20.03.2009


Theodor Ickler

Valenz

Bemerkungen zu einem fragwürdigen Begriff

Die Grammatiker machen viel Aufhebens vom Begriff der "Valenz", nachdem es eine Zeitlang schon mal stiller geworden war.
Es gibt eine scharfsinnige kleine Schrift von Joachim Jacobs ("Kontra Valenz") dazu, und vor einem Vierteljahrhundert habe ich auch schon mal kritisch zu diesem Begriff Stellung genommen. Ich kann nicht finden, daß die Valenztheorie irgend etwas über die Sprachen herausgefunden hätte, was nicht auch schon früher ohne diesen Begriff erkannt und gesagt worden wäre. Die Valenzwörterbücher (vor allem die unbrauchbaren des IDS: "Verben in Feldern" und VALBU) sind größtenteils viel schlechter als herkömmliche Wörterbücher. Das habe ich verschiedentlich einfach durch Vorzeigen traditioneller Schulwörterbücher (z. B. Hermann Menges Griechisch-Wörterbuch) nachgewiesen. Für Interessierte setze ich mal eine kurze Darstellung hierher, die aber noch ausgebaut werden muß:

Bemerkungen zur Valenztheorie

Unter „Valenz“ versteht man recht Verschiedenartiges, was sich kaum sinnvoll zu einer einzigen Theorie zusammenführen läßt. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, daß ein Lexem, der „Valenzträger“, seine syntaktische Umgebung strukturiert. Diese Wirkung hat besonders das Verblexem. Das Subjekt wird gewöhnlich als Ergänzung („Nominativergänzung“) mitgezählt, d. h. es gilt ebenfalls als verbregiert. Im übrigen werden nicht nur die reinen Kasusformen, sondern auch Präpositionalobjekte und verschiedene andere Ergänzungen zum Valenzrahmen gezählt (s. u.).
A. Verbvalenz
1. Quantitative Valenz
Darunter versteht man die „Wertigkeit“ oder „Stelligkeit“, durch die sich die Verben voneinander unterscheiden, also eine zahlenmäßige Größe. So ist schlafen einwertig, weil es nur die Nominativergänzung regiert. Wenn man das Scheinsubjekt es bei den Witterungsimpersonalien nicht als echte Ergänzung ansieht, wäre regnen sogar nullwertig. schlagen ist zweiwertig (Nominativ- und Akkusativergänzung), geben ist dreiwertig (Nominativ-, Akkusativ- und Dativergänzung; aber auch legen ist dreiwertig, weil es außer Nominativ und Akkusativ noch eine Richtungsergänzung regiert. (Soweit die Theorie. In Wirklichkeit sind die Ergänzungen nicht unabhängig voneinander an das Verb gehängt wie die Schlüssel an denselben Ring, sondern nach Art einer Kette hierarchisch geordnet.) Verben kommen auch mit unterschiedlicher Wertigkeit vor; davon ist jedoch der unter- und überwertige Gebrauch zu unterscheiden.

1.1 Unterwertiger Gebrauch
a) Im Passiv bleibt eine Valenzstelle fakultativ unbesetzt. Sie ist jedoch weiterhin vorhanden, die Wertigkeit des Verbs also unverändert:
Am Freitag und Sonnabend wird tanzen gegangen. (Neues Deutschland 8.11.85)
b) Kontextuelle Ellipse:
Jetzt darf ich anwenden. (J. G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Stuttgart 1979:9)
c) Prägnanter Gebrauch:
Hier wird die Eigenbedeutung des Verbs hervorgehoben:
Wer hat, der hat. (Sprichwort)
Eigentum verpflichtet. (GG Art. 14,2)
Besonders „weglassungsfreundliche“ Umgebungen sind Modalverben und Kontrastbildungen:
So kann Amerika nicht führen. (ZEIT 2.7.82:1)
Wer heißt überhaupt? Man nennt ihn. (Christian Morgenstern)
Diese Fotografien erinnern. Die Zeit hat sie ihrer Aufgabe, zu appellieren, entledigt. Sie klagen nicht an. (FAZ 10.12.83)
d) Gewohnheitsmäßiges Auslassen eines Objekts, das sich von selbst versteht oder aus Tabugründen nicht erwähnt wird, kann allmählich zu einem Verb mit geringerer Wertigkeit führen:
Die Frau erwartet wieder. (Theodor Fontane: Der Stechlin: Kap.1)
Die weite Reise, Kleidung, Ausrüstung - das alles kostet doch. (FAZ 9.1.97)
kosten wird hier als 'viel kosten' verstanden, ähnlich wie riechen als 'übel riechen' usw.

1.2 Überwertiger Gebrauch
Durch Ergebnis- und Richtungszusätze sowie weitere Prädikative entstehen komplexe Prädikate, die weitere, vom Verblexem aus nicht vorhersehbare Leerstellen eröffnen können:
Sie ißt den Teller leer.
Der Arzt schreibt Peter krank.
Sie tanzt die Schuhe durch.
Er knallt den Ball ins Aus.

Diese Verwendungsweisen werden auch „faktitiv“ oder „kausativ“ genannt. Hier lassen sich Objektsprädikative („prädikative Attribute“) eines anderen Typs anschließen:
Er trinkt den Kaffee schwarz.

1.3 Rezessivbildung; Aktantenvertauschung
Besonders in Fachsprachen kommt es zur echten Valenzänderung.
Wertet der Euro weiter auf, werden bald Klagen über die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft einsetzen. (FAZ 16.7.02)
Der Euro-Kurs notiert rund 15 Prozent höher als zu Jahresbeginn. (FAZ 16.7.02)
Hier handelt es sich um eine Art Wortbildung, deren Ergebnis daher auch ins Wörterbuch gehört:
notieren (...) 2. (Börsenw.; Wirtsch.) a) den Kurs, Preis von etw. ermitteln u. festsetzen: die Börse notiert die Aktie mit 50 Mark; b) einen bestimmten Kurswert, Preis haben: der Dollar notierte zum Vortageskurs. (Duden - Deutsches Universalwörterbuch Mannheim 2001) (Bei aufwerten fehlt ein entsprechender Eintrag.)
Aktantentausch ist ebenfalls häufig:
Visconti und Chabrol besetzten Maria Schell (FAZ 28.4.05)
die glänzend gehängten Räume (einer Kunstausstellung) (SZ 11.3.08)

2. Qualitative Valenz
2.1 Morphosyntaktische Valenz
Die vom Valenzträger regierten Ergänzungen können verschiedene Formen haben: Nominalphrasen in einem bestimmten Kasus, Präpositionalphrasen, Infinitivkonstruktionen, Nebensätze.
Traditionell werden den Ergänzungen verschiedene syntaktische Rollen wie Subjekt, Akkusativobjekt, Präpositionalobjekt zugeschrieben.
2.2 Semantische Valenz
Jeder Valenzträger erlegt seiner Umgebung gewisse semantische Beschränkungen auf. Davon müssen jedoch alle Beschränkungen ausgenommen werden, die aus sachlichen Gründen nicht in Frage kommen; sie haben mit Grammatik nichts zu tun. Es kann nicht Aufgabe der Sprachwissenschaft sein, die Bildung von Sätzen wie
*Das Buch liest mich morgen. (Welke, Klaus: Einführung in die Valenz- und Kasustheorie. Leipzig 1988:14)
oder
*Emil schläft seinem Onkel das Bett. (ebd. 11)
zu verhindern.
Um dieses Ausufern in Bereiche, die der Sachkenntnis und nicht der Sprachkenntnis zuzurechnen sind, zu verhindern, hat man sehr abstrakte semantische Merkmale postuliert wie HUM (menschlich), ANIM (belebt). Einige davon spielen tatsächlich auch in anderen Bereichen der Grammatik eine Rolle, z. B. „belebt“ in der Kasusmorphologie des Russischen, „menschlich“ (oder wohl besser „personal“) in der Auswahl zwischen Pronomina usw. Es sollten also nur solche Merkmale im Stellenplan des Valenzträgers verzeichnet werden, die bereits grammatikalisierte Kategorien der Wirklichkeit kennzeichnen.
Echt sprachwissenschaftlich ist dagegen die Unterscheidung von Bezeichnungsarten. In der Tradition ist sie oft mit den semantischen Merkmalen zusammengeworfen worden, so daß etwa ANIM und KONKRET auf derselben Stufe stehen. Belebtheit ist jedoch eine Eigenschaft des Gegenstandes, Konkretheit eine semiotische Qualität der Bezeichnungstechnik: Nicht die Gegenstände zerfallen in abstrakte und konkrete, sondern unsere Verfahren, die Gegenstände usw. zu bezeichnen. Der Unterschied ist zum Beispiel wichtig, um die Ergänzungen von wissen im Gegensatz zu kennen passend zu wählen.
Der Versuch, den Ergänzungen verschiedene, sehr abstrakte „semantische Rollen“ zuzuschreiben, führt zu Inventaren von „Tiefenkasus“, „thematischen Rollen“, „Theta-Rollen“ (Θ-Rollen) o. ä. - Zum Kernbestand gehören etwa AGENS, PATIENS, EXPERIENCER u. a. Solche Inventare sind jedoch sehr umstritten, und die Anwendung im konkreten Fall ist oft willkürlich.
Manche Autoren setzen eine Ebene der logischen Valenz an. Dazu übersetzen sie einen Satz in eine logische Orthosprache und vergleichen das Ergebnis mit dem Ausgangssatz. So gelangen sie beispielsweise zu der Erkenntnis, daß Verben wie verlesen oder anordnen logisch dreiwertig, sprachlich aber nur zweiwertig seien, weil die Nennung des „Adressaten“ nicht im selben Satz realisiert werden kann. zugreifen sei aus demselben Grunde sprachlich einwertig, logisch aber zweiwertig, weil der unterdrückte Patiens dazugehöre usw. Ebenso bei speisen oder urinieren der einverleibte bzw. ausgeschiedene Patiens. Solche Analysen sind jedoch fragwürdig, teils weil die Voraussetzungen nicht stimmen (verlesen kommt sehr wohl mit einem Adressaten-Dativ vor), teils weil gerade das Fehlen eines Adressaten zur Bedeutung des Verbs gehört (wie bei anordnen); schließlich ist bei zugreifen die Patiensrolle anaphorisch im Verbzusatz erfüllt. Bei speisen und urinieren liegen einfach falsche Bedeutungszuschreibungen vor. - Umgekehrt wird in ein Bad nehmen ein gewissermaßen überzähliger Aktant gesehen, dem in der orthosprachlichen Fassung der Wirklichkeit nichts entspricht. Ebenso gilt das es bei Witterungsimpersonalia als semantisch leer.

3. Valenz und Potenz
In der Valenzliteratur wird fast nur der Einfluß eines Valenzträgers auf seine syntagmatische Umgebung behandelt. Jedoch übt auch diese Umgebung als „Ergänzungsrahmen“ einen Einfluß auf die Interpretation des Valenzträgers aus. Fordern Transportverben den Rahmen Nominativergänzung + Akkusativergänzung + Richtungsergänzung, so macht umgekehrt dieser Rahmen jedes darin eingesetzteVerb zu einem Transportverb. Diese Wirkung kann man als „Potenz“ des Ergänzungsrahmens bezeichnen.
Die Bindung zwischen Valenzträger und Umgebung ist also eine wechselseitige, der Valenzgedanke daher einseitig und ergänzungsbedürftig. Sofern die Bindung zwischen Einzellexemen besteht, gehört sie in die Phraseologie (Kollokationsforschung). Zwischen Einzellexemen und Klassen anderer Lexeme besteht „lexikalische Solidarität“: aufsetzen <>Brille, Mütze, Maske ... Es ist nicht sehr sinnvoll, all dies unter „Valenz“ abzuhandeln.


Anmerkung: Was ich hier als "Potenz" bezeichne (mit einem nicht von mir erfundenen Ausdruck), ist im Grunde das, was neuerdings unter dem Titel "Konstruktionsgrammatik" groß in Mode ist.


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