien-Analytiker" (was bloß heißt: kein Mediziner; Laien kann es eigentlich nur geben, wo es auch ein Fach und Fachleute gibt), wie sein Lehranalytiker, der Jurist Hanns Sachs. Fromm selbst war auch Analysand seiner 11 Jahre älteren späteren Frau, was natürlich nicht gutgehen konnte. Die Wikipedia-Einträge über beide sind völlig unkritisch, wie in diesem Bereich üblich.

Was die Sprache betrifft: Fromm dürfte wesentlich zur Beliebtheit des Narzißmus beigetragen haben, weil er viel mehr gelesen wurde als Freud selbst.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.09.2015 um 16.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#29895

Die Sprache dieser Lampe z. B. teilt nicht die Lampe mit (denn das geistige Wesen der Lampe, sofern es mitteilbar ist, ist durchaus nicht die Lampe selbst), sondern: die Sprach-Lampe, die Lampe in der Mitteilung, die Lampe im Ausdruck. Denn in der Sprache verhält es sich so: Das sprachliche Wesen der Dinge ist ihre Sprache. usw. (Walter Benjamin: "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen". Ges. Schriften II-1. Frankfurt 1991:140-157)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.07.2014 um 14.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#26337

Dieselbe Technik hier:

Der Widerspruch ist nicht, wozu Hegels absoluter Idealismus unvermeidlich ihn verklären mußte: kein herakliteisch Wesenhaftes. Er ist Index der Unwahrheit von Identität, des Aufgehens des Begriffenen im Begriff. Der Schein von Identität wohnt jedoch dem Denken selber seiner puren Form nach inne. Denken heißt identifizieren. [...] Insgeheim liegt es in Kant, und wurde von Hegel gegen ihn mobilisiert, es sei das dem Begriff jenseitige An sich als ganz Unbestimmtes nichtig. Dem Bewußtsein der Scheinhaftigkeit der begrifflichen Totalität ist nichts offen, als den Schein totaler Identität immanent zu durchbrechen: nach ihrem eigenen Maß. Da aber jene Totalität sich gemäß der Logik aufbaut, deren Kern der Satz vom ausgeschlossenen Dritten bildet, so nimmt alles, was ihm nicht sich einfügt, alles qualitativ Verschiedene, die Signatur des Widerspruchs an.(Theodor W. Adorno: Negative Dialektik 1975:17)

Zunächst das Name-dropping: Selbst wer alle Fragmente des notorisch "dunklen" Heraklit kennt, könnte wohl nicht sagen, was das herakliteisch Wesenhafte ist und wodurch es sich von anderem Wesenhaften unterscheidet. (Sind die Herakliteer statt des Heraklit selbst gemeint? Das macht es noch unsicherer.) Bei Kant bezieht sich Adorno nicht auf das, was Kant gesagt hat, sondern was "insgeheim" dahinter stehen mag. Das ist ganz typisch. Marxismus und Psychoanalyse sind die Allzweckwaffen, die Adorno und seine Genossen benutzen, um alles und jedes zu entlarven: als "Verblendungszusammenhang" nach Marx oder als "Verdrängung" nach Freud.
Wieso ist das „An sich“ für Kant „nichtig“? Das „Ding an sich“ hat in den sehr systematischen Darlegungen Kants (die man nicht für richtig halten muß) eine genau bestimmten Ort. Der ist nicht wiederzuerkennen, wenn man ihn so umschreibt wie Adorno: „das dem Begriff jenseitige An sich“. Kant gebraucht auch das Wort „Begriff“ niemals so wie Adorno (und Hegel) Wieso heißt denken identifizieren? Das ist anscheinend die Nachwirkung eines eleatischen Sophismus, der den Kopulasatz als eine identifizierende Aussage versteht, und sollte seit Platon und erst recht Aristoteles als überwunden gelten. Für Adorno ist Logik der „Satz von ausgeschlossenen Dritten“, und das bekämpft er wie alle Dialektiker, als wäre es das Böse schlechthin. Adorno läßt sich auf die immer wieder zitierten Autoren nicht ein. Denkt er an Wittgenstein, fällt ihm "Positivismus" ein, weil Wittgenstein im Tractatus von "Tatsachen" spricht, und diese oberflächliche Assoziation gibt er niemals auf. (Übrigens mit der hanebüchenen Folgerung, daß Wittgenstein, weil er die Welt für die Gesamtheit der Tatsachen erklärt ("was der Fall ist"), auch dafür sei, daß alles so bleibt, wie es ist, wodurch er für die Dialektiker und Salonkommunisten natürlich zum bösen Mann schlechthin wird. Dagegen: "Wittgensteins Begriff der „Tatsache“ hat mit dem positivistischen Begriff der „Tatsache“ nicht das Geringste zu tun, was leider auch Denkern wie Adorno völlig entgangen ist." - So Ferdinand Zehentreiter)

Bezeichend ist ferner, daß die Hauptsache in ein Attribut abgedrängt wird, das an einem metaphorischen Abstraktum hängt: Index der Unwahrheit (von Identität!), Signatur des Widerspruchs. Dagegen läßt sich kaum argumentieren, weil nicht klar ist, was der Verfasser meint.

Diese Verbindung sehr entschiedener Urteile mit einer blumigen Sprache (wer könnte einen Pudding an die Wand nageln?) durchzieht das ganze Werk.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.07.2014 um 16.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#26283

Hier noch ein Satz von Adorno, aus der Vorrede zur "Negativen Dialektik":

Dialektik will bereits bei Platon, daß durchs Denkmittel der Negation ein Positives sich herstelle; die Figur einer Negation der Negation benannte das später prägnant.

Ich sehe vom Inhalt ab, falls es einen gibt, und weise nur auf den Stil hin. Die Dialektik wird personifiziert, so daß sie etwas "wollen" kann, außerdem fehlt der Artikel, den man normalerweise setzen würde. Vor allem aber: Wo steht das denn bei Platon? Eine Stellenangabe zu verlangen wäre anscheinend so banausisch, daß kein Adornoleser darauf kommen würde. Der Verfasser tut so, als glaube er, daß jedermann die Stelle selbstverständlich im Kopf habe. Das ist arrogant. Es ist aber auch unwissenschaftlich, weil man nun nicht darüber diskutieren kann, ob die Platoninterpretation stimmt. Das soll man aber auch gar nicht. Wie Benjamin, aber auch die Poststrukturalisten und Dekonstruktivisten, verkündet der Meister nur, begründet aber nicht. Die Platonforschung hat denn auch nie einen Grund gehabt, sich mit Adorno zu beschäftigen. (Die Sprachwissenschaft hat keinen Grund, sich mit Derrida zu beschäftigen, obwohl dessen "Grammatologie" schon im Titel ankündigt, sich mit einem Gegenstand zu befassen, der die Sprachwissenschaft angeht.)

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.07.2014 um 17.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#26278

Adorno selbst beschreibt negative Dialektik wie folgt: „Es handelt sich um den Entwurf einer Philosophie, die nicht den Begriff der Identität von Sein und Denken voraussetzt und auch nicht in ihm terminiert, sondern die gerade das Gegenteil, also das Auseinanderweisen von Begriff und Sache, von Subjekt und Objekt, und ihre Unversöhntheit, artikulieren will.“
Unter dem „Auseinanderweisen von Begriff und Sache“ ist dabei zu verstehen, dass die Identifikation (Gleichsetzung, wörtlich: Gleichmachung) einer Sache mit einem Begriff darauf beruht, dass die Gemeinsamkeiten verschiedener Sachen als deren Wesen begriffen werden, und die Identifikation damit etwas von der Identität abschneidet. Abstrahieren die Menschen in Begriffen, so üben sie auf die Dinge einen Zwang aus, der aus dieser Nichtidentität von Sache und Begriff resultiert. Adorno beschreibt mit der Negativen Dialektik eine philosophische Kritik an dieser Art identifizierenden Denkens. Er versteht dabei die Methode, die nach der Differenz von Begriff und Sache fragt, auch als sozialkritische Methode, da seiner Meinung nach die Begriffe auf gesellschaftlichen Maßstäben beruhen, und damit Teil eines totalen Verblendungszusammenhangs sind (vergleiche den Artikel kritische Theorie). An der hegelschen Dialektik kritisiert Adorno, dass Bejahung (Affirmation) nicht aus der Verneinung der Verneinung (aus der Negation der Negation) zu erhalten sei: da die Bezeichnung des Nichtidentischen wiederum ein Begriff ist, kann das Nichtidentische selbst nicht vollständig erfasst werden; der aus der Nichtidentität resultierende Widerspruch kann daher nicht auf einer höheren Ebene, synthetisch aufgelöst werden, sondern verkörpert – gemäß Adorno – absolute, unversöhnliche Gegensätze, die durch das begriffliche Denken hervorgerufen würden. Die Unvollständigkeit (die Nichtidentität) des Begriffs des „Nichtidentischen“ macht die kritische Selbstreflexion des dialektischen Denkers notwendig. Aber: „Selbstreflexion der Aufklärung ist nicht deren Widerruf“. Insbesondere vor der absoluten Negativität warnt Adorno, da diese als Bejahung der Verneinung selbst Positives sei, und damit die Negation widerriefe.

(Wikipedia: Negative Dialektik)

Diese Inhaltsangabe dürfte den Beifall der Adepten finden und selbst von einem solchen stammen. Nun, wovon ist die Rede? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich beobachte nur, daß die allerallgemeinsten Ausdrücke in gewisse Beziehungen zueinander gebracht werden; Logik ist es aber auch nicht (ebenso wenig wie Hegels "Wissenschaft der Logik", auf die es zurückverweist).
Sonderbar sind die theologischen Begriffe "Verblendung", "Versöhnung", die wieder und wieder im Werk des Meisters auftauchen, man weiß nicht woher.
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 14.04.2014 um 16.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#25603

Ich war auch einmal sehr jung und hatte Adorno bei einer, ich glaube, zweistündigen Gastvorlesung zugehört, bei der ich bemerken mußte, daß ich während dieser Zeit vielleicht zehn Wörter richtig verstand: die Artikel, die modalen Hilfsverben, nicht immer die temporalen, aber doch wohl meist, und einige Termini lateinischen Ursprungs. Ich blieb aber bis zum Ende der Gastvorlesung und konnte mich dann freuen, als der Rektor der Universität, damals wer aus der Pharmazie-Abteilung, zum Rednerpult hinaufstieg und dem Gast strahlenden Gesichts für seine "wahrhaft akademische Ansprache" herzlich dankte. Welch feine Art, einem derartigen Gast zu danken! Da hatte ich was gelernt, und ich habe es mein Leben lang nicht vergessen. — Heidegger übrigens mochte ich, - auch wohl, weil Katharina Kanthack neben ihren Kriminalromanen dazu eine brauchbare Einführung geschrieben hatte. Eine sehr feine Dame und eine gute akademische Lehrerin!

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.04.2014 um 13.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#25602

In einem Hymnus auf seinen Lehrer Adorno schreibt Rudolf zur Lippe:

Entsprechend weisen ein unerwarteter Konjunktiv, eine mehrfach in sich gegliederte Apposition wie ein Ausruf oder ein scheinbar alter­tümelndes »ward« auf Hintergründe, nein, auf Untergründe hin. (http://www.solon-line.de/2013/03/02/zur-sprache-adornos/)

Ist denn das ward kein Archaismus? Hat Adorno es als regionale Besonderheit irgendwo aufgeschnappt? Selbst dann müßte er bemerkt haben, daß es im 20. Jahrhundert unüblich geworden war. Der Versuch zur Lippes, auch darin noch etwas Tiefsinniges aufzuspüren, ist für mich nicht nachvollziehbar.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 13.03.2014 um 21.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#25373

Heidegger hat aber eigentlich nicht durch Gebrauch des »postponierten Reflexivums« sich hervorgetan, oder?
http://www.zweitgeist.net/2010/01/das-postponierte-reflexivum/
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.03.2014 um 16.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1531#25372

Die Zwillinge Heidegger und Adorno lassen sich sprachlich auch oft nicht unterscheiden. Skoteinos oder Wie zu lesen sei - wer von beiden hat das geschrieben? Heidegger feiert Heraklit, den Dunklen, Adorno Hegel, den Dunklen, beide ausdrücklich mit dem griechischen Epitheton, beide mit derselben Verachtung der Verständlichkeit.
 
 

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Mitglieder des Beirats: Herbert E. Brekle, Dieter Borchmeyer, Friedrich Forssman, Theodor Ickler, Michael Klett, Werner von Koppenfels, Hans Krieger, Burkhart Kroeber, Reiner Kunze, Horst H. Munske, Adolf Muschg, Sten Nadolny, Bernd Rüthers, Albert von Schirnding, Christian Stetter.

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