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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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17.07.2010
 

Frech sein
Wenig beachtete Partikelverben

In den meisten Wörterbüchern fehlen Einträge zu Verbzusatzkonstruktionen wie hingehen und x tun; sich hinstellen und x tun als Ausdruck der Dreistigkeit, also etwa so:

Das war schon im Januar dieses Jahres so. Da ging Funke hin und erklärte öffentlich, dass sein Hypothekenfinanzierer Millionenabschreibungen aus der Finanzkrise schultern müsse. An solche Mitteilungen hatte man sich in der Finanzbranche zwar längst gewöhnt. Nur dass sich eben jener Funke noch wenige Wochen zuvor hingestellt und erklärt hatte, dass sein Unternehmen gestärkt aus der Finanzkrise hervorgehe. (SZ 7.10.08)

Also etwa = die Stirn haben, to have the face to do sth.



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Kommentare zu »Frech sein«
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Kommentar von 00, verfaßt am 20.07.2010 um 15.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16571

Ist das hier nicht ein ähnliches sprachliches Register:
Da holte Funke tief Luft und erklärte öffentlich ...
 
 

Kommentar von 00, verfaßt am 20.07.2010 um 15.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16570

@Germanist
Bei kaputt gehen wird vielleicht nicht "gegangen", aber bei hingehen und etw. tun wäre ich mir nicht so sicher.

@Da ging Funke hin und erklärte öffentlich ... etc.
Ich sehe darin auch eine dramaturgische Aufladung (mit dem Charakter einer Erzählung).
Es klingt auch ein bisschen so wie: Da kann ja jeder kommen und ...
Aber kann man hier von einer festen Wendung sprechen?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 20.07.2010 um 11.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16567

Dreistigkeit, Frechheit, trifft zumindest im Deutschen zu. Aber allgemein? In dem von Herrn Markner gefundenen Artikel geht es ja um eine ähnliche Konstruktion mit "nehmen", die dort "Inexpektativ" genannt wird, also als zum Ausdruck des Unerwarteten.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 20.07.2010 um 11.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16566

Es kommt wohl darauf an, wer was über wen aussagt. "Ich habe mich hingestellt und Kartoffeln geschält" war ein Standardspruch meines Vaters, wenn er andere Familienmitglieder dazu animieren wollte, ähnlich Nützliches zu tun bzw. die Kartoffeln wenigstens aufzuessen. Das hinstellen hat in seiner "gesunden Redundanz" (=> Hr. Metz) hier die Funktion eines Doppelpunktes: Es konzentriert die Aufmerksamkeit auf die nachfolgende Sachaussage.

Anders bei "Beust hat sich hingestellt und seinen Rücktritt erklärt". In diesem Fall stellt nicht der Sprecher die Redundanz her, sondern ein von ihm unterschiedener Akteur. Also etwa: "Nicht genug damit, daß Beust seinen Rücktritt erklärte, hat er sich dafür auch noch in Positur gebracht."

Die bloße Feststellung von Redundanz in der dritten Person drückt schon eine Distanzierung aus, die in der ersten Person sinnlos wäre. Bei hergehen scheint es sich ähnlich zu verhalten, wobei der Dritte, der "hergeht" und etwas tut, nicht gleich frech zu sein braucht, sondern z.B. auch gedankenlos oder eine etwas lächerliche Figur sein kann.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 20.07.2010 um 07.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16565

Die Bedeutung "Dreistigkeit" dürfte meistens zutreffen. Allgemeiner geht es um etwas höchst Erstaunliches oder Aufsehenerregendes. Man könnte auch einen Fall von seltener Dummheit damit ausdrücken, zum Beispiel: "Da geht er hin und fragt den Schaffner, wo der Bahnhof ist."

Die Sinnhaftigkeit der Redewendung hängt nicht davon ab, ob jedesmal ein Hingehen stattfindet. Es genügt, daß man schon den Aufbruch zu einer unerhörten Handlung als skandalös empfindet, weil da der Betreffende bereits den Vorsatz gefaßt hatte und keine Bedenken zeigt, ihn in die Tat umzusetzen. Der Betrachter empfindet schon den Weg zum Tabubruch als unglaublich: "Das darf doch nicht wahr sein, hat er es tatsächlich vor, wird er es tatsächlich tun?" Die Bedeutung der Dreistigkeit oder Hemmungslosigkeit verselbständigt sich, und es spielt dann keine Rolle, ob im Einzelfall eine Wegstrecke zurückgelegt wird. Dennoch bietet es sich natürlich an, den Ausdruck situationsgerecht abzuwandeln. Wenn kein Ortswechsel stattfindet, bleibt eben übrig sich hinstellen.

Man könnte beides kombinieren: Da kamen die Kultusminister her, stellten sich hin und sagten, wir bräuchten eine Rechtschreibreform.

Normalerweise müßte der Übeltäter sein Gesicht (samt der Stirn) vor Scham verbergen. Wenn er es nicht tut, kommt heraus: he has the face to do it bzw. er hat die Stirn.

Wenn diese Überlegungen zutreffen, müßten in auch anderen Sprachen ähnliche Formulierungen vorhanden sein.
 
 

Kommentar von Tobias Bluhme, verfaßt am 20.07.2010 um 07.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16564

Die Schweden lieben es, solche Kombinationen aus zwei Verben zu verwenden, teilweise bis hin ins Absurde:

han stod och log = er stand und lächelte
han låg och sov = er lag und schlief
han gick och hälsade på sin pappa = er ging und besuchte seinen Vater
jag går och handlar = ich gehe und kaufe ein
han var och åt i en restaurang = er war und aß in einem Restaurant
 
 

Kommentar von Roger Herter, verfaßt am 20.07.2010 um 05.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16563

Sollten hier tatsächlich einfach 'Doppelverben' gesucht werden und die oben so herausgestellte Bedeutung "frech, dreist sein, die Stirn haben" gar keine Rolle spielen, so lassen sich leicht Beispiele aus anderen Sprachen beibringen. – Hier eins aus dem Jiddischen (umgangs- wie standardsprachlich ganz und gar üblich):

nemen un ... = go ahead and ... [zweites Verb] (Weinreich, Ausgabe 1988)

Weniger knapp und trocken der Eintrag im Harkavy vom selben Jahr:

nemen, far an ander zajtwort zu schteln di túung lébediker farn ojg (vor einem zweiten Verb, um die Handlung lebendiger vor Augen zu führen), lemóschl (zum Beispiel):
nemt er un git im a patsch. (Er haut ihm wahrhaftig eine runter.)

Ich vermute, dieses nehmen und x tun ist nach polnischem (jedenfalls slawischem) Muster gebildet. – Gut denn, soviel zu dem; aber wem mag mit solchen Angaben gedient sein?
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 19.07.2010 um 23.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16562

Es geht um Verbzusammensetzungen mit "gehen" in Situationen, in denen garnicht gegangen wird, weil man schon davorsteht.
Vielleicht ist es vergleichbar mit dem Gebrauch von "gehen" in den romanischen Sprachen zur Bildung eines unmittelbaren Futurs im Gegensatz zum normalen Futur, das nicht sofort einsetzen muß. Es scheint ein Bedürfnis für ein unmittelbares Futur zu existieren.
 
 

Kommentar von MG, verfaßt am 19.07.2010 um 19.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16561

Ich empfinde das "hergehen" auch als süddeutsch. Hierzustadt (Hannover) geht man in gleicher Situation bei: "Da bin ich also erstmal beigegangen und habe für Ordnung gesorgt."
 
 

Kommentar von Roger Herter, verfaßt am 19.07.2010 um 18.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16560

Dasselbe wie hingehen und x tun scheint mir etwa kommen bzw. ankommen und x tun auszudrücken: Da kommen die (an) und verlangen von mir.... Auch das dürfte kaum in Wörterbüchern zu finden sein.

Vielleicht handelt es sich hier um allzu flüchtiges Wortgut in allzu vielen Spielarten, das keine klaren Lemmata erlaubt?

Vermutlich gibt es umgangssprachlich weit mehr derart Vages und Variables, als wir denken. Es ist schwer oder nicht zu (er-)fassen, wohl weil wir solche Konstruktionen nicht als feste Einheiten, nicht als idiomatisch empfinden.

Wobei mir noch einfällt: Ach komm! und Ach geh! sind, scheinbar widersinnigerweise, synonym und meinen beide Ach was! – (Das glaubt dir doch keiner!) Ob dies irgendwo verzeichnet ist?
 
 

Kommentar von 00, verfaßt am 19.07.2010 um 17.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16559

Ich habe noch nicht verstanden, um was es hier eigentlich geht. Was ist das Besondere an der Wendung? Was wäre zu klären? Warum ein Sprachvergleich? In welche Wörterbücher müsste sie aufgenommen werden, und was müsste dann erläutert werden?
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 19.07.2010 um 14.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16555

Dieses "hergehen" ist zumindest im Südwesten umgangssprachlich üblich, allerdings nicht als Ersatz für "hingehen", sondern als Kurzform von "herangehen" im Sinne von "(etwas) angehen"; es zielt also weniger auf die Überwindung von körperlicher Distanz als "rangehen" ("der geht ran wie Blücher").
 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 19.07.2010 um 13.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16554

Die Ausdrucksweise mit hergehen, wie im Zitat des Fernsehkochs, erscheint mir auch in anderer Hinsicht merkwürdig, worauf Germanist vielleicht hinweisen wollte. Normalerweise würde ich entweder hingehen oder herkommen erwarten. Auch in dem Dudenbeispiel hätte ich eher hingehen erwartet: "... und dann geht sie hin [zur Polizei] und zeigt mich an".
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 18.07.2010 um 21.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16552

Es gibt übrigens auch eine Variante mit hinsetzen:

»Angesichts des öffentlich dargebotenen milden Entsetzens in der CSU-Führung ob des von Seehofer ausgelösten Pressings, dass nach der Berlin-Wahl rasch eine Entscheidung zu Gunsten Stoibers getroffen werden müsse, relativierte dieser zwar seine Äußerungen mit Blick auf Merkel: "Ich bin nicht der Anführer eines Putsches." Nicht aber mit Blick auf seine Forderung, dass sich die Union handlungsfähig zeigen müsse. "Wir können uns nach nach (sic!) dem 21. Oktober nicht hinsetzen und sagen, wir warten ab."« (faz.net, 12.10.2001)

Dabei geht es längst nicht immer um das zum Sitzen ganz gut passende Warten oder Abwarten, wie etwa die Suche nach »hinsetzen und sagen« in Google zeigt.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 18.07.2010 um 15.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16549

Siehe hier
https://www.zora.uzh.ch/11813/2/Weiss_Slavistische_Linguistik_2008V.pdf
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 18.07.2010 um 15.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16548

Leider hat Germanist seinen Beispielsatz nicht vollständig zitiert. Ich vermute, er meint nicht die von Herrn Ickler angesprochene Art, Dreistigkeit zum Ausdruck zu bringen, sondern jenes hergehen (nicht: hingehen), mit dem der Sprecher quasi Anlauf nimmt, zum Beispiel ein Fernsehkoch, der sagt: »Da gehen wir her und nehmen ein Stück Butter.« Man könnte vielleicht auch von einem verbalen Räuspern sprechen. Wenn jeder dritte Satz so anfängt, läßt das tatsächlich auf eine dumme Angewohnheit schließen. Sonst aber würde ich von einer gesunden Portion Redundanz sprechen.

Im Universalwörterbuch von Duden (ich habe gerade nur die Ausgabe von 1989 zur Hand) wird hergehen und etw. tun als umgangssprachlich bezeichnet und wie folgt erklärt: »ohne lange zu überlegen, ohne Umstände etw. tun, was bei anderen Befremden o.ä. auslöst«, Beispiel: »sie tut immer so freundlich, und dann geht sie her und zeigt mich an«.
Das wäre wieder eine andere Verwendung.

Den Ausdruck sich hinstellen und etwas tun finde ich sehr bildhaft. Jemand stellt sich, für alle unübersehbar, irgendwo hin, baut sich auf und verkündet dann ohne Skrupel dies oder das.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.07.2010 um 13.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16547

Ein harsches Urteil. Sollen wir nicht erst einmal alle verwandten Ausdrucksweisen sammeln, ordnen und zu verstehen versuchen? Auch der Vergleich mit anderen Sprachen wäre interessant.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 17.07.2010 um 22.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1330#16545

Für eine dumme Angwohnheit halte ich die mündliche Wendung "da gehen wir her und ..."
 
 

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