18.07.2012


Theodor Ickler

Jargon der Eigenstlichkeit

Charakteristischer Superlativ

Walter Benjamin war ein preziöser Schriftsteller, den man kaum noch lesen kann.
Von einem Text über die Aufgabe des Übersetzers sollte man einige Aufklärung erwarten. Benjamin schreibt Sätze wie diese:

Was hiernach für das Verhältnis von Übersetzung und Original an Bedeutung dem Sinn verbleibt, läßt sich in einem Vergleich fassen. Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkte berührt und wie ihr wohl diese Berührung, nicht aber der Punkt, das Gesetz vorschreibt, nach dem sie weiter ins Unendliche ihre gerade Bahn zieht, so berührt die Übersetzung flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkte des Sinnes das Original, um nach dem Gesetze der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen.

Charakteristisch ist der Superlativ eigenste. (Das Tangentengleichnis erinnert an die „mathematischen“ Ausführungen in Kleists Marionettentheater.) In diesem Text auch das vielzitierte: Kein Gedicht gilt dem Leser, kein Bild dem Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft. Wenn man nur wüßte, was gelten hier heißt! Das erfährt man leider nicht, und so ist eine Diskussion über den vagen Inhalt nicht möglich. Allerdings will Benjamin gar nicht diskutieren, er verkündet seine Weisheiten apodiktisch, genau wie später seine Nachahmer Adorno usw.

Alle zweckmäßigen Lebenserscheinungen wie ihre Zweckmäßigkeit überhaupt sind letzten Endes zweckmäßig nicht für das Leben, sondern für den Ausdruck seines Wesens, für die Darstellung seiner Bedeutung. So ist die Übersetzung zuletzt zweckmäßig für den Ausdruck des innersten Verhältnisses der Sprachen zueinander.

Natürlich des innersten! Aber was bedeutet das Ganze? Man kann wiederum nicht widersprechen, weil der Sinn so ungreifbar ist. Das innerste Verhältnis wird gleich weiter ausgeführt:

Jenes gedachte, innerste Verhältnis der Sprachen ist aber das einer eigentümlichen Konvergenz. Es besteht darin, daß die Sprachen einander nicht fremd, sondern a priori und von allen historischen Beziehungen abgesehen einander in dem verwandt sind, was sie sagen wollen.

Wieso wollen Sprachen überhaupt etwas sagen? – Benjamins ganze Verachtung gilt der „Mitteilung“ oder „Aussage“. Seine Texte sind denn auch danach.

Vor längerer Zeit gab es eine Diskussion über eine Passage aus dem "Ursprung des deutschen Trauerspiels":

Während im Symbol mit der Verklärung des Unterganges das transfigurierte Antlitz der Natur im Lichte der Erlösung flüchtig sich offenbart, liegt in der Allegorie die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen. Die Geschichte in allem was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz – nein in einem Totenkopf aus. Und so wahr alle „symbolische“ Freiheit des Ausdrucks, alle klassische Harmonie der Gestalt, alles Menschliche einem solchen fehlt – es spricht nicht nur die Natur des Menschendaseins schlechthin, sondern die biographische Geschichtlichkeit eines einzelnen in dieser seiner naturverfallensten Figur bedeutungsvoll als Rätselfrage sich aus. Das ist der Kern der allegorischen Betrachtung, der barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt; bedeutend ist sie nur in den Stationen ihres Verfalls. Soviel Bedeutung, soviel Todverfallenheit, weil am tiefsten der Tod die zackige Demarkationslinie zwischen Physis und Bedeutung eingräbt.

Ist das nicht furchtbar? Ich habe anderswo schon eingewandt: Wäre es zum Beispiel denkbar, daß die Demarkationslinie zwischen Physis und Bedeutung nicht zackig ist? Warum Urlandschaft? Was bedeutet genau genommen die facies hippocratica der Geschichte? Gadamer, auch kein Muster klarer Rede, nannte dieses Beispiel preziös und elegant, von „stimmungshafter Evokationskraft“, aber sah darin gerade kein Musterbeispiel gelehrter Prosa, im Gegensatz zu Walter Killy, der es lobte.

Übrigens zitiert Benjamin zustimmend Rudolf Pannwitz, der es mit dem Preziosentum noch ärger trieb, eben George-Kreis.


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