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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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16.05.2008
 

Klassenkampf
Ist Schrift ein Privileg der Mächtigen?

In der SZ vom 16.5.08 schreibt Florian Coulmas eine ganze Seite über Schriftsysteme. Nebenbei polemisiert er wieder einmal gegen die Kritiker der Rechtschreibreform; vgl. seinen sehr oberflächlichen Beitrag in Eroms/Munske. (In der NZZ vom 19.8.2000 hat er Unqualifiziertes über Eduard Engel von sich gegeben.)

Coulmas wärmt die alte Klischeevorstellung auf, die auch im Vorfeld der Rechtschreibreform eine Rolle spielte: „Schriftkenntnis war immer ein Privileg.“ In der Antike sei sie, wie er nochmals und pleonastisch behauptet, „ein elitäres Privileg“ gewesen. Wie verträgt sich das mit der Feststellung, daß die „überwältigende Mehrheit“ der Keilschrifttexte wirtschaftlichen Inhalts waren? Später hätten „Kirchen, Schulen, nationale Akademien“, den Fußspuren der ägyptischen Tempelschreiber folgend, über dieses Privileg gewacht. Als Beleg füht Coulmas allerdings nur die kirchliche Zensur an, die meiner Ansicht nach etwas ganz anderes ist.
Abgesehen von den ägyptischen Verhältnissen muß man wohl sagen, daß die Oberschicht in der Antike zwar schreibkundig war, das Schreiben und Lesen aber, wenn sie es sich leisten konnte, lieber Sklaven überließ. Als Privileg wurde die Schreibfertigkeit nicht angesehen. Für die Mönche des europäischen Mittelalters, die ja keineswegs die Oberschicht darstellten, war Schreiben eher ungeliebte Arbeit und Pflichterfüllung im Sinne der Benediktinerregel, wovon mancher Seufzer zeugt. Der Adel war nicht unbedingt schreib- und lesekundig.
Die Rechtschreibreformer behaupteten, daß die herrschende Klasse von heute an einer schwierigen Rechtschreibung festhalte, um weiterhin über ein ungebildetes Industrieproletariat verfügen zu können. Ob darin je ein Körnchen Wahrheit steckte, sei dahingestellt, jedenfalls spricht heute das alljährliche Lamento der Ausbildungsbetriebe über die schlechte Schulbildung der Lehrstellenbewerber eine andere Sprache. Es scheint ihnen nicht gerade vordringlich darum zu gehen, Arbeiterkindern den Zugang zu gutbezahlten Stellen zu verwehren.
Ohne die klassenkämpferische Geschichtskonstruktion wäre der ganze Aufsatz zweifellos interessanter geraten.

Coulmas erwähnt die „indisch-arabischen Zahlen“, meint aber natürlich Ziffern.

„Die Differenzfunktion der Schrift ist identitätsbildend. Dabei geht es nicht um den Inhalt der Nachricht, sondern um den Anspruch der Gruppe auf Eigenständigkeit. So erklärt sich etwa das deutsche Beharren auf dem ß, mit dem man sich (etwas krampfhaft) von der Schweiz unterscheidet.“
Das ist zweifellos eine sehr originelle Erklärung. Überhaupt steht die ganze These von der Identitätsstiftung auf ebenso tönernen Füßen wie die „Privilegien“-Theorie. In Wirklichkeit behält man eine Schreibweise bei, wenn es nicht sehr triftige Gründe gibt, sie zu ändern, und außerdem ist das ß recht nützlich, wie wir ja aus der Rechtschreibdiskussion wissen. Ein Bedürfnis, sich von der Schweiz abzusetzen, hat es nie gegeben.

Schließlich wäre noch zu kritisieren, daß Coulmas unter Orthographie nur die „kodifizierte Norm“ verstehen will. Implizite Orthographie gibt es für ihn nicht. Die antiken Schreiber hätten demnach keine Orthographie gehabt – aber was lehrten dann die „Grammatiklehrer“ in den Schulen und Privathäusern? Und Wulfila schrieb seine Bibelübersetzung in einer eigens dafür entwickelten Schrift „streng orthographisch“, wie es in Wolfgang Krauses Handbuch des Gotischen heißt. Das wäre nach Coulmas ein Widerspruch. Auch international wird unter Orthographie einerseits eine implizite, stillschweigend befolgte Norm oder eben eine kodifizierte verstanden: „ORTHOGRAPHY (...) A term for correct or accepted writing and spelling and for a normative set of conventions for writing and especially spelling.“ (The Oxford Companion to the English Language. London 1992) Das ist übrigens dasselbe wie bei der Orthoepie. Die korrekte Aussprache des Deutschen an die Kenntnis bestimmter Bücher zu binden würde ja wohl auch Coulmas nicht einfallen.



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Kommentare zu »Klassenkampf«
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Kommentar von F.A.Z., 02.09.2009, Nr. 203 / Seite N5, verfaßt am 02.09.2009 um 17.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1009#14923

Deutsch akzeptiert
Proteste gegen die "Japanstudien"

In einem offenen Brief haben sich vier Japanologen an und gegen den Herausgeber der Zeitschrift "Japanstudien", Florian Coulmas, gewandt. Dieser, Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio (DIJ), hatte verlauten lassen, die Zeitschrift werde nun überwiegend englischsprachige Beiträge veröffentlichen. Deutsche seien noch "willkommen", was auf englisch aber nur "still accepted" hieß. Die protestierenden Professoren aus München, Heidelberg, Leipzig, Halle, die dem Beirat des DIJ angehören, der zu dieser Entscheidung nicht gehört wurde, fordern eine gleichrangige Behandlung des Deutschen sowie eine Fortführung der Mehrsprachigkeit der "Japanstudien". kau
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.06.2008 um 11.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1009#12320

Der einst ziemlich einflußreiche Deutschdidaktiker Hermann Helmers schreibt:

"Die Überbewertung des Rechtschreibunterrichtes in den Volksschulen entsteht aus gesellschaftlichen Verwertungsinteressen: Zu den sprachlichen Fertigkeiten, die von einem Arbeitnehmer verlangt werden, gehört vor allem die Rechtschreibfertigkeit.“ (Didaktik des Deutschunterrichts. Darmstadt 1976:184)

Dabei haben wir doch gerade gelernt, daß die Unternehmer an möglichst ungebildeten Arbeitern interessiert seien, denen man sogar das Schreiben vorenthält …

(Wenn man besagtes Buch heute noch einmal zu lesen versucht, wird man über den – sagen wir – "linksopportunistischen" Tonfall noch mehr staunen als damals.)
 
 

Kommentar von Kai Lindner, verfaßt am 19.05.2008 um 18.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1009#12184

#12175, Herr Ludwig ...

Auch, wenn es das Titelthema verläßt… und damit in der Gefahr schwebt, verschoben zu werden:

(Lieber Herr Lindner, Sie sind doch Forumsteilnehmer, bitte tragen Sie das, wovon Ihnen bereits vorher klar ist, daß es besser woanders hingehört, gleich im Forum ein. Danke! – Red.)

Jetzt noch einige Worte zum “Schrift als Herrschaftswissen” bzw. “Schrift als Privileg der Mächtigen” ... Back-to-Topic:

So wie die Schlagworte angewandt werden, sind sie doch nur Kampfparolen und dienen üblicherweise der Bauchpinselei von dummen Parteigängern (jene die nicht selbst Denken/Vordenken sondern nur Mitdenken/Nachdenken können ;-). Herr Coulmas will damit nur seine eigene politische Position im politischen Koordinatensystem definieren – nämlich irgendwo Links; aber gutdeutsch natürlich nicht weit der Mitte.

Mein technokratischer Standpunkt dazu: Schrift war und ist immer nur ein Werkzeug zur Übertragung von Information. Und je differenzierter ein Schriftsystem/Sprachsystem ist, desto genauer läßt sich Information übertragen. Hier leistet die Neue Rechtschreibung eben den Bärendienst, denn die Eindeutigkeit der Texte geht dank neuer Getrenntschreibung und den sonderbaren Regeln zu SS/SZ zunehmend verloren.

Selbst die obskurste “Herrschaftsclique” hätte letztlich immer daran ein Interesse, daß Informationen eindeutig und effizient übertragen werden können – denn nur so funktioniert Bürokratie = Herrschaft. Geht die Eindeutigkeit verloren – verstehen die Bürger also nicht mehr, was die gesetzlichen Regeln Bedeuten sollen –, ist die Herrschaft in Gefahr.

Damit ist das Wissen um korrekte Rechtschreibung schon so etwas wie ein Herrschaftswissen – jedoch ganz anders, als es linke Demagogen uns weismachen wollen. Nicht ohne Grund wurde unsere “Neue Rechtschreibung” von genau den Politikern installiert, die selbst nicht mehr in der Lage sind, verständliche und verfassungstreue Gesetzestexte zu produzieren!


Und abschließend noch einige kurze Worte zu den USA (Herr Ludwig hat ja schon in diese Richtung geschrieben) – hier bitte ich alle Interessierten einmal einen Blick auf “usaerklaert.wordpress.com” zu werfen. Den US-patriotischen Unterton in dem Blog einmal beiseite gelassen, habe ich sehr viel über Amerika – Land, Leute und Politik – gelernt. In Amerika wäre eine solche Rechtschreibreform definitiv nicht möglich gewesen… denn im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland herrscht dort in der Tat eine volksnahe Demokratie (der US-Präsident ist im Inland kaum mächtiger als unser Bundespräsident). Wenn Amerikaner von Demokratie reden, dann ist das “ein ganz anderer Schnack”, als wenn deutsche Politiker das Wort als Alibischild vor sich hertragen!
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 18.05.2008 um 20.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1009#12175

#12169
Naja, einmal hat die Red. recht; tatsächlich gehört manches nicht zum oben von Ickler so interessant Angebotenen. Trotzdem stimme auch ich nicht mit so einfacher Verschiebung überein. Der Titel war schließlich "Klassenkampf" und leitete doch nicht nur billig witzig in Coulmas' "Denken" ein. Natürlich kann einem die Fragestellung unseres [Philip Köster, Red.] auf den Wecker fallen. Dennoch meine ich, daß er eine Antwort verdiente, die ihn besser in unsere Art zu diskutieren einführte. Und eine Verschiebung auch seines Beitrages unter ein Thema "Rechtschreibreform und Demokratie" wäre eine gute Lösung gewesen. Ich sah in seiner Argumentation jedenfalls etwas, was Hilfe verdiente. Natürlich weiß ich auch, daß der Bundespräsident fast alle Briefe an ihn nicht liest. Kai Lindners Beitrag am 18.05.2008 und Urs Bärleins hier liegen da völlig richtig. Weiß ich doch aus meiner eigenen Erfahrung, daß ich auf meinen Brief an jeden einzelnen der Brötchengeber der deutschen Kultusminister, den Ministerpräsidenten und ihren Äquivalenten in Ländern, wo sie anders heißen, also, nur von einem einzigen Land eine Antwort bekommen habe. Und das sagt mir schon deutlich etwas über die Demokratie in Deutschland, etwas, was ich eben belegen und weitersagen kann. Mehr kann ich unserem Gesprächsteilnehmer auch nicht sagen. Aber wer hier bei uns sich zu den Gründen unseres Rechtschreibproblems informieren will, sollte schon alle informativen Beiträge dazu hier vorfinden.

Und wenn ich unter dieser Überschrift etwas auf die USA verwies, die manche halt nicht mögen: Auch in unserer Sprachforschung hier wurde mehrfach darauf hingewiesen, daß einer Regierung hier nicht eingefallen wäre, solchen kulturellen Unsinn zur Orthographie ins Volk zu setzen. Wir haben natürlich anderen kulturellen Unsinn (cf. Brants *Narrenschiff*), aber dazu gibt's in den Medien sachgerechte Berichterstattung, naja, nicht unbedingt im lokalen Herald, aber national schon. Auf jeden Fall meine ich, daß sich vielleicht doch irgendwo einmal die Gelegenheit ergeben könnte, an den Bundespräsidenten die Frage zu stellen, warum Briefe an ihn oder sie eine ungenügende oder gar keine Antwort bekommen oder ob er oder sie Anweisungen gegeben haben oder geben werden, bestimmte Briefe gar nicht erst zu beantworten oder nur im Sinne von Unsinn zu beantworten.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 18.05.2008 um 20.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1009#12174

Schön und gut, die Frage lautet aber nicht "wieso?", sondern "warum?"
 
 

Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 18.05.2008 um 20.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1009#12173

Meine Theorie zur Warum-Frage:
Weil es über viele Jahrzehnte offenbar unwidersprochener Stand der Linguistik war, daß eine Reform stattfinden soll, kam dann auch eine. Ein wichtiger Faktor dabei war, daß ursprünglich die gemäßigte Kleinschreibung den Hauptteil ausmachen sollte. Als diese aber vorzeitig abgelehnt wurde, erfand man krampfhaft und in Eile Ersatzregelungen, damit das Kind überhaupt einen Namen hatte.
Es passierte dann der grundlegende Fehler, daß diejenigen Politiker, die letztlich zustimmen mußten, das Werk offenbar nicht oder nicht ausreichend in Augenschein nahmen, bevor sie es erstmals wirksam werden ließen. Man verließ sich wohl auf die wissenschaftliche Kompetenz der Autoren.
Einmal in Kraft gesetzt, war es dann schon geschehen. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt begann jene Staatsraison, die bis heute anhält.
Es ist also keine bewußte, geplante Zerstörung, sondern es ist ein unglückliches Zusammentreffen von Inkompetenz, Oberflächlichkeit und einigen anderen Faktoren.
Daß die staatlichen Instanzen es allerdings bis heute nicht geschafft haben, auch nur annähernd einen Ausweg aus dem Schlamassel zu finden, wirft ein bezeichnendes Licht auf die "Lösungskompetenz" unseres politischen Gefüges. Und auch, daß etwas So-Nicht-Gewolltes durch Zufall entsteht und in Kraft gesetzt wird, zeigt auf, welche fatalen Möglichkeiten dieses System bereithält.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 18.05.2008 um 17.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1009#12170

"Warum?", das ist eine Frage, die immer wieder auftaucht und auf die es noch keine befriedigende Antwort gibt. Wir haben die Reform bislang immer als Knappheitsphänomen zu verstehen versucht, und, soweit dieses Phänomen von Sprachwissenschaftlern beschrieben wurde, war das gewiß eine angemessene Annäherungsweise. Dem Sprachwissenschaftler, der die Reform ablehnt, stellt sie sich zwangsläufig als Not- und Mängelphänomen dar: Ihn interessiert, was in den Köpfen der Reformer alles hätte geschehen müssen, aber nicht geschehen ist, also welche Defizite die Voraussetzungen für ein so defizitäres Ergebnis sind.

Die Reform war jedoch nicht nur ein sprachwissenschaftlicher Vorgang, sie ist auch ein gesellschaftlicher, und in dieser Spezifizität entzieht sie sich wenigstens zum Teil einem Zugriff, der nur nach notwendigen und hinreichenden Voraussetzungen fragt. Freilich, das Versagen aller staatlichen und nichtstaatlichen institutionellen Sicherungen, von den Parlamenten über das Bundesverfassungsgericht bis letztlich hin zur Darmstädter Akademie zum Beispiel, war eine notwendige Voraussetzung. Eine weitere notwendige Voraussetzung war das Zusammentreffen von wissenschaftlichem Mittelmaß, bürokratischer Sturheit und und kurzsichtigen Verlagsstrategien (Bertelsmann). Es mag noch mehr geben. Daß all diese notwendigen Bedingungen zumindest zusammengenommen hinreichend gewesen sein müssen, scheint ebenfalls klar: das sehen wir am Ergebnis.

Aber diese Feststellung ist trivial. Sie läßt das große "Warum?" unbeantwortet (ebenso wie übrigens die Auskunft, wir hätten nicht genügend Briefe an den Bundespräsidenten geschrieben; auch diese sucht die Antwort in einem Defizit).

Meine These: Einem Verständnis der Reform als eines gesellschaftlichen Vorgangs (wobei "Vorgang" hier nur als Platzhalter für eine Begrifflichkeit dient, die im einzelnen darzulegen zu weit führen würde) kommt man erst näher, wenn man sie als Überschußphänomen zu deuten versucht. Herrn Icklers Frage nach der "Sorte Mensch", die sich mit der Reform nicht nur zu arrangieren versucht, sondern sich auch, selbst im Zweifelsfall, immer auf ihre Seite schlagen wird, weist ebenfalls in diese Richtung: Will man eine gesellschaftliche Veränderung verstehen, muß man den anthropologischen Typus in den Blick zu bekommen versuchen, der sie trägt.

In dieser Perspektive lösen sich zwar nicht alle Probleme auf Anhieb auf, aber manche sortieren sich wenigstens. Zum Beispiel: Was hat das Bundesverfassungsgericht dazu verleitet, dem Staat eine Blankovollmacht zur Korrektur "sprachlicher Fehlentwicklungen" auszustellen? Warum haben die Printmedien die Vernichtung eines nicht unbeträchtlichen Teils ihres Humankapitals (in Form der Rechtschreibkompetenz ihrer Redakteure und Korrektoren) fast widerstandslos hingenommen? Welcher Teufel hat den Verband der Schulbuchverleger geritten, sich nicht für eine möglichst beständige, wie es deren wirtschaftlichem Interesse entsprochen hätte, sondern für eine möglichst reformierte Orthographie einzusetzen? Warum durfte es, nachdem "Leid tun" unhaltbar geworden war, nicht wieder einfach "leid tun" heißen? Und so weiter.

Es gab offensichtlich einen übergreifenden Konsens, daß die Reform nicht scheitern dürfe, so schlecht sie auch sein mochte; das ist soweit bekannt. Ebenfalls klar ist, daß irrationale Verhaltensweisen sich nicht aus der Rationalität der Beteiligten herleiten lassen: also dann doch wohl nur aus deren Irrationalität. Diese Irrationalität ist aber nur dann eine bloße Mangelerscheinung, wenn man sie lediglich als Abwesenheit von Rationalität begreifen will. Eine solche Erklärung bliebe jedoch schon deshalb unbefriedigend, weil sie offenläßt, warum völlig unterschiedliche Agenten sich in gleicher Weise irrational verhalten (bei einem gleichermaßen rationalen Verhalten stellt sich diese Frage nicht).

Auch hierzu habe ich vorläufig nur eine These anzubieten: Die Rechtschreibreform ist ein heilsgeschichtliches Ereignis in säkularem Gewand. Das Motiv, das sich hinter der Heilserwartung verbirgt, ist ebenfalls säkularer Art: Die Welt soll evident sein. Und damit sie evident sein kann, unerschütterbar in ihrem währenden Sein durch die vermeintlichen Zufälligkeiten sprachlicher Artikulation, muß eine Rechtschreibreform möglich sein (womit sich, ganz am Rande, auch eine Erklärung dafür anbietet, warum die Art und die Qualität der Änderungen selbst gar keine Rolle spielten).

Ein von Anfang an völlig beklopptes Unternehmen (nämlich eine funktionierende Orthographie durch eine andere ersetzen zu wollen) fände somit seine Erklärung in einer ebenfalls völlig durchgeknallten Metaphysik, der ihre eigenen Fallstricke um so mehr verborgen bleiben müssen, als sie ihren Namen nicht etwa nur nicht zu nennen wagt, sondern ihn nicht einmal kennt. Diese unausgesprochene Metaphysik gilt jedoch heute als common sense (zumindest bei dem anthropologischen Typus, der seit der Revolution von 1933 in Deutschland dominiert – womit noch ein Bogen geschlagen wäre, den weiterzuverfolgen vermutlich ebenfalls zu weit führen würde).

Bitte mich nicht mißzuverstehen: Dies alles sollte und konnte jetzt nicht mehr als eine Skizze sein. Sie hier zur Diskussion zu stellen traue ich mich nur, weil ich hoffe, damit einen Beitrag zur Klärung der Lage zu leisten. Daran fehlt es nämlich immer noch.
 
 

Kommentar von Ein Leser, verfaßt am 18.05.2008 um 16.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1009#12169

Es fragt sich, was hier überhaupt noch "zum Thema" gehört.
Die Redaktion soll sich entscheiden, ob sie ein interessantes Forum oder einen Verschiebebahnhof betreiben will. Wenn mehr "diskutiert" werden soll, dann muß eine bessere Lösung für die Diskussionsseite her. Die jetzige taugt nicht, da sämtliche Wortmeldungen im Nichts versinken.

(Nicht umsonst sind die jüngsten Beiträge des Diskussionsforums auf der Startseite an die oberste Stelle gerückt. Damit man auf Anhieb noch mehr Beiträge einsehen kann, wurde dort nun ein entsprechender Link ergänzt. Außerdem beachte man auch die Beitragsaufrufmöglichkeiten auf der Übersichtsseite des Forums – Red.)
 
 

Kommentar von Red., verfaßt am 18.05.2008 um 14.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1009#12167

Die nicht unmittelbar zum Thema gehörigen Beiträge siehe im Diskussionsforum.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.05.2008 um 06.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1009#12158

Der von mir sehr geschätzte britische Linguist Geoffrey Sampson hat nicht nur selbst gute Sachen über Schriftsysteme verfaßt, sondern auch Coulmas besprochen: http://www.grsampson.net/VRog.html
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 17.05.2008 um 19.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1009#12147

Great!
 
 

Kommentar von David Konietzko, verfaßt am 17.05.2008 um 18.56 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1009#12146

Wer sich ein Bild von Coulmas’ Fähigkeiten machen will, dem lege ich folgende Rezension seines Buches ›Writing Systems. An Introduction to Their Linguistic Analysis‹ (Cambridge University Press, 2003) wärmstens ans Herz:
http://linguistlist.org/issues/17/17-2534.html
Zu Beginn führt der Rezensent, Peter T. Daniels, folgende Bemerkung an, die John Churton Collins 1886 über ein Buch von Edmund Gosse machte:
“That such a book as this should have been permitted to go forth to the world with the _imprimatur_ of the University of Cambridge, affords matter for very grave reflection”
und kommentiert:
(Coulmas’ Buch) “might have inspired Mr. Collins to repeat his remark [...].”

“In evaluating Coulmas’s *Writing Systems*, we can invoke Chomsky’s old criteria of observational adequacy, descriptive adequacy, and explanatory adequacy (1964: 924). The first might assess factual accuracy, the second the organization of information, and the third the analytic understanding of writing. The book fails on all three counts.”

Es folgt eine schier endlose Auflistung von Coulmas’ Fehlern.

“It is a ‘telling sign’ of Eurocentrism that spelling reform is assumed to be the responsibility of ‘the state’ (236), an attitude utterly foreign to the American or even the Briton.”
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 17.05.2008 um 12.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1009#12143

Die Deutung der herkömmlichen Rechtschreibung als Herrschaftstechnik hat etwas, eben weil sie so offenkundig falsch ist. Der primäre Zwang, dem sich Kinder aus der Unterschicht – wie alle anderen auch – ausgesetzt sehen, ist ja nicht die Verweigerung des Zugangs zu Bildung, sondern die allgemeine Schulpflicht. Diese fügt sich mit all ihren mehr oder weniger stark ausgeprägten Begleiterscheinungen – Musterung, Kasernierung, Uniformierung, Disziplinierung – mühelos in das Bild eines auf die Sozialisation von folgsamen Untertanen/Arbeitskräften berechneten Unterdrückungsinstruments.

Einerseits gilt "lesen und schreiben lernen", noch vor den Grundrechenarten, als der Zweck des Schulbesuchs schlechthin (bzw. ist eine gängige Paraphrase für diesen), andererseits ist die allgemeine Schulpflicht, als Grundlage nicht nur der kapitalistischen, sondern jeder modernen Gesellschaft, völlig unumstritten. Die meisten Leute glauben sogar allen Ernstes, Kindern etwas Gutes zu tun, wenn sie ihnen das Spielen verbieten und sie auf Schulbänke setzen. Spendenaufrufe in Form zum Beispiel von Plakaten,
auf denen glücklich vor Tafeln oder über Schreibheften lächelnde Negerkinder zu sehen sind, bezeugen es täglich.

Vor diesem Hintergrund läßt sich der Rechtschreibreform ein tieferer Sinn abgewinnen, sogar ein sympathischer Zug. Sie erscheint als verspäteter Protest ihrer Verfechter gegen die eigene, als leidvoll erfahrene schulische Zwangssozialisation und zugleich als Ersatzhandlung, welche sich gegen ein symbolisches Objekt richtet, weil sie den wirklichen Grund ihrer Leiderfahrung nicht mehr sehen können bzw. nicht mehr sehen dürfen. Dazu paßt es, die Opferrolle an Unterschichten- bzw. Arbeiterkinder zu delegieren.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 16.05.2008 um 17.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1009#12131

Statt "Schriftkenntnis war immer ein Privileg" könnte man auch gleich sagen, Bildung war immer ein Privileg.

Erstens bin ich der Meinung, daß das in Deutschland nicht mehr so ist, und zweitens, selbst wenn es in dieser Hinsicht noch Probleme gäbe, dann wäre das sicher kein Grund, an der Schrift oder der Rechtschreibung herumzupfuschen oder die Wissenschaften vereinfachen zu wollen, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen für allgemeine Bildung müßten verbessert werden.

Kenntnisse sind immer so kompliziert wie die Wirklichkeit. Die Bildungsinhalte zu vereinfachen, bedeutet nichts anderes, als die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen.

(Mal ganz abgesehen davon, daß die Rechtschreibreform überhaupt keine Vereinfachung gebracht hat.)
 
 

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