15.07.2009 Theodor Ickler KorpuslinguistikBelesenheit schützt vor NeuentdeckungenDurch Chomsky ist es üblich geworden, nicht (oder nicht nur) die belegten Texte als diejenigen Daten zu betrachten, die von der Sprachwissenschaft zu bearbeiten sind, sondern auch die Grammatikalitätsurteile des "kompetenten" Sprecher-Hörers, meist also des Muttersprachlers über die sprachlichen Gebilde, die man ihm vorlegt (Chomsky pflegt sie sich der Einfachheit halber selbst vorzulegen, und so halten es die meisten). Darin soll die "Intuition" und damit die eigentliche "Kompetenz" zum Vorschein kommen, die dann vom Linguisten auf Begriffe zu bringen sei.Wie soll man bei historischen Sprachstufen verfahren, also reinen Korpussprachen? Um die heilige Intuition nicht gänzlich zu entbehren, hat man vorgeschlagen, der Linguist solle sich durch Lektüre der alten Texte eine „Ersatzkompetenz“ verschaffen, mit deren Hilfe er dann seine Beurteilungen abgibt. Ich erinnere mich, daß ich dieses Argument vor genau 40 Jahren zum erstenmal gehört habe, unter beträchtlichem Kopfschütteln natürlich, denn ich bin ja im tiefsten Herzen ein Junggrammatiker. Was nicht belegt ist, gibt es für mich nicht. Argumentiert wird immer an Texten, und zwar keinen selbstgemachten. Die Ersatzkompetenz spielt natürlich heuristisch immer eine Rolle. Wenn ich einen griechischen oder altindischen Satz analysiere, schlage ich nicht jede Konstruktion in einer Grammatik nach oder suche nach Belegen, aber im Prinzip wäre das durchaus möglich. Die Ersatzkompetenz kann selbstverständlich nichts enthalten, was nicht in den bereits durchgearbeiteten Texten enthalten gewesen wäre. Der alte Grieche freilich hätte etwas sagen können, was noch nie ein anderer gesagt hat, aber ich als Philologe kann das nicht wagen. Das Korpus hat das erste und das letzte Wort. "Korpuslinguistik" ist ein zur Zeit sehr beliebtes Schlagwort. Man kehrt zum Selbstverständlichen zurück. Das Tamtam nervt, aber diesen Preis entrichten wir gern.
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