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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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20.03.2009
 

Valenz
Bemerkungen zu einem fragwürdigen Begriff

Die Grammatiker machen viel Aufhebens vom Begriff der "Valenz", nachdem es eine Zeitlang schon mal stiller geworden war.
Es gibt eine scharfsinnige kleine Schrift von Joachim Jacobs ("Kontra Valenz") dazu, und vor einem Vierteljahrhundert habe ich auch schon mal kritisch zu diesem Begriff Stellung genommen. Ich kann nicht finden, daß die Valenztheorie irgend etwas über die Sprachen herausgefunden hätte, was nicht auch schon früher ohne diesen Begriff erkannt und gesagt worden wäre. Die Valenzwörterbücher (vor allem die unbrauchbaren des IDS: "Verben in Feldern" und VALBU) sind größtenteils viel schlechter als herkömmliche Wörterbücher. Das habe ich verschiedentlich einfach durch Vorzeigen traditioneller Schulwörterbücher (z. B. Hermann Menges Griechisch-Wörterbuch) nachgewiesen. Für Interessierte setze ich mal eine kurze Darstellung hierher, die aber noch ausgebaut werden muß:

Bemerkungen zur Valenztheorie

Unter „Valenz“ versteht man recht Verschiedenartiges, was sich kaum sinnvoll zu einer einzigen Theorie zusammenführen läßt. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, daß ein Lexem, der „Valenzträger“, seine syntaktische Umgebung strukturiert. Diese Wirkung hat besonders das Verblexem. Das Subjekt wird gewöhnlich als Ergänzung („Nominativergänzung“) mitgezählt, d. h. es gilt ebenfalls als verbregiert. Im übrigen werden nicht nur die reinen Kasusformen, sondern auch Präpositionalobjekte und verschiedene andere Ergänzungen zum Valenzrahmen gezählt (s. u.).
A. Verbvalenz
1. Quantitative Valenz
Darunter versteht man die „Wertigkeit“ oder „Stelligkeit“, durch die sich die Verben voneinander unterscheiden, also eine zahlenmäßige Größe. So ist schlafen einwertig, weil es nur die Nominativergänzung regiert. Wenn man das Scheinsubjekt es bei den Witterungsimpersonalien nicht als echte Ergänzung ansieht, wäre regnen sogar nullwertig. schlagen ist zweiwertig (Nominativ- und Akkusativergänzung), geben ist dreiwertig (Nominativ-, Akkusativ- und Dativergänzung; aber auch legen ist dreiwertig, weil es außer Nominativ und Akkusativ noch eine Richtungsergänzung regiert. (Soweit die Theorie. In Wirklichkeit sind die Ergänzungen nicht unabhängig voneinander an das Verb gehängt wie die Schlüssel an denselben Ring, sondern nach Art einer Kette hierarchisch geordnet.) Verben kommen auch mit unterschiedlicher Wertigkeit vor; davon ist jedoch der unter- und überwertige Gebrauch zu unterscheiden.

1.1 Unterwertiger Gebrauch
a) Im Passiv bleibt eine Valenzstelle fakultativ unbesetzt. Sie ist jedoch weiterhin vorhanden, die Wertigkeit des Verbs also unverändert:
Am Freitag und Sonnabend wird tanzen gegangen. (Neues Deutschland 8.11.85)
b) Kontextuelle Ellipse:
Jetzt darf ich anwenden. (J. G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Stuttgart 1979:9)
c) Prägnanter Gebrauch:
Hier wird die Eigenbedeutung des Verbs hervorgehoben:
Wer hat, der hat. (Sprichwort)
Eigentum verpflichtet. (GG Art. 14,2)
Besonders „weglassungsfreundliche“ Umgebungen sind Modalverben und Kontrastbildungen:
So kann Amerika nicht führen. (ZEIT 2.7.82:1)
Wer heißt überhaupt? Man nennt ihn. (Christian Morgenstern)
Diese Fotografien erinnern. Die Zeit hat sie ihrer Aufgabe, zu appellieren, entledigt. Sie klagen nicht an. (FAZ 10.12.83)
d) Gewohnheitsmäßiges Auslassen eines Objekts, das sich von selbst versteht oder aus Tabugründen nicht erwähnt wird, kann allmählich zu einem Verb mit geringerer Wertigkeit führen:
Die Frau erwartet wieder. (Theodor Fontane: Der Stechlin: Kap.1)
Die weite Reise, Kleidung, Ausrüstung - das alles kostet doch. (FAZ 9.1.97)
kosten wird hier als 'viel kosten' verstanden, ähnlich wie riechen als 'übel riechen' usw.

1.2 Überwertiger Gebrauch
Durch Ergebnis- und Richtungszusätze sowie weitere Prädikative entstehen komplexe Prädikate, die weitere, vom Verblexem aus nicht vorhersehbare Leerstellen eröffnen können:
Sie ißt den Teller leer.
Der Arzt schreibt Peter krank.
Sie tanzt die Schuhe durch.
Er knallt den Ball ins Aus.

Diese Verwendungsweisen werden auch „faktitiv“ oder „kausativ“ genannt. Hier lassen sich Objektsprädikative („prädikative Attribute“) eines anderen Typs anschließen:
Er trinkt den Kaffee schwarz.

1.3 Rezessivbildung; Aktantenvertauschung
Besonders in Fachsprachen kommt es zur echten Valenzänderung.
Wertet der Euro weiter auf, werden bald Klagen über die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft einsetzen. (FAZ 16.7.02)
Der Euro-Kurs notiert rund 15 Prozent höher als zu Jahresbeginn. (FAZ 16.7.02)
Hier handelt es sich um eine Art Wortbildung, deren Ergebnis daher auch ins Wörterbuch gehört:
notieren (...) 2. (Börsenw.; Wirtsch.) a) den Kurs, Preis von etw. ermitteln u. festsetzen: die Börse notiert die Aktie mit 50 Mark; b) einen bestimmten Kurswert, Preis haben: der Dollar notierte zum Vortageskurs. (Duden - Deutsches Universalwörterbuch Mannheim 2001) (Bei aufwerten fehlt ein entsprechender Eintrag.)
Aktantentausch ist ebenfalls häufig:
Visconti und Chabrol besetzten Maria Schell (FAZ 28.4.05)
die glänzend gehängten Räume (einer Kunstausstellung) (SZ 11.3.08)

2. Qualitative Valenz
2.1 Morphosyntaktische Valenz
Die vom Valenzträger regierten Ergänzungen können verschiedene Formen haben: Nominalphrasen in einem bestimmten Kasus, Präpositionalphrasen, Infinitivkonstruktionen, Nebensätze.
Traditionell werden den Ergänzungen verschiedene syntaktische Rollen wie Subjekt, Akkusativobjekt, Präpositionalobjekt zugeschrieben.
2.2 Semantische Valenz
Jeder Valenzträger erlegt seiner Umgebung gewisse semantische Beschränkungen auf. Davon müssen jedoch alle Beschränkungen ausgenommen werden, die aus sachlichen Gründen nicht in Frage kommen; sie haben mit Grammatik nichts zu tun. Es kann nicht Aufgabe der Sprachwissenschaft sein, die Bildung von Sätzen wie
*Das Buch liest mich morgen. (Welke, Klaus: Einführung in die Valenz- und Kasustheorie. Leipzig 1988:14)
oder
*Emil schläft seinem Onkel das Bett. (ebd. 11)
zu verhindern.
Um dieses Ausufern in Bereiche, die der Sachkenntnis und nicht der Sprachkenntnis zuzurechnen sind, zu verhindern, hat man sehr abstrakte semantische Merkmale postuliert wie HUM (menschlich), ANIM (belebt). Einige davon spielen tatsächlich auch in anderen Bereichen der Grammatik eine Rolle, z. B. „belebt“ in der Kasusmorphologie des Russischen, „menschlich“ (oder wohl besser „personal“) in der Auswahl zwischen Pronomina usw. Es sollten also nur solche Merkmale im Stellenplan des Valenzträgers verzeichnet werden, die bereits grammatikalisierte Kategorien der Wirklichkeit kennzeichnen.
Echt sprachwissenschaftlich ist dagegen die Unterscheidung von Bezeichnungsarten. In der Tradition ist sie oft mit den semantischen Merkmalen zusammengeworfen worden, so daß etwa ANIM und KONKRET auf derselben Stufe stehen. Belebtheit ist jedoch eine Eigenschaft des Gegenstandes, Konkretheit eine semiotische Qualität der Bezeichnungstechnik: Nicht die Gegenstände zerfallen in abstrakte und konkrete, sondern unsere Verfahren, die Gegenstände usw. zu bezeichnen. Der Unterschied ist zum Beispiel wichtig, um die Ergänzungen von wissen im Gegensatz zu kennen passend zu wählen.
Der Versuch, den Ergänzungen verschiedene, sehr abstrakte „semantische Rollen“ zuzuschreiben, führt zu Inventaren von „Tiefenkasus“, „thematischen Rollen“, „Theta-Rollen“ (Θ-Rollen) o. ä. - Zum Kernbestand gehören etwa AGENS, PATIENS, EXPERIENCER u. a. Solche Inventare sind jedoch sehr umstritten, und die Anwendung im konkreten Fall ist oft willkürlich.
Manche Autoren setzen eine Ebene der logischen Valenz an. Dazu übersetzen sie einen Satz in eine logische Orthosprache und vergleichen das Ergebnis mit dem Ausgangssatz. So gelangen sie beispielsweise zu der Erkenntnis, daß Verben wie verlesen oder anordnen logisch dreiwertig, sprachlich aber nur zweiwertig seien, weil die Nennung des „Adressaten“ nicht im selben Satz realisiert werden kann. zugreifen sei aus demselben Grunde sprachlich einwertig, logisch aber zweiwertig, weil der unterdrückte Patiens dazugehöre usw. Ebenso bei speisen oder urinieren der einverleibte bzw. ausgeschiedene Patiens. Solche Analysen sind jedoch fragwürdig, teils weil die Voraussetzungen nicht stimmen (verlesen kommt sehr wohl mit einem Adressaten-Dativ vor), teils weil gerade das Fehlen eines Adressaten zur Bedeutung des Verbs gehört (wie bei anordnen); schließlich ist bei zugreifen die Patiensrolle anaphorisch im Verbzusatz erfüllt. Bei speisen und urinieren liegen einfach falsche Bedeutungszuschreibungen vor. - Umgekehrt wird in ein Bad nehmen ein gewissermaßen überzähliger Aktant gesehen, dem in der orthosprachlichen Fassung der Wirklichkeit nichts entspricht. Ebenso gilt das es bei Witterungsimpersonalia als semantisch leer.

3. Valenz und Potenz
In der Valenzliteratur wird fast nur der Einfluß eines Valenzträgers auf seine syntagmatische Umgebung behandelt. Jedoch übt auch diese Umgebung als „Ergänzungsrahmen“ einen Einfluß auf die Interpretation des Valenzträgers aus. Fordern Transportverben den Rahmen Nominativergänzung + Akkusativergänzung + Richtungsergänzung, so macht umgekehrt dieser Rahmen jedes darin eingesetzteVerb zu einem Transportverb. Diese Wirkung kann man als „Potenz“ des Ergänzungsrahmens bezeichnen.
Die Bindung zwischen Valenzträger und Umgebung ist also eine wechselseitige, der Valenzgedanke daher einseitig und ergänzungsbedürftig. Sofern die Bindung zwischen Einzellexemen besteht, gehört sie in die Phraseologie (Kollokationsforschung). Zwischen Einzellexemen und Klassen anderer Lexeme besteht „lexikalische Solidarität“: aufsetzen <>Brille, Mütze, Maske ... Es ist nicht sehr sinnvoll, all dies unter „Valenz“ abzuhandeln.


Anmerkung: Was ich hier als "Potenz" bezeichne (mit einem nicht von mir erfundenen Ausdruck), ist im Grunde das, was neuerdings unter dem Titel "Konstruktionsgrammatik" groß in Mode ist.



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Kommentare zu »Valenz«
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Kommentar von Y.N., verfaßt am 25.03.2009 um 19.09 Uhr  
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Im Nachruf für G. Helbig in DaF 45, der "Valenz" auch in Japan verbreitete und lieb machte, verliert man kein Wort über diesen Begriff. An der "Valenztheorie" vermißt man zwar die eigentliche Theorie, aber als ewiger Deutschlernender muß ich dem Begriff eine gewisse Bedeutung beimessen. Inzwischen hat "Valenz" auch bei uns ihren Glanz verloren. Vielleicht ist sie mit Helbig vorläufig endgültig verschieden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.05.2011 um 08.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#18570

Das VALBU, eines der skurrilsten Produkte des IDS, kann man online benutzen:

http://hypermedia2.ids-mannheim.de/evalbu/index.html

Dort dann auch die seltsamen Beispielsätze:

Als Zeichen der Anerkennung hat man dem jungen Krieger zwei Sklaven geschenkt.
Sie haben ihr einen Sklaven gegeben.
Sie bekam von ihren Eltern einen Sklaven.
Sie kriegte von ihren Eltern einen Sklaven.
Ich schenke dir eine Putzfrau.

usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.12.2011 um 12.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#19693

Im großen Universalwörterbuch von Duden steht unter kauern der Beispielsatz:

der Hase kauert sich in die Ackerfurche

Das ist meiner Ansicht nach unmöglich, jedenfalls ungewöhnlich. Der Hase duckt sich in die Ackerfurche, nicht wahr? Zum Kauern fehlen ihm wohl die deutlich sichtbaren Knie, die er beugen könnte. Deshalb stehen ja die Hasen auch nicht auf den Wiesen, sondern sitzen (wie Mäuse, aus demselben Grund).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.01.2014 um 06.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#24771

Es soll stark geregnet und Wellen von mehr als zwölf Metern Höhe gegeben haben. (sueddeutsche.de 7.1.14)

Das kommt mir nicht ganz richtig vor. Zwar handelt es sich in beiden Fällen um das "formale Subjekt" es, insofern ist grammatisch alles in Ordnung, Aber für mein Gefühl ist das eine es an die Gruppe der Witterungsimpersonalia gebunden, das andere an die feste Einzelverbindung es gibt. Daher das ganz leichte Unbehagen wie bei einer Katachrese.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.04.2014 um 09.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#25632


Er ist einer der treffsichersten Schützen bei diesem Wurf, der besonders durch das Zurückfallen in der Wurfbewegung schwer zu verwandeln ist, jedoch durch den geschaffenen Platz zwischen Werfer und Verteidiger auch schwerer zu verteidigen ist. Markant ist bei Nowitzki das Anheben seines Knies bei diesem Wurf, was das Verteidigen noch weiter erschwert. Außerdem ist Nowitzki dazu fähig, diesen Wurf nicht nur aus dem Low-Post, sondern auch aus der Mitteldistanz und aus dem High-Post zu treffen. (Wikipedia)

Ist der Wurf zu verteidigen oder nicht vielmehr der Korb gegen den Wurf? Und wird der Wurf getroffen?

Ist hier eine Aktantenvertauschung im Gange, die vielleicht zu einer dauerhaften Veränderung der Verbkonstruktion und dann auch der Verbbedeutung führt?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 19.04.2014 um 23.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#25635

Etwas ähnliches (bzgl. Valenz) habe ich heute auch im Mannheimer Morgen gelesen (19.4.2014, Seite 25):

Angeklagt sind drei Taten.
Die Tat ist als versuchter Mord in Tateinheit mit Raub angeklagt.
...
Zudem kann die Kammer bei Angeklagten, die einen Hang zu schweren Straftaten haben oder für die Allgemeinheit gefährlich sind, Sicherungsverwahrung anordnen.

Wer oder was ist denn nun angeklagt, der Täter (der/die Angeklagte) oder die Tat (das Angeklagte)?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.05.2015 um 08.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#28767

In der heutigen Linguistik rückt der gesellschaftliche Bezug zur Sprache immer stärker ins Blickfeld. (...) Die Sprachwissenschaft wird immer mehr zu einer praxiswirksamen Disziplin. (Karl-Ernst Sommerfeldt/Herbert Schreiber: Wörterbuch zur Valenz und Distribution deutscher Adjektive. Leipzig 1974:9)

Zum guten Ton der Wissenschaftsprosa der DDR gehörte das einleitende Lippenbekenntnis zur „gesellschaftlichen“ Relevanz. Typisch ist auch der verdoppelte Komparativ: immer stärker, immer mehr.

Das Buch selbst ist nutzlos, und man findet noch 40 Jahre später völlig unbenutzte Exemplare in den Bibliotheken. Nur als historische Dokumente einer unerklärlichen „Valenz“-Krankheit noch interessant, wie im Westen die Produkte des Instituts für deutsche Sprache.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.06.2015 um 10.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#29179

Ich weiß nicht, ob ich es schon einmal gesagt habe: Bei Konstruktionen wie hoffen auf, vertrauen auf, sich verlassen auf, sich freuen auf ist die Präposition "valenzgebunden", d. h. man hat keine Wahl, der Verb regiert die Präposition. Daraus folgern manche, die Präposition habe hier keine Bedeutung. Nun fällt aber auf, daß die so konstruierten Verben eine gemeinsame Bedeutung haben (eine Art Zukunftszugewandtheit, auch Zuversicht – ich will nicht versuchen, das hier näher zu definieren). Die Präposition "paßt" dazu, man kann also nicht gut sagen, sie habe keine Bedeutung. Ein Beweis ist, daß neue oder frisch entlehnte Verben aus derselben Bedeutungsgruppe in dasselbe Muster eingespannt werden.
Etwas ähnliches kann man bei den verbregierten Kasus feststellen; nicht nur die freien Kasus haben Bedeutung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.07.2015 um 06.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#29568

In Valenzgrammatiken wird zum Beispiel erörtert, ob in folgendem Satz der Student oder sein Arbeiten fleißig ist:
Der Student arbeitete fleißig.
Man formuliert Testsätze:
Der Student arbeitete. Das Arbeiten geschah fleißig.
Das ist der sog. "geschehen-Test", auf den manche ziemlich stolz sind. Was soll man dazu sagen? Es klingt irgendwie deutsch, aber man kann auch nicht sagen, ob es richtig oder falsch ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.08.2015 um 06.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#29605

Ein Problem, mit dem die Valenzgrammatik nicht fertig wird, ist der sogenannte unter- und überwertige Gebrauch der Verben.
Nehmen wir als Beispiel die Verben mit dem Präfix be-. Diesem wird ja eine transitivierende Wirkung zugeschrieben, so daß die Präfixverben in besonderem Maße ein obligatorisches Akkusativobjekt zu verlangen scheinen. Valenzgrammatiker leiten die Ergänzungsbedürftigkeit gern "logisch" ab: Man kann nicht besuchen, ohne jemanden zu besuchen usw., aber das klappt nicht. Denn schon bei Besuche machen wird die Notwendigkeit einer Ergänzung nicht mehr verspürt, obwohl es "logisch" (sachlich) dasselbe ist.
Aber es kommt noch mehr hinzu: Unsere beyden Freunde blieben nun noch ein paar Tage zu Rothenbeck, besuchten und wurden besucht. (Jung-Stilling: Lebensgeschichte. Darmstadt 1976:219) Und es gibt unzählige vergleichbare Sätze. Man hat versucht, solche Fälle als Sonderbedingungen zu ordnen, aber das führt nicht weiter. Der Arzt behandelt vormittags, der Arzt behandelt nicht mehr usw. - das ist jederzeit möglich und widerlegt die "logische" Begründung der Valenz, die in Wirklichkeit eine naive "Standardanalyse" von Wirklichkeitsausschnitten ist (von mir unter diesem Titel behandelt).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.09.2015 um 17.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#29913

Aktantentausch:

sprengen ist ja klärlich ein Kausativ zu springen, und tatsächlich sprengte der Reiter ursprünglich das Pferd. (Vgl. galoppieren.) Dann wurde das selbstverständliche Objekt weggelassen, und der Reiter sprengte durchs Burgtor. Noch später sprengte auch das Pferd selbst, statt ordnungsgemäß zu springen.

Der Sprengel ist der Pfarrbezirk, soweit eben der Weihwassersprenger (sprengil, Aspergill) des Bischofs reicht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.12.2015 um 06.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#30746

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#29605

Funktionsverbgefüge, Streckverben und überhaupt Substantivierungen sind manchmal kaum zu umgehen, weil andere Möglichkeiten der Intransitivierung verbaut sind. Das wird jeder schon gefühlt haben. Besuche machen, weil ich besuche nicht geht usw. So auch einen Verdacht haben/hegen, wegen *ich verdächtige. Es scheint kein Verzeichnis dieser Fälle zu geben.
Nur über die Fachsprachen wird der unterwertige Gebrauch sporadisch üblich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.12.2015 um 10.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#30919

Es ist doch eigentlich seltsam, daß wir nicht einfach sagen das ist best, sondern umständlich am besten, aber wenn wir es attributiv gebrauchen, müssen wir zu best zurückkehren. Und warum sagen wir nicht einfach wie die alten Römer jemanden Präsidenten wählen, jemanden Schnecke machen? Warum in aller Welt machen es sich die Russen wieder schwerer als wir, wenn sie einfach sagen wollen, daß jemand Architekt werden will? Da müssen sie den Instrumental(!) benutzen: statj architektorom.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 17.12.2015 um 17.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#30921

Fast alle slawischen Sprachen außer Serbokroatisch benutzen "werden" bei Berufen mit dem Instrumental. (Serbokroatisch benutzt den Nominativ. Neubulgarisch und Mazedonisch haben keine Substantiv-Kasusendungen mehr.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.12.2015 um 05.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#30924

In einigen neueren Grammatiken wird der Dativ in mir ist kalt als vom Adjektiv regiert aufgefaßt (Adjektivvalenz). Richtiger wäre es, ihn von der ganzen Prädikation abhängig zu machen. Es gibt nämlich kein mir kalt, mir langweilig usw. Das ist also nicht vergleichbar mit zufrieden mit usw. Nur bei diesen wirklich valenzgebundenen Adjektiven sind auch sowohl Vor- als Nachstellung möglich: Ich bin zufrieden mit dir/mit dir zufrieden.
Das Adjektiv in solchen subjektlosen Sätzen hat gewissermaßen selbst Subjektfunktion. Mir ist kalt = Mir ist Kälte (auch wenn man das nicht sagt). Daher auch die orthographische Unsicherheit bei Mir ist angst/Angst, bange/Bange. (Die Reformer haben daran gedreht, aber das Problem ungelöst zurückgelassen, die Wörterbücher haben dann selbst entschieden.)
Die Engländer sagen kurzerhand I am cold, und eine mir besonders vertraute Person mit englischsprachigem Migrationshintergrund fragt mich auch nach etlichen Jahrzehnten manchmal noch, ob ich warm bin.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 18.12.2015 um 17.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#30932

Ich bin schlecht ~ mir ist schlecht (spanisch: soy malo ~ estò malo)
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 18.12.2015 um 19.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#30934

ital.: sono male – ich bin schlecht; sto male – mir ist schlecht

port.: sou mal – ich bin schlecht; estou mal – mir ist schlecht
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.12.2015 um 06.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#30938

Die "Adjunktoren" (IDS-Grammatik und Umfeld) als und wie sind neuerdings stärker beachtet worden, aber nicht hinreichend. Wenn ich z. B. recht sehe, fehlt unter den "Satzbauplänen" in der Dudengrammatik das Muster Er arbeitet als Koch. Genau genommen ist dieser Satz sogar zweideutig, was sich allerdings in unterschiedlicher Betonung zeigt. als Kóch arbeiten ist die Spezifikation von arbeiten, und der Adjunktoranschluß ist valenzgebunden. Der Sinn läßt sich durch einen Kontrastsatz wie als Kéllner arbeiten verdeutlichen. Man könnte aber auch eine etwas ungewöhnliche Wortstellung annehmen und den Satz Er als Koch arbeitet zugrunde legen. Kontext: Die Kellner streiken, er als Koch arbeitet. Wie immer in solchen Fällen könnte man einen Appositivsatz bilden: Als Koch, der er ist, arbeitet er. Andere Sprachen kommen ohne solche Markierungen aus, mit Sütterlin könnte man von "unreinen" Prädikativen und Attributiven sprechen. Sie dienen der Verdeutlichung und gehören in den weiteren Umkreis des analytischen Sprachbaus.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 21.12.2015 um 19.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#30970

Wenn man schnell zwischendurch was hinwirft... (Es kam mir gleich so komisch vor.) estoy malo sollte es richtig heißen. Soy pecador! (und habe schon wieder ein Sonderzeichen nicht zur Hand)
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 22.12.2015 um 00.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#30971

Wichtig ist, daß in diesen Sprachen unterschiedliche Verben für dauernd sein und für vorübergehend sein zu benutzen sind.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.12.2015 um 04.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#31089

Sein Einfluss reichte (...) bis hin zu König George V., dem er freundschaftlich verbunden war und viele Reden schrieb. (FAZ 30.12.15)

Woher das leichte Unbehagen? Der erste Dativ ist vom Adjektiv verbunden regiert, der zweite ist frei und kann daher nicht mit dem ersten koordiniert und dann eingespart werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.03.2016 um 09.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#31954

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#28767

In der DDR war die Sprachwissenschaft immer schon "kognitiv", weil man ja sowieso die staatsmarxistischen Sprüchlein aufsagen mußte. In der Gramatik von Sommerfeldt/Starke las man zum Beispiel:

"Die Sachverhalte werden im Bewußtsein als Aussagen widergespiegelt."

Beneidenswert einfach.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 14.03.2016 um 16.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#31957

Vielleicht stehe ich ja immer noch unter dem Einfluß der DDR-Schule, denn ich frage mich, wie sollte man es auch sonst sagen? Höchstens, daß es eine Trivialität wäre: Ein Sachverhalt ist eigentlich das gleiche wie eine Aussage. Oder war das mit der Einfachheit gar nicht ironisch gemeint?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.03.2016 um 17.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#31958

Doch, es war insofern ironisch, als hier Probleme, über die jahrtausendelang diskutiert wurde, mit einer Metapher zugedeckt werden, einer bloßen Sprachregelung, mit der eigentlich gar nichts erklärt wird. Was Erkenntnis ist und wie sie "zur Sprache kommt", ist ja nicht leicht zu verstehen, was soll da die "Widerspiegelung"?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 14.03.2016 um 17.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#31960

Ja, das stimmt, in der DDR wurde immer und überall die objektive Realität im Bewußtsein widergespiegelt. Das mußte ständig betont werden, denn es sollte kein Zweifel am Materialismus aufkommen. Dieses "im Bewußtsein widerspiegeln" kann man wohl einfach als "denken" übersetzen. Also trivial.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.03.2016 um 17.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#31961

Ein wirklicher materialistischer Monismus wurde aber auch verteufelt. Jedem Leser mußte auffallen, daß ganz altmodisch auf der Trennung zwischen Materie und Bewußtsein bestanden wurde, die dann freilich irgendwie "dialektisch" vermittelt sein sollten. Daher wurde auch der Behaviorismus verurteilt, für den "Bewußtsein" nur ein (überflüssiges) Wort ist. Darin war man sich mit den westlichen Metaphysikern einig.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 15.03.2016 um 00.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#31962

Der Marxismus a la DDR (laut Philosophisches Wörterbuch, G. Klaus/M. Buhr, VEB Verlag Enzyklopädie 1971) beanspruchte für sich, der einzige konsequente materialistische Monismus zu sein, d. h. die Einheit der Welt in ihrer Materialität zu sehen. Er bestritt nicht die Existenz des Bewußtseins, faßte es aber als sekundär und als Widerspiegelung der objektiven Realität auf.

Über den Behaviorismus steht im gleichen Buch, "daß er jede Aussage, die über die Beschreibung des Verhaltens bzw. der Verhaltensweisen der Menschen und Tiere hinausgeht, als unwissenschaftlich (metaphysisch) ablehnt". Der Behaviorismus behaupte, es gebe objektiv gar kein Bewußtsein bzw. es sei zumindest unmöglich, darüber wissenschaftliche Aussagen zu machen, er verabsolutiere den Verhaltensbegriff, die Grundfrage der Philosophie beantworte er falsch, er sei daher agnostizistisch, er setze menschliches Denken mit einem Rechenautomaten gleich. Skinner wird in dem Artikel nicht erwähnt, obwohl sein Hauptwerk schon 14 Jahre vorher (1957) fertig war.

Na ja, soweit in Kurzform. Sie sehen, ich werfe kein Buch weg, selbst wenn es nicht gerade als Lehrbuch taugt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.03.2016 um 07.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#31963

Sehr schön, ja, ich habe dieselben Bücher, aber, wie gesagt, von einigem habe ich mich inzwischen doch getrennt.
Noch heute gibt es auch im Westen Autoren, die eine sogenannte "kritische" Psychologie treiben und deshalb glauben, sich auf zu Hause ziemlich vergessene Sowjet-Psychologen wie Rubinstein, Leontjew usw. berufen zu sollen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.05.2016 um 12.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#32508

In biographischen Angaben liest man oft: lebt und arbeitet in München. Mir kommt das leicht zeugmatisch vor, weil der Betreffende in München nicht zweierlei tut: leben und arbeiten. Leben ist mehr oder weniger dasselbe wie sich aufhalten, während man durchaus in München sein kann, ohne zu arbeiten.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 06.05.2016 um 17.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#32515

Man kann auch in München arbeiten, ohne dort zu leben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.08.2016 um 12.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33021

Die Rede von den "Leerstellen" und der "Ergänzungsbedürftigkeit" setzt eine ziemlich sonderbare und einseitige Perspektive voraus.
Natürlich ist Das Buch steht in oder Dieser Vogel ähnelt unvollständig - aber wann tritt dieses Phänomen auf? Vielleicht bei der Entzifferung alter Inschriften oder beim Zusammenpuzzeln von Stasiakten. Für den Sprecher ist es irrelevant. Er weiß ja, was er sagen will, und hört auf, wenn er es gesagt hat, aber nicht irgendwann vorher. Vgl. Haupteintrag Abschnitt 3.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.08.2016 um 09.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33035

Aus einer Seminarvorlage:

Valenzstellen sind häufig durch Nebensätze oder Infinitivphrasen besetzt:
(...)
„Du hast nie Zeit für mich!", beschwerte sie sich.


s. beschweren hat zwar eine Valenzstelle (Präpositionalobjekt mit über), aber wörtliche Rede kann diese Stelle nicht ausfüllen, weil es kein redeeinleitendes Verb ist. Zu interpolieren wäre hier etwa: „sagte sie, und das war eine Beschwerde“.
 
 

Kommentar von Andreas Blombach, verfaßt am 07.08.2016 um 21.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33044

beschwerte sich, dass kommt allerdings auch sehr häufig vor (ebenso: beschwerte sich, er sei u.ä.). Wenn man das valenztheoretisch beschreiben möchte, müsste man darüber wohl als fakultatives Korrelat betrachten. – Insofern hätte ich auch nichts gegen das Beispiel aus der Seminarvorlage einzuwenden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.08.2016 um 15.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33058

Er ist in Leipzig.

Manche Grammatik wollen hier kein Kopulaverb sehen, sondern ein Vollverb, wegen des Synonyms sich befinden usw.

Vgl. aber

Wohnen tut er in Leipzig.
*Sein tut er in Leipzig.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 10.08.2016 um 17.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33063

"Sein" plus Ortsangabe sagt nichts über die Dauer des Aufenthaltes.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 10.08.2016 um 18.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33064

„Du hast nie Zeit für mich!", beschwerte sie sich über seine Ablehnung.

Wo wäre hier die Valenzstelle?
Solche stilistisch schlechten Sätze werden oft geschrieben, wir haben darüber schon diskutiert (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1419#18202).
Indirekte Rede macht so etwas kein bißchen besser.

Wenn man dieses Phänomen sprachlich beschreiben will, muß man es nur richtig deuten, zum Beispiel eben als Ellipse. Man darf aber nicht wegen eines Satzes wie „Gib her!", lachte er aus lachen ein transitives Verb wie sagen machen.

Besonders junge Journalisten finden solche Formulierungen ganz toll, dabei kümmert es sie rein gar nicht, ob bei dem gebrauchten Verb noch eine Valenzstelle frei ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.08.2016 um 18.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33065

Ein kleines Problem liegt darin, daß die wirklich redeeinleitenden Verben wie sagen, antworten auch nur sehr begrenzt als akkusativregierend gelten können. Kaum etwas anderes als Pronominales (das, etwas...), also Dummies eben für die direkte Rede, ist möglich. Der Biblizismus er antwortete und sprach trägt dem Rechnung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.09.2016 um 06.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33387

Nach einer Beobachtung von Heide Wegener:

Der Anzug steht dir.
*Der Anzug sitzt dir.
Der Anzug sitzt.
*Der Anzug steht.


Bei stehen kann man, muß man aber nicht hinzufügen, wie er steht (gut). Bei sitzen ist es beschränkt möglich (wie angegossen).

der Sitz des Anzugs
der *Stand des Anzugs


Man könnte paraphrasieren:

stehen = passen zu
sitzen = passen

Bei passen wird die Homonymie durch die unterschiedliche Konstruktion aufgelöst.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.10.2016 um 09.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33480

Man nimmt an, daß die Kasus ursprünglich nicht vom Verb regiert wurden, sondern jeweils ihre eigene (meist räumliche) Bedeutung hatten und dementsprechend "frei" hinzugefügt wurden. Wegen gewisser Affinitäten entwickelten sich daraus gewohnheitsmäßige Kollokationen.

Wie bei besuchen gezeigt, empfinden wir die Hinzufügung des Patiens als notwendig, bei Besuche machen aber nicht, obwohl es denselben Vorgang beschreibt. (Überhaupt bei Substantivierungen.)

geben fordert einen Dativ, aber ursprünglich könnte es gesättigt gewesen sein wie eine Gabe machen, und essen könnte so etwas bedeutet haben wie speisen.

Der Übergang verläuft über Zwischenstufen.

Man betrachte die folgende Reihe:

jdm. einen Kuchen geben, schenken, schicken, kaufen, besorgen, bestellen, backen, verzieren, einpacken

Links ist die Ergänzungsbedürftigkeit am klarsten, dann nimmt sie ab bis zum "freien Dativ" (aber alle sind D. commodi). Man setzt Zwischenstufen wie "valenznotwendig" und "valenzmöglich" an. Aber es ist klar, daß es keine scharfe Grenze zwischen Ergänzungen und Angaben geben kann.
 
 

Kommentar von Bernhard Strowitzki, verfaßt am 11.10.2016 um 16.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33515

Ich gebe gerne.
Wir geben nichts.
geben und nehmen.
Paul gibt. (beim Kartenspiel)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.10.2016 um 17.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33517

Das gehört zum "unterwertigen Gebrauch". s. Haupteintrag.

Aus meiner Beispielsammlung:

Hier fällten die Biber und bauten ihre kunstvollen Dämme. (Georg MEISTER u.a.: Die Lage des Waldes. Hamburg 1984:135)
Die Börse eröffnete zwar noch gut behauptet; später gaben die Notierungen jedoch wieder nach. (SZ 9.10.86:1)
So kann Amerika nicht führen. (ZEIT 2.7.82)
(Was hat Hitler in seiner frühen Zeit in München gemacht?) Er hat gegessen, getrunken, gewohnt. (PRECHTL in Katalog: 11)
Unsere beyden Freunde blieben nun noch ein paar Tage zu Rothenbeck, besuchten und wurden besucht. (JUNG-STILLING: Lebensgeschichte. Darmstadt 1976:219)
Im Alltag hat der Bundespräsident schöne Aufgaben, er versöhnt, besucht und belehrt. (FAZ 19.12.11)
Sie war mit einigen gleichalterigen Knospen bekannt geworden, besuchte und wurde besucht, machte sich mit ihren Freundinnen kleine Kuchen von Milch und Semmel mit geringer Zutat von Zucker oder von Korinthen, küßte und stritt sich mit ihnen und trieb's wie andere Kinder. (W.v. Kügelgen: Jugenderinnerungen eines alten Mannes.)
Wer heißt überhaupt? Man nennt ihn. (MORGENSTERN)
Die beiden Elemente stehen nicht neben einander, sie verhalten sich zueinander. (GAUGER in LIPKA/GÜNTHER:285)
Überhaupt hat man von der Schroffheit, mit der man zuerst behauptete, abgehen müssen, als man versuchte zu beweisen. (Hugo Schuchardt in S.-Brevier. Darmstadt 1976:82)
Ein Fahrzeug baggert und schaufelt, ein anderes lädt auf und bringt weg. (Peter SCHNEIDER: Der Mauerspringer. Darmstadt 1984:8)
Mancher junge Wissenschaftler wagt in dieser Zeit den mutigen Schritt in die unternehmerische Praxis. (...) Sommer hat vor rund drei Jahren gegründet. (FAZ 1.2.86)
Die Frau erwartet wieder. (FONTANE: Der Stechlin: Kap.1)
Man dividiert durch einen Bruch, indem man mit seinem Kehrwert multipliziert. (H. KREUL: Mathematik. Thun/Zürich 1986:33.)
Der Historismus führt. (Otto FLAKE: Nietzsche:181)
daß das Problem weiterhin beunruhigt. (WASSERMANN/PETERSEN (Hg.): Recht und Sprache. Heidelberg 1983:24)
Ich war damals gezwungen, eine Einstellung zu der Möglichkeit eines frühen Todes zu finden, und habe darüber auch veröffentlicht. (FAZ 9.1.82:13)
Diese Fotografien erinnern. Die Zeit hat sie ihrer Aufgabe, zu appellieren, entledigt. Sie klagen nicht an. (FAZ 10.12.83:Beilage)
Jetzt darf ich anwenden. (HERDER: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Stuttgart 1979:9)
Wer hat, der hat.
Der Mensch erkennt, um die Welt zu verwandeln. (H. MÜLLER-SCHWEFE: Technik als Bestimmung und Versuchung. Göttingen 1965:8)
Mit der Annahme eines "Nachahmungstriebes" ist nicht viel gedient. (Rolf OERTER: Entwicklungspsychologie:131)
Nicht immer, wenn der Leser "Aha!" sagt oder denkt, hat er wirklich verstanden. (Ulrich ENGEL: Syntax der deutschen Gegenwartssprache. Berlin 21982:43)
Schenken, schenken, immer nur schenken - und wer schenkt mir? (SZ 1.12.84 - sagt ein Weihnachtsmann auf einer Witzzeichnung)
Seine Frau arbeitet und verdient. (Thomas BERNHARD: Verstörung:53)
Kinderausstatter hoffen. (SZ 16.9.1985 - Titel, Wirtschaftsteil)
Eigentum verpflichtet. (GG Art. 14,2)
So ist über den Film, der nach meinem Roman "Das Kaninchen bin ich" 1965 in der DDR gedreht wurde, ein Minister gestürzt. Das schmeichelt. (Manfred BIELER in: Die Welt der Literatur 16.1.1969:10)
Nun mußte der Junge im Garten pflanzen und begießen, hacken und graben. (Grimms Märchen: Eisenhans; Insel III: 36)
Die weite Reise, Kleidung, Ausrüstung - das alles kostet doch. (FAZ 9.1.97)
Der Gegensatz zwischen Esoterik und Exoterik definiert ein Spannungsverhältnis, in dem sich jedes aktuelle Philosophieren befindet, und zu dem es sich verhalten muß. (Martens/Schnädelbach [Hg.]: Philosophie I, Reinbek 1993:31)
Wertet der Euro weiter auf, werden bald Klagen über die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft einsetzen. (FAZ 16.7.02)
Der Euro-Kurs notiert rund 15 Prozent höher als zu Jahresbeginn. (FAZ 16.7.02)
Selbst über die Repressalien läßt sich nur vermuten. (Hilde Domin in Dies. (Hg.): Doppelinterpretationen. Frankfurt 1966, Fn.5)
Sonst aber schrieb sie, darunter ihre großen Arbeiten über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und Über die Revolution. (SZ 31.5.95)
Zum Klavierspielen muß man geboren sein, denn wenn man nicht geboren ist, kann man nicht Klavier spielen.
Es ist eine alte Erfahrung, daß derjenige, der nicht mit der Zeit geht, mit der Zeit gehen muß. (SZ 2.3.93)
Der so genannte Tracer bindet innerhalb kürzester Zeit an die Hirnzellen. (Gehirn und Geist Dossier 1/2003)
Stabilo baut ab – Schreibgeräte- und Kosmetik-Hersteller verlagert nach Tschechien (Titel und Untertitel NN 5.2.05)
Christian von Bechtolsheim empfängt auf dem Gut seiner Frau. (SZ 15.5.09)
Geben ist seliger denn nehmen.
Wer nicht bloß handelt und sich verhält, agiert und reagiert, sondern auch innehält....(Lorenz, Kuno: Elemente der Sprachkritik. Frankfurt 1970:13)
Aber die Energiewende kostet. (SZ 11.9.09)
„Gerade ein Taxi darf ja nicht lange ausfallen, das kostet“, sagt Grätz. (Focus 8.2.14)
Er spart.
Die Griechen haben nicht übersetzt. (Karl Büchner, Hg.: Latein und Europa. Stuttgart 1978:131)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.10.2016 um 04.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33634

Um die Valenz eines Verbs festzustellen, verwendet man den Pronominalisierungstest, entsprechend der uralten Schultradition der Erfragung ("wen oder was?"). Er ist aber nur sehr begrenzt geeignet. Nehmen wir noch einmal das Beispiel:

Soll Brischidd vor die Hunde gehen? – Geht sie das? (Erich Loest: Es geht seinen Gang. Gütersloh o. J.:205)
(http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=989#26548)

Dies zeigt, daß das, was und es auch dort eingesetzt werden, wo eine volle Nominalgruppe als Objekt nicht in Frage kommt. gehen ist ja nicht transitiv.

s. auch http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33065
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.10.2016 um 06.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33721

Zur "Adjektivvalenz" sagt das IdS (GRAMMIS) ganz richtig:

"Adjektive selegieren bestimmte Nomina, um mit ihnen komplexe Adjektivphrasen zu bilden."

Die Dudengrammatik schreibt jedoch (wie viele andere, auch Eichinger vom IdS in Hoffmanns Hb. dt. Wortarten):

"Adjektive fordern gewöhnlich mindestens eine Ergänzung, haben also Valenz." (366)

Einstellig sei: Susanne ist klug.

usw.

Das ist offenbar ein tiefgreifendes Mißverständnis. Es entsteht ja keine komplexe Adjektivphrase.

Die Ergänzungsbedürftigkeit eines Adjektivs durch Angabe eines Trägers der jeweils bezeichneten Eigenschaft ist etwas ganz anderes. Nach stoischer und scholastischer Lehre fordert albus einen Träger, für sich allein ist es unselbständig. Man könnte sagen, daß die Kategorialgrammatik das aufgreift mit ihren "Argumenten", aber das ist nicht der theoretische Rahmen der Valenzgrammatik.

Aus demselben Grund gehört auch das Subjekt nicht zu den Ergänzungen des Verbs; es ist nicht Teil der Verbalphrase. Nur in der Kategorialgrammatik ist es eines von dessen "Argumenten". (Tesnière war hier ein Opfer seiner Theatermetapher.)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 31.10.2016 um 12.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33723

Das leuchtet mir schon ein, ich finde auch, das Subjekt hat nichts mit einer Valenz von Verben zu tun, ebenso wie das Substantiv, auf das sich ein Adjektiv attributiv oder prädikativ bezieht, nichts mit der Adjektivphrase bzw. -wertigkeit zu tun hat.

Aber im Haupteintrag kommentieren Sie ja gerade über Verben: "Das Subjekt wird gewöhnlich als Ergänzung („Nominativergänzung“) mitgezählt". So lese ich es auch in Wikipedia und anderen Grammatiken. Wer es bei Verben so sieht, ist nur konsequent, wenn er Adjektive entsprechend behandelt, oder?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.10.2016 um 14.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33724

Ich habe eine Ansicht referiert, die ich noch nie geteilt habe.
Die Valenzgrammatiker begründen ihre Theorie damit, daß es subjektlose Verben gibt, das Subjekt also "subklassenspezifisch" sei und daher im Valenzrahmen des Verbs verzeichnet werden müsse.

Die neuere generative Grammatik läßt das Subjekt vom INFL-Knoten abhängen, was nur heißt: vom Satz, nicht vom Verblexem. Sonderstellung des Subjekts wird auch von Trubetzkoj, Roman Jakobson, dem Indogermanisten Hermann Jacobi und vielen anderen hervorgehoben; Panini haben wir schon besprochen: Subjekt ist kein karakam.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.11.2016 um 09.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33754

GRAMMIS vom IdS ist ein Labyrinth, aus dem man nie wieder herauskommt.

Unter "Rektion" liest man:

"Verben regieren durch ihre Valenz Anzahl und Art ihrer jeweiligen Komplemente:
Peter (Ksub) schuldet seinem Freund (Kdat) einen Gefallen (Kakk). / Sie (Ksub) fährt dorthin (Kadv)."

Und unter "Subjekt":

„Das Subjekt regiert das finite Verb in der Person und kongruiert mit ihm im Numerus.“
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.11.2016 um 16.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33792

Das IdS teilt auf Anfrage mit:

"Die grammis-Projektgruppe ist zurzeit im Begriff, in einem neuen Projekt (http://www1.ids-mannheim.de/gra/projekte2/grammatische-terminologie.html) die grammis-Terminologie grundlegend zu überarbeiten. Wenn wir bei den Bereichen Valenz und Rektion angekommen sind, werden wir Ihren freundlichen Hinweis berücksichtigen."

Schön, aber bemerkenswert bleibt es doch, daß das IdS in einem Bereich, den es mit zwei sehr großen und teuren Wörterbuchprojekten (VALBU und "Verben in Feldern") bedacht und in vielen weiteren Texten bearbeitet hat, eine so fundamentale Unstimmigkeit unter die Leute bringt – offenbar seit Jahren unbemerkt. Aber es bestätigt sich, was ich vor 32 Jahren in einem Vortrag und Aufsatz vorgeführt habe: der Valenzbegriff hat nichts als Verwirrung gestiftet. Alles, was er möglicherweise erfassen kann, ist in der Zeit vor seiner Einführung ebenfalls erfaßt worden, und zwar durchweg besser. Selbst im Lehrerhandbuch ("Die deutsche Sprache der Gegenwart" von Sütterlin, 3. Aufl. 1910) findet man sich besser zurecht.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.11.2016 um 07.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33795

Noch einmal zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#32508

Der Autor ist Finanzanalytiker in Stuttgart.

Das kommt mir ebenso schief vor. Man kann Oberbürgermeister in Stuttgart (oder von Stuttgart) sein, aber nicht Finanzanalytiker in Stuttgart.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.11.2016 um 05.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33822

Manche Linguisten kommen sich sehr wissenschaftlich vor, wenn sie den mathematisch-logischen Begriff Argument verwenden. In der Sprache gibt es Verben, Kasus, Rektion, Ergänzungen, keine "Argumente". Die Mathematik wiederum weiß nichts von Kasus, Verben usw. Die Vermischung und das Schillern zwischen Form und Bedeutung hat der Sprachwissenschaft nicht gut getan.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.11.2016 um 05.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33896

Wenn Valenz "verbsubklassenspezifische Rektion" ist (Engel), müßte es subjektlose Sätze geben, damit das Subjekt zur Valenz gehört.

In der Dudengrammatik von 1995 gab es eine Liste von 36 Satzbauplänen, alle mit Subjekt. Das hätte sich ökonomischer darstellen lassen.

In späteren Auflagen kamen noch die drei subjektlosen Pläne hinzu: Mich hungert, Mir ist kalt, Mich ekelt vor (so 2016). Allerdings ist hier jeweils das formale Subjekt es möglich.

Ganz subjektlos ist allenfalls: mir liegt (sehr) daran, daß...

(Anders als mir liegt viel daran.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.11.2016 um 19.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33910

Peter Eisenberg will im zweiten Band seiner Grammatik zeigen, daß das Prädikatsnomen das Subjekt lexikalisch regiert, und zwar im Sinne eines weitgefaßten Rektionsbegriffs (der nicht nur Kasus, sondern auch die Form von Nebensätzen betrifft):

Dass sie schreibt, ist ein Erfolg.
* Dass sie schreibt, ist ein Brief.
Dass sie schreibt, ist ein Erfolg.
* Ob sie schreibt, ist ein Erfolg.“


Aber warum so und nicht so:

Dass sie schreibt, ist ein *Brief.

Es liegt ja offensichtlich ein Kategorienfehler bei der Wahl des Prädikatsnomens vor.

Übrigens ist auch der "Erfolg" cum grano salis zu verstehen, denn der Inhaltssatz beschreibt nur einen Sachverhalt, der dann bewertet wird, etwa = „finde ich gut“.

Eisenbergs Argumentation ist gleichwohl oft zitiert und gutgeheißen worden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.12.2016 um 08.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34063

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33896

Ulrich Engel erwähnt als subjektlos auch Fälle wie

Vom Kuchen ist noch da.

Das ist so ähnlich wie

Seines Bleibens war nicht länger.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.12.2016 um 08.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34064

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33634

Die Begrenztheit des Pronominalisierungstests sieht man auch an solchen Beispielen:

Wie meinen Sie?
So sagt man.


usw., wo ja unmöglich wäre: auf eine bestimmte Weise meinen/sagen.

Dazu Paul III: „§ 212. Einige Verba können als Objekt normalerweise nur einen Satz zu sich nehmen oder ein satzvertretendes Pronomen oder substantiviertes Adjektivum. So denken, vgl. was denkst du?, das hätte ich nicht gedacht, ich denke nur Gutes von ihm.“ usw.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 09.12.2016 um 18.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34068

Eigentlich kennt ja jeder das Subjekt, es ist nur ausgelassen. Es ist unerheblich, daß die Auslassung nicht ganz eindeutig ist:

(Ein Stück) vom Kuchen ist noch da.
(Der Zustand) seines Bleibens war nicht länger.

Vom Kuchen und Seines Bleibens sind zwar keine Subjekte, gehören aber jeweils zur Subjektphrase.
Ich denke, man sollte nicht von subjektlosen, sondern von elliptischen Sätzen sprechen.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 09.12.2016 um 20.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34069

Man kann nicht auslassen, was nie dagewesen ist. Der Zustand seines Bleibens war nicht länger – wer hätte das jemals so gesagt?
 
 

Kommentar von Serjosha Heudtlaß, verfaßt am 09.12.2016 um 22.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34070

Blatz (II, 14f.) faßt diese Konstruktion als "partitives Subjekt" und spricht davon, daß der Partitivgenitiv (bzw. die Umschreibung mit von) das grammatische Subjekt vertrete.

Die Vokabel "Vertretung" legt nahe, daß der zu Vertretende von vornherein nicht anwesend ist, und konzentriert sich auf die Deskription. Das spart ontologisches Kopfzerbrechen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 10.12.2016 um 00.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34072

Es ist nie dagewesen, aber in irgendeiner Form muß ein Subjekt von Anfang an mitgedacht worden sein. Welchen Sinn sollte es sonst haben, seines Bleibens anstatt sein Bleiben zu sagen? Dies läßt sich auch nicht mit dem Partitiv erklären.

Bei vom Kuchen kann man wohl von einer Umschreibung des Partitivs sprechen, aber das Wort Umschreibung sagt auch schon, daß es einen Partitiv im Deutschen eigentlich nicht gibt. Für ein einwandfreies Deutsch fehlt m. E. etwas, man fragt doch unwillkürlich, was denn "vom Kuchen"? Sei es ein Teil vom Kuchen oder auch nur etwas vom Kuchen. Vertretung des Subjekts finde ich auch in Ordnung, bedeutet es denn letztlich etwas anderes als Auslassung des Subjekts? Natürlich wird das Subjekt vom Rest der Subjektphrase vertreten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.12.2016 um 05.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34073

Der Begriff der "Ellipse" wird überstrapaziert, auch in der Dudengrammatik nimmt der Abschnitt viel Raum ein.

Eine moderne Wiederbelebung hat die Ellipse der rationalen Grammatik bei den Generativisten mit ihrem "Pro-drop" erfahren. Sprachen, die nicht wie Englisch und Deutsch Pronomina (fast) obligatorisch setzen, müssen es fallen gelassen haben... (genau wie die Chinesen eigentlich flektieren, ohne es zu wissen). Der Grammatiker baut diese Pronomina in seine Ableitungsbäumchen wieder ein. Vor 100 Jahren hat man diese Naivität belächelt.

Übrigens ist der partitive Genitiv bei nicht einfach zu erklären, weil das ja eine Substantivgruppe im Sinne von "nichts" war.

Lieber Herr Riemer, denken Sie auch an den früher so weit verbreiteten "Teilungsgenitiv" bei Verben, z. B. des Weines trinken wie heute noch im Französischen! Glauben Sie, daß die Franzosen dabei immer einen Akkusativ mitdenken, den sie nie erwähnen?
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 10.12.2016 um 22.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34078

Nun gut, lassen wir die Ellipse. Aber man kann nicht nur sagen, was nicht ist. Ich vermisse manchmal eine klare Aussage darüber, was ist.

Hat Engel nun recht damit, daß diese Beispielsätze subjektlos sind?
Sie schreiben, lieber Prof. Ickler, laut Engel "müßte es subjektlose Sätze geben", das klingt distanzierend.

Sind die Beispielsätze also subjektlos oder haben sie ein Subjekt?
Was für ein grammatisches Satzglied ist dieses "partitive Subjekt" als "Vertretung" des grammatischen Subjekts?
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 11.12.2016 um 10.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34083

In ungestelzter, normaler Sprache: Seines Bleibens war ES nicht länger. Vom Kuchen ist noch WAS da.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 12.12.2016 um 16.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34096

Lieber Prof. Ickler, Sie schreiben hier unter #34073 ähnlich wie schon unter "Kognitivismus" (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1370#33941):

"Die Chinesen flektieren im Grunde (in der Tiefenstruktur) genau wie die englischsprachigen Amerikaner, sie wissen es nur nicht."

Ich verstehe leider nicht, wie das gemeint ist, da geht es mir anscheinend wie den Chinesen selbst. Und wieso gerade die Amerikaner unter den Englischsprachigen? Könnten Sie noch etwas mehr dazu schreiben?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 12.12.2016 um 17.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34097

Das war sarkastisch gemeint.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 12.12.2016 um 19.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34098

Oh je, damit habe ich nicht gerechnet. Danke, jetzt hab ich's kapiert.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 13.12.2016 um 01.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34100

Wenn man vom Kuchen etwas, einen Teil ißt, bleibt ein Teil übrig. Das nennt man partitiv, richtig?

Was aber bleibt vom Bleiben übrig, wenn seines Bleibens nicht länger ist, vielleicht kürzer als erwartet? Nichts. Solange, wie er eben bleibt, kurz oder lang, ist sein Bleiben. Da finde ich nichts Partitives, außer daß der Ausdruck einem Partitiv formal ähnlich sieht.

Wenn in einem russischen Satz kein Pronomen verwendet wird, z. B. shdu otwetom - (ich) warte auf Antwort, dann ist mir noch nie eingefallen, daß dieser Satz vielleicht kein Subjekt hat. Die Endung ist so eindeutig, daß das Pronomen im Grunde in der bzw. durch die Endung vorhanden ist.

Gibt es etwa im Schwedischen keinen bestimmten Artikel, nur weil seine Funktion allein durch die Endung gekennzeichnet ist?
Gibt es im Ungarischen keine Präpositionen wie in, auf, aus, ..., nur weil diese allein durch die Endung ausgedrückt werden? (Ob man sie schließlich Prä- oder Postposition oder Kasus nennt, im Prinzip sind sie aber da.)

Aber zurück zum Deutschen. Ob man nun sagt, das Subjekt steckt implizit in der Endung (im Deutschen selten), oder es wurde aus- oder fallen gelassen, es wird durch etwas vertreten (#34070) oder ein formales Subjekt ist möglich (#33896) oder was nicht sonst noch alles, ist das nicht im Grunde alles ein und dasselbe, also Wortklauberei? Ein vollständiger deutscher Satz hat ein Subjekt und ein Prädikat, alles andere sind seltene Sonderfälle, die man sicher unterschiedlich erklären kann.

Daß man bei dieser Betrachtungsweise auch gleich Chinesisch als irgendwo implizit flektierende Sprache bezeichnen könne, halte ich für eine nicht ganz faire Übertreibung.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.12.2016 um 03.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34102

Das Chinesische nach dem Muster des Englischen und dieses als Maßstab von Sprache schlechthin zu verstehen setzt die alte Unsitte fort, gegen die schon die Sprachwissenschaftler des 19. Jahrhunderts ankämpften. Da muß dann auch das Chinesische einen Knoten INFL (Inflection) haben... Das habe ich karikieren wollen.

Der Genitiv drückt das "geteilte Ganze" aus, aber auch allgemein Zugehörigkeit. Obwohl auch der alte Ablativ mitspielt, stehen sich die beiden Bedeutungen sehr nahe. "Weines trinken" und "nicht Brotes haben" zeigen die alten Verwendungen. In idiomatischer Bindung noch erhalten, wie eben "meines Bleibens ist nicht länger" ("es gibt nichts mehr, was zu meinem Bleiben gehört"). Man muß versuchen, sich in die alten Ausdrucksweisen hineinzudenken. Das ist mir zu schwer läßt sich kaum begreifen, aber die "Übersetzung" Für mich gehört das zum Schweren läßt es durchsichtig erscheinen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.12.2016 um 10.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34140

Harm Pinkster: Lateinische Syntax und Stilistik.

Dieses Buch existiert in verschiedenen Ausgaben und Sprachen und wird oft zitiert. Ich habe imnmer wieder versucht, es zu lesen, bin aber nie weit gekommen. Der niederländische Latinist versucht, die Valenzgrammatik auf das Lateinische anzuwenden, mit Beimischungen aus der generativen Grammatik und an Simon Dik angelehnt. Die alten Streitfragen der Valenzgrammatik werden aufgegriffen, aber nicht befriedigend gelöst. Ich habe nie das Gefühl, etwas Neues über das Lateinische zu erfahren. Die "Anwendung moderner linguistischer Theorien" (Verlag) auf die alten Sprachen kann sich doch nicht aufs Terminologische beschränken?

Seltsam ist, daß Pinkster vier Varianten des Verbs esse unterscheidet:

Kopula
Identifikation
Hilfsverb
zweistelliges Vollverb „sich (irgendwo) befinden“

Es fehlt „existieren“, in allen Wörterbüchern die Grundbedeutung.

Pinkster sieht ein Problem darin, daß wir über das Latein keine Muttersprachler mehr befragen können. Das hat die Latinisten bisher nicht gestört, warum sollte es jetzt stören? (Wegen Chomsky, ich weiß schon.)

Bei der Oxford University Press ist der erste Band einer gigantischen lateinischen Syntax desselben Verfassers erschienen.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 02.03.2017 um 15.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34623

Manchmal wäre ein richtiger Instrumental verständlicher: Bei ALDI gesehehen: "Wir handeln mit Verantwortung". Bauern handeln mit Kartoffeln. Es fehlt auch eine Angabe zum Kilo- oder Literpreis.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.03.2017 um 17.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#34624

Der Satz ist schon früher verwendet worden, aber bei ALDI halte ich ein bewußtes Wortspiel für möglich, vgl. Sie fahren mit Abstand am besten (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1162#33489)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.07.2017 um 05.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#35574

Die transitiven Präfixverben, besonders mit be- (beschulen, begutachten) stammen oft aus der Verwaltungssprache und sind recht praktisch. Sie haben sich darum auch so gut eingebürgert (einbürgern...!), daß wir ihren amtssprachlichen Ursprung kaum noch bemerken. Nur beinhalten fällt aus dem Rahmen, weil es nichts anderes bedeutet als enthalten und nicht etwa "mit Inhalt versehen". Es liest sich außerdem schlecht. Ich habe es noch nie verwendet (hoffe ich jedenfalls).
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 04.07.2017 um 10.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#35576

Ich habe gerade gestern über das Wort befürchten nachgedacht, weil über die Nachrichten kam, daß viele Unfalltote "befürchtet" wurden. Man versieht ja auch Tote nicht mit Furcht. Ist es eine ähnliche Ausnahme wie beinhalten? Ist der transitive Gebrauch bei befürchten überhaupt richtig?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 04.07.2017 um 11.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#35577

Ohne beinhalten verteidigen zu wollen, aber der Gebrauch weicht schon deutlich von enthalten ab.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.07.2017 um 11.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#35578

Ich hatte mich etwas zu kurz ausgedrückt, ersetze es selbst teils durch umfassen, usw., je nachdem. Ich wollte nur die Abweichung vom "ornativen" Typ hervorheben. Aber man kommt leicht ganz ohne beinhalten aus, das steht fest.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 04.07.2017 um 15.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#35581

Einverstanden.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 04.07.2017 um 16.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#35584

"beinhalten" ist ein Fachwort für Fußballer und Orthopäden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.08.2017 um 17.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#35911

Das Gewerbegebiet Wildau mit dem A10-Center bleibt während der Bauzeit aus beiden Richtungen erreichbar. Das Verlassen ist jedoch nur in südlicher Richtung möglich. (...)
Relevant ist hier, dass etwas wie *er verlässt ungrammatisch ist, etwas wie das Verlassen aber nicht.“ (Jacques Poitou in Hervé Quintin/François Marillier, Hg.: Nomina und Verba im Zusammenspiel. Tübingen 2014:93)

Mit Bengt Sandberg gesprochen (den Poitou auch erwähnt), ist der objektlose Gebrauch möglich, wenn es ein „Fernobligatorium“ gibt, das Objekt also irgendwo im Kontext genannt oder impliziert ist. Poitou irrt jedoch:

Wenn das so ist, dann sollte man in der Kaderübersicht vermerken, dass er verlässt, aber noch unbekannt wohin.

Jeder, egal ob er verlässt oder verlassen wird, macht eine Trennung durch.

Ich glaube, es ist ein Unterschied, ob man verlässt oder verlassen wird oder ob jemand einfach stirbt.

Man darf nie vergessen, dass der Zeitpunkt des verlassenden, wann er verlässt, und der Zeitpunkt der ausgesprochenen Trennung oft divergieren. Oftmals spielt sich die "Verabschiedung" einfach viel früher ab.


usw. – die üblichen Bedingungen des unterwertigen Gebrauchs.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.10.2017 um 05.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#36569

Immer wieder mal kommen Bedenken auf, ob man so schreiben sollte:

Eine Galaxie rotiert nicht starr wie ein Rad; vielmehr laufen die einzelnen Sterne aus den Spiralarmen heraus und hinein. (Wikipedia Galaxie)

Hinein/heraus können ohne Richtungsadverbial anaphorisch gebraucht werden, insofern fehlt nichts. Aber der Leser bezieht das Adverbial aus den Spiralarmen unwillkürlich auf beides und glaubt einen Augenblick lang an einen Fehler: aus den Spiralarmen ... hinein. Daher wäre und wieder in sie hinein besser, aber leider auch recht umständlich. Ich würde es vorziehen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.11.2017 um 14.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#37020

Zweideutigkeiten entstehen oft dadurch, daß dieselbe Präpositionalgruppe gebunden oder frei vorkommen kann:

Bundeswehr kämpft mit kaputten Panzern (n-tv.de 16.11.17)

Die deutsche Politik scheut sich, der Öffentlichkeit reinen Wein darüber einzuschenken, dass die Bundeswehr bei ihrem Einsatz in Afghanistan auch in Kämpfe mit Verwundeten und Toten verwickelt werden kann. (SZ 18.1.08)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.02.2018 um 03.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#37866

Hans Mommsen lobt den Verzicht, die Vorgänge zu dramatisieren. (FAZ 29.11.02)

Der SPD-Parteichef erklärt darin den Verzicht, in die Regierung einzutreten. (NZZ 9.2.18)

Das Korrelat darauf fehlt meinem Eindruck nach immer häufiger.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.03.2018 um 06.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#38030

Es gibt Tausende von Beispielen wie

Ablehnung gegen Neuauflage der Großen Koalition bröckelt
Ablehnung gegen Muslime und Schwule wächst


- also eine Konstruktion, die offenbar vom Synonym Abneigung übertragen ist. Aber auch dies ist mit gegen eigentlich sinnwidrig konstruiert. Früher sagte man denn auch bildgerecht Abneigung von, und umgekehrt Neigung gegen:

Mit Entsetzen fand er lebhafte Spuren einer Neigung gegen Natalien in seinem Herzen.

Konstruktionswandel unter dem Einfluß der Synonyme und Antonyme ist ein Hauptgrund des Sprachwandels.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.12.2018 um 08.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#40366

In Bochum hat am Sonntagabend ein Polizist mit mehreren Schüssen einen 74-jährigen Mann getötet. Er soll bei einer Kontrolle einen bislang unbekannten Gegenstand gezogen haben. Eine Mordkommission aus Essen ermittelt jetzt. (RhP 17.12.18)

Man kann eigentlich keinen Gegenstand ziehen. Das Verb präsupponiert bereits die Waffe.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 29.10.2019 um 11.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#42332

zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#33065:

Wem trägt der Biblizismus er antwortete und sprach Rechnung, dem Fakt, daß das redeeinleitende Verb antworten nur sehr begrenzt transitiv ist?

Bedeutet der Biblizismus nicht viel mehr, daß das Verb antworten ursprünglich gar nicht als redeeinleitend angesehen wurde?
 
 

Kommentar von A.B., verfaßt am 29.10.2019 um 14.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#42333

zu #42332
In der Vulgata heißt es hier meist "respondens dixit" (bzw. "ait" o.ä.): er sagte antwortend, was also das Sprechen als Antwort klassifiziert, nicht umgekehrt das Antworten als verbalen Akt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.10.2019 um 04.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#42337

Im Griechischen ebenso. Die umgekehrte Verteilung kommt aber in beiden Sprachen ebenfalls vor. Jedesmal der Versuch, Redeeinleitung und Sprechaktcharakterisierung zu trennen, wie im Hebräischen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.11.2019 um 04.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#42367

Der Journalismus, wie wir ihn begreifen, steht vor großen Herausforderungen. Doch das stand er schon immer. (FAZ 2.11.19)

Die eigenartige, „valenzfremde“ Pronominalisierung mit das statt da erklärt sich so: vor etwas stehen kann entweder wörtlich oder metaphorisch-idiomatisiert verstanden werden. Im ersten Fall würde man der lokalen Bedeutung entsprechend mit da pronominalisieren: Er steht vor dem Bahnhof. Da steht er immer (bzw. Das tut er immer). Wenn aber die lokale Bedeutung verblaßt ist, geht es nur noch um die Vervollständigung der idiomatischen Wendung, und dann kann das Universalpronomen das verwendet werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.01.2020 um 07.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#42803

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#32508

«Lebt und arbeitet in . . .» Das ist die Floskel, die Museumskataloge und Künstlerbiografien ziert wie die Fettquote eine Joghurtverpackung. (https://www.kunstkulturquartier.de/news-detail/blog/177?cHash=c5e375d1c9e3ee24ee45e220817c8b27)

Wulf Kirsten lebt und arbeitet in Weimar. (Wikipedia)

Man kann irgendwo wohnen und anderswo arbeiten. Schriftsteller arbeiten gewöhnlich dort, wo sie leben. „Er lebt in London und arbeitet in Los Angeles“ ist bei einem Schriftsteller nicht denkbar.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.02.2020 um 17.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#42892

„Glücklicher Familienvater von sechs Kindern und Unternehmer“

Die Leerstelle im relationalen Substantiv Vater ist schon durch das Erstglied Familie gefüllt. Das Attribut kommt als fünftes Rad am Wagen hinzu. Ein Kind von Herrn Kemmerich würde kaum sagen: Das ist mein Familienvater.

(Warum zetern die Verlierer im Thüringer Landtag eigentlich so? Selber Schuld! – um es mit beliebter Neuschreibung zu sagen...)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 15.02.2020 um 12.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#42960

aktuelle, wahre Begebenheit:

Patienten einer urologischen Klinik müssen u. U. bestimmte Einwegmaterialien mehrmals am Tag wechseln. Nachdem einmal die Vorräte aufgebraucht waren, mußten neue geholt werden.
Schwester: "So, ich habe Höschen und Einlagen wieder aufgefüllt."
Patient: "Danke! Aber auffüllen tun wir sie schon selber."
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 17.08.2020 um 23.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#44135

In Mannheim hörte ich heute eine Kellnerin sagen, auf eine leere Flasche auf dem Tisch zeigend, um anzudeuten, daß sie sie nicht ganz erreichen konnte und die Hilfe des Gastes zum Abräumen benötigte:

"Nemm ich Ihne glei mit, hier ..."

Sie nahm "ihm" also die leere Flasche "mit", obwohl er diese danach nie wieder sah.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.06.2021 um 17.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#46271

Ich kann nicht auf etwas zeigen, wenn außer mir niemand da ist. Trotzdem muß der Partner nicht erwähnt werden, kann es normalerweise nicht einmal. Er zeigte auf das Brot ist die normale Ausdrucksweise, aber in eine Sachanalyse gehört das "Publikum", für das er auf das Brot zeigt. (Man spricht von "blockierten Aktanten", aber auf diesem Gebiet ist auch viel Unsinn geschrieben worden. Vgl. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1369#28741)

Auch sagen kann man streng genommen nichts, ohne daß jemand es hört. Dieser "Erfolg" ist mitverstanden. Jemand kann nicht allein spazieren gehen und sagen: "Es ist schon spät". Man sagt dann eher vor sich hin sagen, zu sich selbst sagen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.01.2022 um 04.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#48264

Duden 9 läßt nur die Reihenfolge mit und ohne, mit oder ohne + Akkusativ gelten, nicht aber ohne und mit, ohne oder mit + Dativ. (s. v. "mit", die Formulierung ist nicht besonders klar).

Das entspricht aber nicht der Sprachwirklichkeit, die alle möglichen Kombinationen reichlich belegt. Der Kasus wird im allgemeinen von der nächststehenden Präposition regiert. So klingt die an sich gewaltsame Koppelung am wenigsten harsch.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.05.2022 um 03.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#49116

Kevin Kühnert nach der verlorenen Wahl in NRW:

Die SPD sei dafür angetreten, die amtierende Landesregierung abzulösen, betonte Kühnert. Dies sei gelungen, denn CDU und FDP hätten laut Hochrechnungen keine Mehrheit im neuen Landtag.

Letzteres stimmt zwar, aber es ist nicht der SPD gelungen, und nicht die SPD löst die Regierung ab. Man sieht, welchen rhetorischen Nutzen es bringt, Leerstellen der Verben leer zu lassen.

(Rechnerisch wäre eine SPD-geführte Regierung möglich, aber das hätte einen Beigeschmack. Mal sehen, was die Analyse der Wählerwanderung ergibt.)
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 14.12.2022 um 15.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#50050

zu #25632:

Ähnlich wie der schwer zu verteidigende Wurf ist auch der Fall in einer Antwort, die ich heute per E-Mail auf eine Reklamation erhielt:

Es handelt sich offensichtlich um einen Defekt, den wir entschuldigen möchten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.12.2023 um 05.03 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#52337

Eigentlich wird man promoviert und habilitiert, nämlich von der Fakultät einer dazu berechtigten Hochschule. Aber in der geschlossenen akademischen Welt hat der Jargon diese Verben mit einer neuen Konstruktion und daher auch Bedeutung versehen. Daher promoviert und habilitiert (sich) nun der Kandidat selbst. Wir finden sogar:

„er promovierte 1976 zu vergleichender Literaturwissenschaft und Linguistik usw.

– wo es sich darum handelt, daß er eine Dissertation auf diesem Gebiet verfaßte. Entsprechend auch:

1954 emeritierte er. (Wikipedia über Percy Bridgman)

Solcher Wandel macht einen großen Teil der "inneren Wortbildung" aus: An der Form ändert sich nichts, aber im Wörterbuch wird ein weiterer Eintrag nötig.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 17.01.2024 um 18.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1124#52608

Viermal wurde versucht, einem Rechtsextremisten die Grundrechte zu verwirken
(MM, 17.1.24, S. 3)
 
 

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