16.05.2008


Theodor Ickler

Klassenkampf

Ist Schrift ein Privileg der Mächtigen?

In der SZ vom 16.5.08 schreibt Florian Coulmas eine ganze Seite über Schriftsysteme. Nebenbei polemisiert er wieder einmal gegen die Kritiker der Rechtschreibreform; vgl. seinen sehr oberflächlichen Beitrag in Eroms/Munske. (In der NZZ vom 19.8.2000 hat er Unqualifiziertes über Eduard Engel von sich gegeben.)

Coulmas wärmt die alte Klischeevorstellung auf, die auch im Vorfeld der Rechtschreibreform eine Rolle spielte: „Schriftkenntnis war immer ein Privileg.“ In der Antike sei sie, wie er nochmals und pleonastisch behauptet, „ein elitäres Privileg“ gewesen. Wie verträgt sich das mit der Feststellung, daß die „überwältigende Mehrheit“ der Keilschrifttexte wirtschaftlichen Inhalts waren? Später hätten „Kirchen, Schulen, nationale Akademien“, den Fußspuren der ägyptischen Tempelschreiber folgend, über dieses Privileg gewacht. Als Beleg füht Coulmas allerdings nur die kirchliche Zensur an, die meiner Ansicht nach etwas ganz anderes ist.
Abgesehen von den ägyptischen Verhältnissen muß man wohl sagen, daß die Oberschicht in der Antike zwar schreibkundig war, das Schreiben und Lesen aber, wenn sie es sich leisten konnte, lieber Sklaven überließ. Als Privileg wurde die Schreibfertigkeit nicht angesehen. Für die Mönche des europäischen Mittelalters, die ja keineswegs die Oberschicht darstellten, war Schreiben eher ungeliebte Arbeit und Pflichterfüllung im Sinne der Benediktinerregel, wovon mancher Seufzer zeugt. Der Adel war nicht unbedingt schreib- und lesekundig.
Die Rechtschreibreformer behaupteten, daß die herrschende Klasse von heute an einer schwierigen Rechtschreibung festhalte, um weiterhin über ein ungebildetes Industrieproletariat verfügen zu können. Ob darin je ein Körnchen Wahrheit steckte, sei dahingestellt, jedenfalls spricht heute das alljährliche Lamento der Ausbildungsbetriebe über die schlechte Schulbildung der Lehrstellenbewerber eine andere Sprache. Es scheint ihnen nicht gerade vordringlich darum zu gehen, Arbeiterkindern den Zugang zu gutbezahlten Stellen zu verwehren.
Ohne die klassenkämpferische Geschichtskonstruktion wäre der ganze Aufsatz zweifellos interessanter geraten.

Coulmas erwähnt die „indisch-arabischen Zahlen“, meint aber natürlich Ziffern.

„Die Differenzfunktion der Schrift ist identitätsbildend. Dabei geht es nicht um den Inhalt der Nachricht, sondern um den Anspruch der Gruppe auf Eigenständigkeit. So erklärt sich etwa das deutsche Beharren auf dem ß, mit dem man sich (etwas krampfhaft) von der Schweiz unterscheidet.“
Das ist zweifellos eine sehr originelle Erklärung. Überhaupt steht die ganze These von der Identitätsstiftung auf ebenso tönernen Füßen wie die „Privilegien“-Theorie. In Wirklichkeit behält man eine Schreibweise bei, wenn es nicht sehr triftige Gründe gibt, sie zu ändern, und außerdem ist das ß recht nützlich, wie wir ja aus der Rechtschreibdiskussion wissen. Ein Bedürfnis, sich von der Schweiz abzusetzen, hat es nie gegeben.

Schließlich wäre noch zu kritisieren, daß Coulmas unter Orthographie nur die „kodifizierte Norm“ verstehen will. Implizite Orthographie gibt es für ihn nicht. Die antiken Schreiber hätten demnach keine Orthographie gehabt – aber was lehrten dann die „Grammatiklehrer“ in den Schulen und Privathäusern? Und Wulfila schrieb seine Bibelübersetzung in einer eigens dafür entwickelten Schrift „streng orthographisch“, wie es in Wolfgang Krauses Handbuch des Gotischen heißt. Das wäre nach Coulmas ein Widerspruch. Auch international wird unter Orthographie einerseits eine implizite, stillschweigend befolgte Norm oder eben eine kodifizierte verstanden: „ORTHOGRAPHY (...) A term for correct or accepted writing and spelling and for a normative set of conventions for writing and especially spelling.“ (The Oxford Companion to the English Language. London 1992) Das ist übrigens dasselbe wie bei der Orthoepie. Die korrekte Aussprache des Deutschen an die Kenntnis bestimmter Bücher zu binden würde ja wohl auch Coulmas nicht einfallen.


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