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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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15.07.2009
 

Korpuslinguistik
Belesenheit schützt vor Neuentdeckungen

Durch Chomsky ist es üblich geworden, nicht (oder nicht nur) die belegten Texte als diejenigen Daten zu betrachten, die von der Sprachwissenschaft zu bearbeiten sind, sondern auch die Grammatikalitätsurteile des "kompetenten" Sprecher-Hörers, meist also des Muttersprachlers über die sprachlichen Gebilde, die man ihm vorlegt (Chomsky pflegt sie sich der Einfachheit halber selbst vorzulegen, und so halten es die meisten). Darin soll die "Intuition" und damit die eigentliche "Kompetenz" zum Vorschein kommen, die dann vom Linguisten auf Begriffe zu bringen sei.

Wie soll man bei historischen Sprachstufen verfahren, also reinen Korpussprachen? Um die heilige Intuition nicht gänzlich zu entbehren, hat man vorgeschlagen, der Linguist solle sich durch Lektüre der alten Texte eine „Ersatzkompetenz“ verschaffen, mit deren Hilfe er dann seine Beurteilungen abgibt. Ich erinnere mich, daß ich dieses Argument vor genau 40 Jahren zum erstenmal gehört habe, unter beträchtlichem Kopfschütteln natürlich, denn ich bin ja im tiefsten Herzen ein Junggrammatiker. Was nicht belegt ist, gibt es für mich nicht. Argumentiert wird immer an Texten, und zwar keinen selbstgemachten.

Die Ersatzkompetenz spielt natürlich heuristisch immer eine Rolle. Wenn ich einen griechischen oder altindischen Satz analysiere, schlage ich nicht jede Konstruktion in einer Grammatik nach oder suche nach Belegen, aber im Prinzip wäre das durchaus möglich. Die Ersatzkompetenz kann selbstverständlich nichts enthalten, was nicht in den bereits durchgearbeiteten Texten enthalten gewesen wäre. Der alte Grieche freilich hätte etwas sagen können, was noch nie ein anderer gesagt hat, aber ich als Philologe kann das nicht wagen. Das Korpus hat das erste und das letzte Wort.

"Korpuslinguistik" ist ein zur Zeit sehr beliebtes Schlagwort. Man kehrt zum Selbstverständlichen zurück. Das Tamtam nervt, aber diesen Preis entrichten wir gern.



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Kommentare zu »Korpuslinguistik«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.09.2009 um 18.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#14963

Noch ein Wort zu den selbstgemachten Beispielen. Natürlich kann man grammatische Tatsachen an beliebigen Sätzen erläutern. Es gibt aber in der "modernen" Linguistik ganze Schulen, die sich vorzugsweise mit witzig sein sollenden Sätzchen delektieren, z.B.: ...dass der Professor dem Kind den Schokoriegel klaute usw.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 15.09.2009 um 15.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#14964

Wer bei Google "Schokoriegel klaute" eingibt, kann sich davon überzeugen, daß Professor Ickler nichts erfunden hat. In einem "Hauptseminar Wortstellung und Informationsstruktur" mit dem Thema "Zur Generierung der Abfolge der Satzglieder im Deutschen“ geht es um die Frage, wie eine "Basisgenerierungstheorie" die informationsstrukturellen Unterschiede von normaler und markierter Wortstellung erklärt. Als Beispiele werden folgende Nebensätze aufgeführt:
– dass [der Professor [dem Kind [den Schokoriegel klaute]]]
– dass [der Professor [den Schokoriegel [dem Kind klaute]]]
– dass [den Schokoriegel [der Professor [dem Kind klaute]]]
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.01.2011 um 17.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#17845

Hier sind weitere Belege für die durch Chomsky aufgekommene falsche Auffassung:

„Authentizität garantiert nicht Akzeptabilität und enthebt den Linguisten nicht der Beurteilung durch muttersprachliche Kompetenz.“

„Zunächst einmal kann nicht jeder Beleg als Beweis gelten. Hier wäre noch durch Befragung von Informanten abzusichern, inwieweit diese Sätze noch als grammatisch bewertet werden.“

Die ausführlichsten Grammatiken sind aber gerade von Korpussprachen wie Latein, Altgriechisch, Sanskrit usw. angefertigt worden, für die es keine Informanten und keine eigene Intuition mehr gibt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.02.2011 um 16.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#18161

Im Handbuch der deutschen Wortarten kann man lesen:

„In der Grammatik der deutschen Sprache (Zifonun/Strecker/Hoffmann 1997) wird wem auch als Dativform von was angegeben. Beispiele wie (8) weisen jedoch darauf hin, dass wem in der Regel nur mit Bezug auf Personen verstanden werden kann, d.h. als Dativform von wer.
(8)Wem schadet der Schimmel in der Wohnung? – Den Mietern./*Den Büchern.“
Fn. 10: „Allerdings gibt es Sprecher, die wem in (8) offenbar nicht auf Personen beschränken. Eine systematische Untersuchung der Sprecherurteile steht jedoch noch aus.“

-
Das zeigt noch einmal den methodischen Fehler so vieler Arbeiten. Wen interessieren die Sprecherurteile? Es geht doch darum, den Sprachgebrauch zu analysieren, nicht die Schulkenntnisse und Vorurteile von Sprechern (fast immer Linguistikstudenten übrigens!).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.01.2013 um 11.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#22489

Nach Erhard Agricola (Semantische Relationen in Text und im System. 1969:8) müßte die Semantik erklären, warum Der Pumpenschwengel war ein unleserlicher Buchstabe im Frieden des Hofs interpretierbar ist, d.h. warum die Substantive, obwohl "im System" weit auseinander liegend, im Text dennoch kompatibel sind, während der folgende Satz "sehr unwahrscheinlich" sei: Ein eiserner Wasserfloh stürzte während der Treppe in die komplikationslose Röte. Beide Sätze sind aber gleich unwahrscheinlich. (Selbst wenn der eine unter Trillionen von Sätzen einmal vorkäme, der andere schon unter Billionen, wäre der Unterschied für den Sprecher nicht faßbar und daher ohne Bedeutung.) Der zweite Satz leidet nicht an der semantischen Ferne der Wörter im System, sondern an Kategorienfehlern. Hauptsächlich die Unvereinbarkeit von während und Treppe stört die Interpretation, die sonst sehr wohl einen Sinn finden könnte. Ohne kategoriale Fehler ist es gar nicht leicht, einen wirklich uninterpretierbaren, d.h. unter allen Umständen sinnlosen Satz zu konstruieren.
Grammatische Verstöße lassen sich viel leichter erkennen als semantische Unmöglichkeiten. Bei der Bedeutung sind wir offenbar auf weite Interpretationsspielräume eingerichtet, während es bei der Grammatik kaum Freiheitsgrade gibt. Wort- und Satzgliedstellung, Rektion, Valenz (Wertigkeit, in Grenzen flexibel), Kongruenz usw. sind weitgehend festgelegt.
Bei der Semantik sind wir bereit,
1. sachliche Widersprüche,
2. offenkundige Unwahrheiten und sogar
3. Kategorienfehler durch Interpretation zu überbrücken und zu entschärfen.
Die wichtigsten Verfahren sind: metaphorisches Verständnis, metonymisches Verständnis, Konkret-Abstrakt-Vertauschung, Eigennamen-Appellativ-Vertretung sowie begriffliche Dehnung oder Verengung. Man nennt das Ganze unter einem anderen Gesichtspunkt auch rhetorische Figuren oder uneigentliches Sprechen. Es ist aber etwas ganz Alltägliches, und weil manche dieser Verfahren zur Gewohnheit und damit zum Normalfall werden können, ist schon aus diesem Grunde ein ständiger Sprachwandel im Gang.
Einerseits ist es fast unmöglich, einen grammatisch korrekten Satz zu formulieren, der überhaupt keine sinnvolle Deutung erlaubt, andererseits kann dem einfachsten bedeutungsvollen Satz eine Fülle von unsinnigen Interpretationen untergeschoben werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.06.2013 um 18.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#23478

Aus einer Arbeit über das "Zustandspassiv":

„Beim Blick auf die einschlägige Literatur zum Zustandspassiv fällt auf, wie sehr die Grammatikalitätsurteile hier schwanken und wie willkürlich gefällt sie zuweilen anmuten. Die Heterogenität der Bewertungen geht dabei weit über auch sonst anzutreffende Uneinigkeit bei der Beurteilung von Daten hinaus und scheint (jenseits des allgegenwärtigen Problems der Validierung linguistischer Evidenz) tiefere Gründe zu haben.“

Warum sieht man nicht nach, wie diese Formen gebraucht werden? "Grammatikalitätsurteile" sind doch gleichgültig und, da sie meist von Linguistikstudenten stammen, sowieso wertlos.

Aus einer anderen Arbeit:
„So wird (2) von vielen Sprechern als gut beurteilt.
(2) Die Überwachungskamera hat die Linse zugeklebt.“

Wenn Konstruktionen so selten sind wie diese, ist es natürlich schwer, überhaupt echte Belege zu finden. Dann macht man es sich leicht und befragt die Leute. Aber die Informanten, hier ganz gewiß Studenten, können ja auch nichts aus sich herausholen, was sie nicht an wirklichen Texten gelernt haben, und meistens nicht einmal das.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.01.2015 um 05.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#27719

Grammatiker, die mit selbstgemachten Beispielen arbeiten, laufen Gefahr, buchstäblich gegenstandslose Abhandlungen zu liefern. Das ist das Spiegelbild der zu Unrecht verteilten Asterisken (s. Sternchen). Warum sollte man Hans überläßt die Schwester sich nachgrübeln?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.05.2015 um 17.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#28874

Erheiternd oder erschütternd ist ein Bericht, was einem alles bei der Arbeit mit korpusbasierten elektronischen Wörterbüchern passieren kann:

http://www.interlingua.fr/uploads/pdf/Maxi%20Krause%20Absurdistan%20mai%202014.pdf
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.05.2015 um 09.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#28926

Bevor ich etwas Zusammenhängendes über die schwierige Form voller schreibe, möchte ich eine seltsame Beobachtung mitteilen. Die jüngste und umfassendste Untersuchung des Wortes stammt von Amir Zeldes:

https://corpling.uis.georgetown.edu/amir/pdf/case_for_caseless.pdf

Der Verfasser stützt sich auf ein gigantisches Korpus: 1,63 Mrd. Wörter aus dem Internet, dazu noch andere Quellen. Dies wertet er statistisch aus, eine Heidenarbeit und an sich sehr wertvoll.

Er behauptet, daß auf voller nur Nominalgruppen ohne Artikelwort (Determiner) folgen:

voller categorically rejects any form of determination“

"since voller is not compatible with articles, adjectives will necessarily occur with bare nouns in the strong declension"

Das ist ein nicht unwesentlicher Punkt der Argumentation, aber stimmt es auch? Eine gezieltere Suche im Internet, einfach mit den geeigneten Eingaben bei Google, fördert beliebig viele Gegenbeispiele zutage:

Das Atelierhaus steckt voller solcher Geschichten. (SZ 2.6.09 )
Ganze Schubladen waren voller dieser Kettchen.
(Auch schwach gebeugt:)
Unsere Existenz ist voller solchen Grenzen. (http://artes.phil-fak.uni-koeln.de/21730.html?&L=0)
Ich wünschte, daß die ganze Stadt voller solchen Leute wäre, wie Sie sind, so bedächte sich mancher Dieb, ehe er stehlen wollte. (18. Jhdt.)
wenn die Gegend darum voller solchen garstigen Schleims, und wohl gar wund ist, .. (18. Jhdt.)
wenn mein Kopf voller diesen Gedanken ist (http://www.italki.com/entry/361123)
Wie gesagt, eine Zeit lang liefen sehr viele Leute mit "Haribo"-Kisten voller diesen Figuren rum.
die Tasche war voller diesen Schönheiten

(Mit Possessiv, von Zeldes ausdrücklich für unmöglich erklärt:)
voller deiner Güte (bei Adelung besprochen und abgelehnt, also üblich)
voller deiner Barmherzigkeit (weit verbreitet)
voller deiner Leckerlis (viele Belege derselben Art)

Wie ist es möglich, Hunderte von Belegen dieser Art zu übersehen? Vielleicht sind sie beim manuellen Sichten der Beispiele aussortiert worden, weil ein gewisses Urteil schon vorher feststand?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 20.05.2015 um 11.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#28927

Bei der schwachen Beugung würde ich einen Unterschied nach der Art des Substantivs machen. Das folgende entspricht nur meinem persönlichen Sprachgefühl, ich habe keine Statistiken:

voller solchen garstigen Schleims scheint mir gerade noch zu passen, obwohl ich eigentlich statt dessen voll sagen würde.

Mein Gefühl sträubt sich aber sehr stark gegen die Beispiele
voller solchen Grenzen/Leute,
voller diesen Gedanken/Figuren/Schönheiten.

Bei abzählbaren Mengen (Substantiv im Plural) und immer bei Feminina würde ich nach voller nur starke Beugung für möglich halten. Bei einer unbestimmbaren Anzahl (mask. oder neutr. Substantiv im Singular) scheint mir nur die schwache Beugung möglich zu sein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.05.2015 um 12.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#28928

Lieber Herr Riemer, Zeldes berücksichtigt auch Diskussionsforen, in denen kompetente Sprecher ihre Intuitionen bekunden, genau wie Sie jetzt. Das sind auf jeden Fall auch wertvolle Daten, aber von anderer Art als die tatsächlich vorgefundenen Formen.
(Ich stimme Ihnen übrigens in der Beurteilung zu, weiß aber nicht warum.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 20.05.2015 um 12.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#28929

Mein (möglicherweise veraltetes) Sprachgefühl verlangt nach "voller" für die Pronomen den Genitiv.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.05.2015 um 04.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#28936

Das IDS hat in seinem Projekt GRAMMIS einen Eintrag, der voll zur Präposition erklärt.
http://hypermedia.ids-mannheim.de/call/public/gramwb.ansicht?v_app=g&v_kat=gramm&v_buchstabe=V&v_id=2589

Mir kommt es im Augenblick auf etwas anderes an: voller soll eine "andere Schreibweise" sein. Das ist der Geist der Rechtschreibreformer, die ja auch selbständig und selbstständig für verschiedene Schreibweisen halten. Das IDS kann Sprache und Schrift nicht unterscheiden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.05.2015 um 04.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#28944

Das GRAMMIS-Projekt ist hübsch aufbereitet, aber wenn man genauer hinsieht, stimmt vieles nicht zusammen. So wird eingedenk einerseits als Präposition geführt, mit Vor- oder Nachstellung: eingedenk dessen/dessen eingedenk. Andererseits steht es unter "Adjektivphrase" als Adjektiv, ausschließlich in Nachstellung: dessen eingedenk. Homonymie, wie sonst bei vielen "Präpositionen" (deren Bestand enorm ausgeweitet ist), wird nicht angenommen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.03.2016 um 16.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#31984

Auch zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1044#29313

„Um die grundlegenden Fragen einer Syntax des Frühneuhochdeutschen (...) beantworten zu können, bedarf es umfangreicher Texte, die ja die Kompetenz des Sprechers ersetzen müssen.“ (Werner Wegstein/Norbert R. Wolf in: Albrecht Greule, Hg.: Valenztheorie und historische Sprachwissenschaft. Tübingen 1982:124)

Der Einfluß Chomskys, demzufolge der Linguist seine eigene "Kompetenz" zu untersuchen habe, führt dazu, die philologische Vorgehensweise der herkömmlichen Linguistik auf den Kopf zu stellen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.07.2016 um 15.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#32936

In Arbeiten über voller wird auch das Duden Universalwörterbuch zitiert, das unter "stecken" folgendes hat:

viel, eine Menge, ein großes Maß von etw. aufweisen: er steckt voller Einfälle.

Aber das ist nicht die Bedeutung von stecken, sondern die des ganzen Prädikats. stecken, hängen usw. sind in dieser Verbindung Synonyme bzw. "Troponyme" der Kopula sein.

Nicht erkannt in einem sonst ganz interessanten Buch:

Jörg Hagemann/Sven Staffeldt (Hg.): Syntaxtheorien. Analysen im Vergleich. Tübingen 2014, hier S. 77.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.12.2016 um 08.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#34093

Ein jüngerer Indogermanist schreibt:

The goal of IE studies is not the reconstruction of utterances, but that of linguistic competence.

Man sieht hier, wie das Sprachsystem psychologisiert wird: Sprache als Wissen, nicht als Verhalten des Menschen. Das geht auf Chomsky zurück und prägt diese Richtung bis heute. Der Verfasser fährt fort:

The reconstructed roots, words, or affxes are entries in the mental lexicon of an ideal PIE speaker, the phonological or morphological rules for manipulating them part of his grammar. Likewise, PIE syntax is not concerned with actual strings, but with the structure of complex syntactic objects and constraints on the wellformedness of such objects.

Man kann also vom „Mentalen“ ohne weiteres zum Sprachsystem zurückkehren. Die Fixierung auf Wohlgeformtheit geht ebenfalls auf die TG zurück. Die betrachtet es als ihre Aufgabe, unter Zeichenketten die wohlgeformten herauszusuchen. Kriterium ist das Urteil des Sprechers. Daher folgendes Problem:

Studies in IE syntax face fundamental problems that restrict any attempts at reconstruction severely. The most important one is the fact that the languages we compare never provide negative evidence and that we do not have access to acceptability judgements.

Die traditionelle Sprachwissenschaft untersucht, was der Sprecher tut, nicht, was er darüber denkt. Darum hatte sie auch mit toten Sprachen (Korpussprachen) kein Problem. Die großen Grammatiken dieser Sprachen sind viel vollständiger als alles, was die generative Grammatik lebender Sprachen hervorgebracht hat.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 12.12.2016 um 14.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#34094

„Überwunden wurde der Strukturalismus durch Noam Chomskys generative Transformationsgrammatik. 'Angeborene Ideen' erlauben den Spracherwerb. Studienobjekt ist der kompetente Muttersprachler statt eines Korpus, gesucht wird nach den Regeln, welche die Erzeugung von Sätzen erlauben. (...) Chomsky unterscheidet bei der Syntax zwischen der Tiefenstruktur, dem gedanklichen Zusammenhang, und der Oberflächenstruktur, der aktuellen Formulierung. [Es folgen einige lateinische Formulierungen desselben Sachverhalts.] Diese Herangehensweise ist also gut geeignet zur Vergegenwärtigung der klassischen Konstruktionen (Partizipialkonstruktionen) und ihrer Wiedergabe im Deutschen.“ (Lothar Willms: Klassische Philologie und Sprachwissenschaft. Göttingen 2013:76f.)

Der Verfasser hatte eigentlich keinen Grund, die TG überhaupt zu erwähnen, und hätte es besser unterlassen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.12.2016 um 12.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#34131

Das erwähnte Buch von Lothar Willms enthält eine Fülle von Material und Anregungen, ist aber für einen Anfänger, der zwar Latein und Griechisch kann, jedoch von Indogermanistik noch nicht viel weiß, meiner Ansicht nach nicht leicht zu lesen. Auch ist der Adressatenkreis nicht ganz klar. Ich möchte mich vorläufig dieser Besprechung anschließen:
http://bmcr.brynmawr.edu/2015/2015-01-03.html

(Willms erklärt, woher das Hakenkreuz (svastika) kommt und spricht dann vom „neuzeitlichen Missbrauch als Symbol des Nationalsozialismus“ (106). Das klingt so, als gäbe es einen bestimmten rechtmäßigen Gebrauch. Aber natürlich kann jeder irgendwelche alten Zeichen benutzen, wozu er Lust hat.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.04.2018 um 18.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#38601

„Eine Sprache beschreiben heißt, eine Grammatik angeben, die in der Syntax die wohlgeformten Ausdrücke dieser Sprache definiert und in der Semantik diesen Ausdrücken bestimmte Entitäten, genannt Bedeutungen, zuordnet.“ (Dietmar Zaefferer in Grewendorf (Hg.): Sprechakttheorie und Semantik. Frankfurt 1979:387)

Eine Sprache beschreiben heißt die Form beobachteter Äußerungen in möglichst ökonomischer Weise, d. h. unter Ausnutzung wiederkehrender Formen darstellen und ihre Gebrauchsbedingungen angeben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.04.2018 um 04.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#38603

Zu den "Entitäten" im vorigen Eintrag:

Der Versuch, den Alltagsbegriff „Bedeutung“ wissenschaftsfähig zu definieren, stürzt Psychologen und Linguisten in tiefe Hilflosigkeit, die sie durch hochgestochene Terminologie zu verdecken suchen: semantische Strukturen, propositionale Strukturen, konzeptuelle Strukturen, Abbildungen von Sachverhalten, Intentionen, mentale Entitäten, Ausgangsinformationen, geistige Inhalte, Repräsentationen, signifié usw. Man darf bloß nicht fragen, was das für „Entitäten“ (ein scholastischer Ausdruck) sein sollen.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 28.04.2018 um 14.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#38613

In der Informatik gilt am Beispiel Entenhausen: Donald Duck ist eine Entität, weil er Beziehungen hat. Franz Gans ist keine Entität, weil er keine Beziehungen hat. (Grins)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.05.2018 um 05.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#38719

In der FAZ feiert Wolfgang Krischke die Digitalisierung der Linguistik, also hauptsächlich Bereitstellung von großen Textkorpora, teilweise voranalysiert und indiziert.

Dagegen ist nichts zu sagen, und das IDS-Korpus mit über 40 Mrd. laufenden Wörtern ist sicher für manche Zwecke nützlich.

Man darf das aber nicht überschätzen, und überraschende neue Einsichten haben ja die Computerlinguistik und die computergestützte Korpusauswertung auch nicht gebracht.

Wenn wir von der praktischen Folge der verbesserten automatischen Übersetzung absehen, sind es vor allem sprachstatistische Fragen, um die es hier geht. Das ist aber ein sehr spezieller Bereich von begrenztem Interesse.

Ich habe immer wieder gemerkt, daß ich für synonymische Untersuchungen, die mich besonders interessieren, zwar Belege brauche, aber um eine kontextbezogene Einzelinterpretation nicht herumkomme. Statistik hilft fast gar nicht. Kollokationen zu finden ist nützlich, aber auch nur der erste Schritt. Oft genügt die Suche im wilden Internet.

Der größte Nutzen der Digitalisierung für die Geisteswissenschaften ist wohl die bequeme Bereitstellung der Texte aller Völker und Zeiten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.06.2018 um 16.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#38923

Most of us corpus linguists know about the famous occasion when the generativist Robert Lees responded with amazement to the news that Nelson Francis had got a grant to produce the Brown Corpus, the world’s first electronic language corpus:

„That is a complete waste of your time and the government’s money.  You are a native speaker of English; in ten minutes you can produce more illustrations of any point in English grammar than you will find in many millions of words of random text.“

(Geoffrey Sampson: Minds in Uniform)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.03.2019 um 05.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#41152

Die neueren Grammatiken sind voller Verallgemeinerungen, deren Unrichtigkeit auf der Hand liegt und heute durch einfache Internetrecherche bestätigt werden kann.

"Solch- wird nur in Verbindung mit dem unbestimmten Artikel (ein, kein) oder unbestimmten
Zahlwörtern (einige, mehrere, etc.) benutzt."
https://deutschegrammatik20.de/pronomen/demonstrativpronomen-2/demonstrativpronomen-solcher/)

Es gibt zahllose Gegenbeispiele wie:
Ich wollte mal gucken, ob ich solche Arbeit stemmen kann.
 
 

Kommentar von Erich Virch, verfaßt am 31.03.2019 um 11.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#41158

Besonders im Plural sind solche Regeln unnütz.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 31.03.2019 um 21.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#41164

Die Regel scheint wohl zuzutreffen und gar nicht so schlecht zu sein, wenn man den leeren unbestimmten Artikel im Plural berücksichtigt und wenn man sie nur auf abzählbare Konkreta anwendet.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.06.2021 um 04.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#46292

Akzeptabilität Definition 1.3
Jede sprachliche Einheit (z. B. jeder Satz), die von einem kompetenten Sprachbenutzer als konform zur eigenen Grammatik eingestuft wird, ist akzeptabel.
(Roland Schäfer)
(https://library.oapen.org/bitstream/id/1dcc15b6-2c3a-4006-8882-05b5b10677a2/620310.pdf)

Aber der Sprachbenutzer als solcher weiß nichts von der „eigenen Grammatik“ (die ihm vom Linguisten unterstellt wird). Er hat auch keinen Überblick über seinen Sprachgebrauch. Auf Befragen macht er bekanntlich oft falsche Aussagen über sein wirkliches Sprachverhalten.
Bei toten Sprachen, reinen Korpussprachen ist ohnehin keine Sprecherbefragung möglich, und doch sind zu solchen Sprachen die gründlichsten Grammatiken geschrieben worden.
Daß sich Linguisten immer noch mit „Akzeptabilität“ herumschlagen, gehört zum verhängnisvollen Erbe Chomskys.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.07.2023 um 05.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1189#51472

Ein großer Fehler der Sprachwissenschaft war es, im Gefolge Chomskys Sprecherbefragungen anstelle von Korpusarbeit zu veranstalten und das linguistische Urteil des "native speakers" als grundlegendes sprachliches Datum gelten zu lassen. Das sieht dann so aus:

79 % der Befragten stimmten dem Satz zu „Ich würde gerne nach Spanien zurückkehren, und ich glaube, dies auch tun zu werden“. (https://kups.ub.uni-koeln.de/1309/4/D.pdf)

Man glaubt empirisch zu arbeiten, vielleicht sogar empirischer als die Sammler von Belegen, weil man die Methoden der empirischen Sozialwissenschaft übernimmt.
 
 

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