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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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30.09.2005
 

Lesefrüchtchen
Der alte Duden war nicht ganz auf der Höhe

Das merkt man immer wieder, so auch an der Vorschrift, "dahin gehend" getrennt zu schreiben. Es wurde aber fast immer zusammengeschrieben, vor allem in adverbialem Gebrauch.
Die Neuregelung wollte natürlich erst recht Getrenntschreibung. Aber im Zuge der Revision von 2004 ergab sich für die Zusammensetzungen mit Partizip ganz allgemein die Wiederzulassung, in diesem Fall also Neuzulassung der zusammengeschriebenen Formen, so daß jetzt zufällig "dahingehend" erstmals gemäß dem tatsächlichen Gebrauch geschrieben werden darf!

Zu den unsinnigen Dudendifferenzierungen, die von der Neuregelung unbesehen übernommen wurden, gehören die Fälle wie "dagegen halten/dagegenhalten", wo eine unterschiedliche Schreibung auf wörtliche vs. übertragene Bedeutung gegründet wurde.

Der Duden war immer eine Mischung aus Überkommenem und Augenblicksaufnahmen des Diskussionsstandes in der Redaktion, es gibt keinen Grund zu besonderer Verehrung. Im neuen Wahrig wird behauptet, daß die Farbbezeichnung "siena" anders ausgesprochen wird als die Stadt "Siena", von der es abgeleitet ist, nämlich mit langem e, die Stadt aber mit kurzem ä. Stimmt das denn? Für das Plural-s in "die Dessous" wird stimmhafte Aussprache angegeben, im Duden stimmlose.



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Kommentare zu »Lesefrüchtchen«
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Kommentar von Martell, verfaßt am 30.09.2005 um 10.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1027

Aber wenn ich einen Nagel in ein Stückchen Holz schlagen möchte, werde ich doch einen schweren Hammer dagegen halten. (Kinder wundern sich übrigens anfangs über solches Vorgehen, da sie noch keine Vorstellung von der Eigenschaft der Trägheit der Masse besitzen).

In Diskussionen bemüht man sich jedoch, dagegenzuhalten, um seinen Standpunkt zu verteidigen. Warum aber soll hier auf einmal die Differenzierung des "im übertragen Sinne" Gemeinten nicht mehr per Getrenntschreibung angezeigt werden dürfen?

Die Diskussion der Frage also, ob diese Differenzierung unsinnig ist, gehört wohl ebenfalls in einen der vielen Kommentarbände zum Duden, die nie geschrieben wurden, weil sie keiner brauchte.

Wenn man das Dudenprojekt mit dem Hilbertprogramm (Anfang 20. Jhdt.) vergliche, käme man wohl zu dem Schluß, daß noch kein Gödel in Sicht ist, der das nachvollziehbar für alle auf den Punkt bringen könnte, was der Fall ist.

 
 

Kommentar von Pavel Nemec, verfaßt am 30.09.2005 um 10.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1028

Ich halte "dagegenhalten" für die Erweiterung von "gegenhalten"; "gegenhalten" ist umgangssprachlich weit verbreitet und Fachsprache der Zimmerleute, und man findet es bei Googel, aber merkwürdigerweise nicht in Rechtschreibwörterbüchern, auch nicht mit dem Zusatz "ugs".

 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 30.09.2005 um 11.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1029

Aber wenn ich einen Nagel in ein Stückchen Holz schlagen möchte, werde ich doch einen schweren Hammer dagegen halten.

Vor genau solchen erfundenen Beispielen muß man sich hüten.

 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 30.09.2005 um 11.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1030

Überall da, wo es zu keinem Mißverständnis kommen kann, ist die Unterscheidungsschreibung bezüglich wörtlicher und übertragener Bedeutung aufzugeben oder zumindest freizustellen. Prof. Jochems führte neulich das treffende Beispiel vom Angler und vom Politiker an, die beide im Trüben/trüben fischen können. Anders bei im allgemeinen/Allgemeinen - wesentlichen/Wesentlichen - Großen und Ganzen/großen und ganzen usw., also bei Abstrakta. "Dagegen halten" vs."dagegenhalten" ist eine von den berüchtigten Spitzfindigkeiten für Orthographie-Esoteriker. Oder kann mir jemand den Unterschied am Beispiel des Hammers erklären?

 
 

Kommentar von Bernhard Eversberg, verfaßt am 30.09.2005 um 12.35 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1031

Ob man hier vergleichbar tief wie ein Gödel schürfen könnte, weiß ich nicht. Mit dem "übertragenen Sinn" ist ja wohl ein metaphorischer Gebrauch gemeint. Metaphern zeichnen sich im allgemeinen gerade nicht durch eine andersartige Schreibung aus. Hinsichtlich GZS braucht man nur zu sagen:
Die Zusammenschreibung von Wörtern nimmt im Deutschen oft eine andere Bedeutung an als die getrennte Abfolge derselben Wörter.
Meistens hört man das auch sehr gut. Manchmal gibt es keinen Bedeutungsunterschied (zufrieden stellend), sondern die Zusammenschreibung hat sich dann womöglich gerade wegen der Aussprache durchgesetzt. Im Englischen gibt es wohl kein vergleichbares Empfinden für das enge Zusammengehören zweier Wörter (phrase), jedenfalls resultiert daraus kein Drang zum Zusammenschreiben.
Dieses durchaus bereichernde Charakteristikum unserer Sprache muß und wird erhalten bleiben, das ist gar keine Frage.
Wer Deutsch als Fremdsprache lernt, sollte etablierte Wortverbindungen in einem guten Wörterbuch finden können, auf jeden Fall dann, wenn die Bedeutung von der Getrenntschreibung abweicht.
Duden und Wahrig müssen insofern erst wieder lernen, was Bedeutung eigentlich ist.

 
 

Kommentar von Wolf Mayen, verfaßt am 30.09.2005 um 13.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1032

Die Problematik beginnt an dem Punkt, wo man versucht, Bedeutungen zu kodifizieren und Bedeutungsunterschiede abzustecken. Ich habe einmal das Wort "beherzt" in einem negativen Zusammenhang benutzt und erntete damit viel Unmut, obwohl es von seiner Bedeutung her korrekt war.

dagegen halten = dagegenhalten = man hält etwas dagegen.

Die Bedeutung ergibt sich ja wohl aus dem Kontext, auch da, wo wir nicht getrennt- oder zusammenschreiben können:

"Der Mann zieht das Rad an"

(Beispielsatz aus einem Hermeneutik-Kurs der Universität Mainz)

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.09.2005 um 15.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1033

Wenn jemand einen Unterschied zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung durch die Schreibweise ausdrücken möchte, kann er es ja tun, niemand will es ihm verbieten. Hoffentlich versteht es auch der Leser! In der Zeitung (Süddeutsche) habe ich, bevor ich meine Notiz ins Tagebuch schrieb, nachgesehen und fast nur den übertragenen Gebrauch gefunden. Was ich in mein Wörterbuch geschrieben habe, brauche ich nicht nachzuschlagen, das versteht sich ja nach meinen Grundsätzen von selbst. Es gibt also hier, kurz gesagt, kein Problem. Erst die Wörterbücher machen eins daraus. Denn wer kann sich all das merken?

Und nun gleich weiter: Der neue Wahrig hat wie bisher den Eintrag "Nutz: veraltete, nur in der Wendung zu Nutz und Frommen." Und dann kommt gleich "zunutze / zu Nutze". Also doch nicht nur in jener Wendung? Die Reform hat vielmehr das veraltete Substantiv mit einer Auffrischungskur bedacht und sogar mit einer schönen vollen Dativendung. Aber es geht noch weiter: "nutzbringend, Nutzen bringend". Wie das? Müßte es nach der Wiederbelebung nicht auch "Nutz bringend" und natürlich erst recht "nutzenbringend" (gemäß Revision 2004) geben? Aber auch der Duden weiß noch nichts davon.

 
 

Kommentar von Martell, verfaßt am 30.09.2005 um 17.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1035

Das Kontextargument wird/wurde ja auch sehr gerne benutzt, um neue widerborstige Getrenntschreibungen zu verteidigen. An den Rändern lösen sich die Dinge aber am leichtesten auf, und scheinbar jedem Regelungsversuch wächst sehr schnell seine Widerlegung wie von selbst.

Ob es jetzt Zehetmairs oft genanntes "auseinandersetzen" oder einfach "aufhalten" ist. Muß der Bettler nicht seine Hand auf halten? Und hatte der Duden nicht das Problem, unterschiedliche Schreibweisen nicht unkommentiert stehen lassen zu dürfen. Und warum eigentlich nicht stehenlassen?

Nicht nachschlagen muß nur der, der ein geschlossenes System hat. Wie auch immer das funktioniert. Den anderen aber muß man Hilfestellung geben. Das Problem machen meiner Ansicht nach daher nicht die Wörterbücher aus. Das Problem entsteht mit der Kritik der Wörterbücher.

Und Gödel mußte nicht mühsam schürfen, schon gar nicht tief. Er mußte nur nachdenken. Allerdings ein wenig mehr.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.09.2005 um 17.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1036

Zwar verstehe ich nicht ganz, was Martell meint, aber wenn wir es einmal konkret betrachten, müssen wir doch zugeben, daß der Duden ein Problem geschaffen hat, nicht die Kritik. Wie ist es denn mit "dahingehend"? Das soll falsch gewesen sein? Schaeder hat nicht ohne Grund gesagt: alle machen ständig Fehler, und keiner merkt's. Das war zwar absurd, aber die Absurdität lag in der staatlichen Identifikation eines bestimmten Wörterbuchs mit der einzig richtigen Schreibung. Das hat mit der Wörterbuchkritik nichts zu tun. Es wäre noch viel anstößiger gewesen, wenn die Leute Zweifel gehabt und nachgeschaut hätten, was der Duden dazu sagt. Aber sie hatten eben in den meisten Fällen keine Zweifel, und so ließ man Duden einen guten Mann sein und schrieb "um ein Vielfaches", "ernstnehmen", "beiseiteschieben", "dahingehend" – alles falsch!

 
 

Kommentar von Martell, verfaßt am 30.09.2005 um 22.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1038

Ursula Hermann und Hans Joachim Störig teilten vor 20 Jahren ihre GZS-Grundregeln in folgende Gruppen ein:

Verb + Verb
Adverb + Verb
Präposition + Substantiv
Substantiv + Verb
Präposition + Substantiv + Verb
Substantiv + Partizip
Adjektiv + Partizip

Adverb und Mittelwort erscheinen in solchen ordnenden Strukturen ja eher selten. Hermann und Störig bezeichnen den „jetzigen Sprachzustand und das geltende Regelwerk“ im Jahr 1985 als „verwickelt, unbefriedigend, inkonsequent,... manches sei willkürlich“. Dann kritisieren sie die Tendenz, durch „Zusammenrücken und Zusammenschreiben immer neue Wortungetüme“ entstehen zu lassen. Dies diene weder der Entwicklung unserer Sprache noch ihrer Erlernbarkeit für Ausländer. In begründeten Zweifelsfällen sollte man deshalb lieber getrennt schreiben.

Wenn der Duden „dahingehend“ nicht auflistet, dann folgte er offensichtlich einem neuen Sprößling nicht. Aber tat er das nicht vielleicht bewußt und hegend im Sinne von Hermann und Störig?

Als er hingegen „autofahren“ nicht listete, folgte er dem Usus. Das Wort war – aus historischen Gründen – einfach nicht gebräuchlich. Aber er listete „radfahren“, weil die Leute während vieler Jahrzehnte sich wohl Räder, aber keine Autos leisten konnten. Ich weiß nicht, welcher Schalk den Blickfang rad- und Auto fahren listen ließ. Aber erst die Lieschenmülleranalogiebildungs- und Regelungswut fing an, sich an dem zu stören, was offensichtlich der Fall war – ohne fragen zu wollen (oder zu können?), weshalb dies und nicht anderes. Voilà – die Kritik bildet sich ein Problem – ein.

Aber wie begründet man eigentlich Zweifelsfälle?

 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 01.10.2005 um 13.32 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1043

Das Beispiel "dagegenhalten" ist ein weiteres Beispiel für die vielen falschen Betonungsangaben des Duden. So behauptet mein Duden (1961), "seine Meinung dagegenhalten" und "den Stein dagegen halten" würden nicht nur anders geschrieben, sondern auch anders betont. Entsprechendes behauptet er zu "die Schüler auseinander setzen" und "ein Problem auseinandersetzen" und zu "seine Absicht fallenlassen" und "die Teller fallen lassen". Was immer man von den Schreibweisen halten mag, so sind jedenfalls die angegebenen Betonungen bei normaler Aussprache m. E. eindeutig falsch.

Offenbar hat sich der Duden dazu verleiten lassen, eine allgemeine Regel (Zusammensetzungen werden meist auf dem ersten Bestandteil betont) ohne empirische Nachprüfung auf eine ganze Reihe von Einzelfällen anzuwenden.

Bei "dagegenhalten" kommt übrigens noch hinzu, daß das Verb sowohl transitiv ("den Stein dagegenhalten") als auch intransitiv ("wir müssen dagegenhalten") gebraucht werden kann. Im letzteren Fall ist die Neigung zur Zusammenschreibung vielleicht noch um einen Hauch stärker.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was "übertragene Bedeutung" eigentlich genau bedeutetet. Wird damit schon eine bildhafte Ausdrucksweise, bei der die ursprüngliche, meist konkrete Bedeutung noch lebendig ist, schon eine "übertragene Bedeutung"? Zum Beispiel stelle ich mir die Frage, wie nach Duden eigentlich "er hat seinen Vorschlag wie eine heiße Kartoffel fallenlassen/fallen lassen" zu schreiben ist.

Dabei fällt mir noch eine weitere Frage ein. Was ist heutzutage eigentlich geläufiger: "fallenlassen" oder "fallengelassen"? Bei Zusammenschreibung würde ich eher zu "fallengelassen" neigen. Mein Duden verwendet aber durchgehend in ähnlichen Fällen die Form ohne "ge".

 
 

Kommentar von H. J., verfaßt am 01.10.2005 um 17.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1047

Wibke Bruhns ("Meines Vaters Land") zeigt uns, wie man ohne Furcht vor dem Duden ein faszinierendes Buch schreibt. Mal geht das im Sinne der Normverteidiger gut ("die allein in ihrer Wohnung nicht zurechtkommt"), mal geht es daneben ("Abgesehen davon, daß HG Herz und Verstand durcheinander bringt"). Zweifel hat W. B. nicht einmal in diesem Satz: "Wolf York ist auf den Fotos ein ungewöhnlich gutaussehender, fast mädchenhaft schöner junger Mann." Recht so, kein Leser hat damit Schwierigkeiten, aber wenn man "außerordentlich gutaussehend" grammatisch analysiert...
Heute zeigt SPIEGEL online übrigens "Ton angebend" – überholter Neuschrieb und nach Duden 1991 einfach falsch. Aber "tonangebend" – ist das leserfreundlich?
Übrigens: Man vergesse nicht, sich unter "Diskussion" Reinhard Markners Entdeckung in Grassens "Mein Jahrhundert" anzusehen. Von "linguistischen Spitzfindigkeiten" im Duden-West ist da die Rede und von Zusammenarbeit mit dem Duden-Ost sowie von einer "gesamtdeutschen Sprachverschlimmbesserergemeinde". Paßt irgendwie in diesen Zusammenhang.

 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 01.10.2005 um 19.04 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1048

Über die „Ton angebende Kraft“ im SPIEGEL bin ich heute auch gestolpert. Aber Ton angebend war nie Neuschrieb, es ist und war auch nach den neuen Regeln falsch, und der Duden hat diese Schreibung nie als richtig dargestellt. Leserfreundlich ist meines Erachtens alles, was das Gros der geübten Leser nicht aus dem Tritt bringt. Das Schriftbild des Wortes tonangebend ist mir vertraut, es bereitet mir beim Lesen keine Schwierigkeiten. Bei einer „taktangebenden Kraft“ (immerhin denkbar) sähe das schon anders aus.

 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 01.10.2005 um 19.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1049

Auch solche Übergeneralisierungen gehen aufs Sündenkonto der Reformer (man erinnert sich noch mit Freude an Hofrat Blüml, der die Schreibung Tier liebend propagierte). Daß sie nicht im Duden stehen, liegt in der Natur der Sache. – Es heißt übrigens eigentlich taktgebend usw., für die Katachrese den Takt angeben usw. lassen sich aber auch jede Menge Belege finden.

 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 01.10.2005 um 20.08 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1050

Meine „Übergeneralisierung“ geht nicht aufs Sündenkonto der Reformer, sondern auf mein Konto.

 
 

Kommentar von Martell, verfaßt am 02.10.2005 um 13.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1051

Übergeneralisierung ist ja verwandt mit Regelungswut. Und diese wiederum ist eine Folge jener Eigenschaft, die irgendwann einmal die Überlebenswahrscheinlichkeit ihrer Träger wesentlich erhöht hat: Abstraktionsvermögen.

Wissen schaffende Systeme werden umso mächtiger, je systematischer sie vorgehen. Da es einfacher ist, eine Regel anzuwenden, als im Verzeichnis nachzuschlagen, wurden Wörterbücher irgendwann um Regelteile erweitert. Leider haben es Autoren oft versäumt, den Haftungsausschluß „ohne Gewähr“ zu nennen, geschweige denn zu begründen. Wörterbücher bräuchten aber keine Regelteile.

Wenn schon alte Strukturen nicht geschlossen zu abstrahieren waren, so sind es später entwickelte offensichtlich in immer geringerem Maße. Folgt doch die Entwicklung der Sprache nicht Regeln, sondern Zwecken.

Ob in den 1960er Jahren der Name „Betonungsunterschied“ [z.B. zwischen dagegenhalten und dagegen halten] das gleiche bezeichnet hat wie im Jahr 2005, ist nicht belegt. Schrift folgt(e) der Rede, und manchmal drängen Nachfolger ihre Vorgänger zurück.

 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 03.10.2005 um 08.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1054

Zu Achenbach (Nr. 1043): Was bedeutet das intransitive "wir müssen dagegenhalten"? So etwas wie "Wir müssen dagegen sein"? Ich bin mit dem Ausdruck nicht vertraut. Wenn jedoch Ausdrücke gemeint sind wie "Wir müssen [dem] dagegenhalten, daß hier die Tendenz zur Zusammenschreibung mehr und mehr zum Tragen kommt", dann ist auch hier der Gebrauch von "dagegenhalten" transitiv. Nur ist hier das direkte Objekt ein Nebensatz, während es in "'seine Meinung dagegenhalten' und 'den Stein dagegen halten'" ein Nominalausdruck ist, der Fälle hat. Transitiv bedeutet nicht (auch da liegen viele Grammatikbücher falsch), daß die ausgedrückte Aktivität in ein Akkusativobjekt "übergeht", sondern daß das Verb ein direktes Objekt hat. Das mit dem "Akkusativ" kam nur in die Diskussion, weil eben Dativobjekte (indirekte Objekte) hier ausgeschlossen werden mußten. —
Die Benutzung der eher englischen Terminologie (direktes Objekt, indirektes Objekt statt durch Fälle gekennzeichnete Objekte) läßt einen die Problematik hier leichter sehen: So "ist die Neigung zur Zusammenschreibung vielleicht noch um einen Hauch stärker", wenn das Objekt nicht ein (kurzer) Nominalausdruck ist, sondern ein Nebensatz.

Zu Hermanns und Störigs Kritik an der Tendenz, durch „Zusammenrücken und Zusammenschreiben immer neue Wortungetüme“ entstehen zu lassen (Martell, Nr. 1038): Die Furcht ist unbegründet. Denn diese "Wortungetüme" entstehen nur als Witz oder aber bei Leuten, die nicht vorbildlich sprechen, nämlich so, daß andere sie leicht verstehen (und das ist etwas, was jeder eigentlich will). Wenn keiner mehr zuhört, wenn da sich jemand über den Eisenbahnlokomotivführer und was immer noch mit ihm los sein mag, ausläßt, dann merkt der Sprecher schon, was los ist, und erlebt die Interesselosigkeit der Angesprochenen als Korrektiv, und sein "Beitrag" zur Sprache ist eben keiner.
Mark Twain irrt, wenn er behauptet, manche deutschen Wörter seien so lang, sie hätten Perspektive. "Classroom door keys" ist fürs lesende Gehirn genauso lang wie "Klassentürschlüssel", nur haben wir eben die Regel, daß wir Komposita von Substantiven, die durch Substantive modifiziert werden, zusammenschreiben, und zwar immer, während im Englischen ein Wörterbuch zwar "boyscouts" zusammenschreibt, das diesen "boyscouts" entsprechende "girl guides" aber auseinander. Doch das soll uns hier keineswegs stören, denn Eversberg (Nr. 1031) hat durchaus recht, wenn er sagt: "Im Englischen gibt es wohl kein vergleichbares Empfinden für das enge Zusammengehören zweier Wörter (phrase), jedenfalls resultiert daraus kein Drang zum Zusammenschreiben."
Zum Dienst an der "Entwicklung unserer Sprache": Die hat sich ganz schön entwickelt – unter anderem auch natürlich, weil bei der Sprache eben nicht nur die Sprecher, sondern auch die Zuhörer etwas mitzureden haben.

Noch zu den "Ausländern": "Dies diene weder der Entwicklung unserer Sprache noch ihrer Erlernbarkeit für Ausländer." Daß die Japaner chinesische Schriftzeichen verwenden (und zwar sehr leicht und erfolgreich, wie ich beobachte), dient auch nicht gerade meinem leichten Erlernen der Verschriftung des Japanischen. Dennoch würde ich gern lernen, was die Japaner können, und nicht etwas, was sie nicht haben. Richtig ist aber in dieser ganzen Argumentation: "In begründeten Zweifelsfällen sollte man deshalb lieber getrennt schreiben." Doch Ausdrücke wie "Lieschenmülleranalogiebildungs- und Regelungswut" sollten wir schon lassen stahn.

Noch zu "'fallenlassen' oder 'fallengelassen'" (Nr. 1043): In Perfektsätzen benutzen unsere modalen Hilfsverben ein Perfektpartizip, das, wenn ein Infinitiv davon abhängt, genauso aussieht wie der Infinitiv (er hat nicht kommen können), das starke Perfektpartizip (Endung: -en!), ohne das "ge-" des schwachen Perfektpartizips (er hat das nicht gekonnt). Unser "er hat es fallenlassen" (neben "er hat es fallengelassen") zeigt auch bei "lassen" die Form des Perfektpartizips ohne "ge-" — die ich für die bessere halte (zusammen mit dem alten Duden). Aber das heißt nicht, daß man "sie hat ihn sitzen gelassen" nicht verstünde, und ich höre es auch; wie ich auch höre "er hat es nicht ausdrücken gekonnt".
Aber auch in anderen germanischen Sprache kommen einige Verben in ihrem Gebrauch nahe an die modalen Hilfsverben heran: "he need not come" neben "he doesn't need to come", "he dared not come" neben "he didn't dare to come" und "Wer 'brauchen' ohne 'zu' gebraucht, braucht 'brauchen' überhaupt nicht zu gebrauchen." Viele tun's aber doch, und deshalb bin ich bei "er hat es nicht ausdrücken gekonnt" tolerant, zumal Dialekte bei uns in dieser Frage durchaus nicht alle den "Regeln" der bereinigten Hochsprache folgen.

Diese Fragen haben mir keine Ruhe gelassen, und deshalb hab ich mir's nicht nehmen lassen, darauf etwas einzugehen. Oder hätte ich doch nicht lieber diese Themen einfach fallenlassen sollen?

 
 

Kommentar von Klaus Achenbach, verfaßt am 03.10.2005 um 17.06 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1066

Nach den sehr treffenden und vielseitigen Anmerkungen von Herrn Ludwig bringe ich es doch nicht übers Herz, die von ihm angesprochenen Themen "fallenzulassen".

M.E. wird "dagegenhalten" tatsächlich intransitiv im Sinne von "dagegen auftreten", "sich dagegenstellen" verwandt. Beispiel: "Dieser Vorschlag ist völlig verfehlt. Wir müssen in der Beratung unbedingt dagegenhalten."

Zu "fallengelassen/fallenlassen": Mir ist natürlich vollkommen klar, daß es die beiden Perfektformen bei bestimmten Verben gibt. Ich stelle mir nur die Frage, wonach es sich wohl richtet, welche Form wann möglich ist und warum man die eine oder andere bevorzugt. So neige ich eher dazu, zu sagen: "Ich habe den Teller fallengelassen." Andererseits würde ich nie sagen: "Ich habe ihn gewähren gelassen." Mein Duden von 1961 sagt dazu: "Bei einigen dieser Zeitwörter gebraucht man daneben auch schon die Form auf ge-:" Als Beispiel wird aufgeführt: "Ich habe ihn kennengelernt." Hat denn jemals irgendjemand gesagt "Ich habe ihn kennenlernen"?

Sehr zutreffend sind auch die Ausführungen von Herrn Ludwig zu der Aneinanderreihung von Substantiven im Englischen. In der Tat gibt es zwischen beiden Sprachen hierbei große Ähnlichkeiten. So ist "fire insurance company" bis auf die Getrenntschreibung fast identisch mit "Feuerversicherungsgesellschaft" - mit einer kleinen, aber bedeutenden Ausnahme: dem Fugen-s. Die Fugenelemente sind vielleicht eine der Ursachen dafür, daß solche Fügungen im Deutschen zusammengeschrieben werden. Ein weiterer, vielleicht noch zwingenderer Grund ist, daß im Deutschen häufig Wortstämme bei der Zusammensetzung gebraucht werden. Im Gegensatz zum "wool coat" kann man im Deutschen unmöglich "Woll Mantel" schreiben, weil es ein selbständiges Wort "Woll" nicht gibt.

Bei anderern Arten der Zusammensetzung, z. B. Adjektiv-Substantiv, sind die Verhältnisse noch ähnlicher. Ein "blackbird" ist eine bestimmte Vogelart, ein "black bird" ist ein schwarzer Vogel. Völlig gleichartig wie im Deutschen werden beide Fügungen auch unterschiedlich betont. Deshalb ist der "Drang zur Zusammenschreibung" in beiden Sprachen nicht gar so unterschiedlich.

Im Englischen spielt ferner der Bindestrich häufig eine ähnlich Rolle wie im Deutschen die Zusammenschreibung. Man beachte dazu die mehrseitigen Ausführungen zum Bindestrich in Fowlers "Modern English Usage". So könnte man bei dem Beispiel "classroom door keys" überlegen, ob die Schreibweise "classroom-door keys" nicht vorzuziehen wäre. Warum sollte classroom überhaupt zusammengeschrieben werden? Warum nicht "class room door keys? Oder vielleicht "class-room-door keys" oder "class-room door-keys"? Auch die Engländer haben es nicht leicht.

 
 

Kommentar von H. J., verfaßt am 03.10.2005 um 20.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1068

In englischen Fachsprachen sind Mehrwortbezeichnungen/Mehrwortbenennungen (Sammelbegriff für "terminologische Wortverbindungen", "terminologische Wortgruppen", "Wortgruppentermini" - s. R. Beier, Englische Fachsprache, S. 47 ff.) gang und gäbe, wobei siebengliedrige MWB der Grenzfall zu sein scheinen. Ab Dreigliedrigkeit besteht die Tendenz, die ersten beiden Glieder (und nur die) mit Bindestrich zusammenzuziehen, also: "air gap", aber: "air-core reactor", "air-spaced coaxial cable"; natürlich "central processing unit", wohl aber "central-station generator". Der eine Bindestrich wirkt also als Signal, daß die ganze Verbindung als einheitliche Benennung zu lesen ist, etwa "current-limiting silversand fuse", "earth-leakage circuit breaker", "glow-type starter switch".

 
 

Kommentar von Roger Herter (Schweiz), verfaßt am 04.10.2005 um 03.25 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1069

Herr Achenbach fragt sich, ob jemals jemand gesagt habe: "Ich habe ihn kennenlernen." Aber sicher - zumindest geschrieben! Allerdings wäre die Univerbierung hier wohl rückgängig zu machen, denn diese kommt m.E. um etwa die selbe Zeit auf (50er Jahre), in der jene mit dem Infinitiv gebildete Perfektform ausser Kurs gerät.
Also beispielsweise: "Ich erinnere mich noch genau des Tages, da wir einander haben kennen lernen." (19. Jh.; gewiss weit älter.)

(Wie nenne ich übrigens den gegenläufigen Vorgang, wenn sich ein Wort - sagen wir "zuguterletzt" [auch seit ca. 1950 aus den, jedenfalls meinen, Wörterbüchern verschwunden] in "zu guter Letzt" - auflöst? Diverbierung?)

"Er hat von sich reden machen" (statt "...gemacht"), klingt vielleicht schon weniger befremdlich; das dritte Beispiel aus dem genannten Duden (1961) schliesslich ist in meinen Ohren nicht veraltet: "Ich habe ihn schreien hören." (Neuer angeblich: "...gehört.")

Abschliessend noch ein Wort zu Herrn Icklers Frage (da sich offenbar niemand an die Wäsche wagt): Dessous, ob Ez. oder Mz., spricht sich ungefähr "dössú", d.h. in jedem Fall mit stummem Ende - genauso wie "Fauxpas" und ungezählte andere. (Auch das wusste der Duden von 1961 noch!)

Ich vermute allerdings, Leute, die allen Ernstes "Pommess" essen, tragen - "Fopass" hin oder her - "Dessuss". (Und diejenigen, die sich einen Hauch von Chic geben wollen, sprechen den Auslautkonsonanten besonders zierlich stimmhaft...)

 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 04.10.2005 um 03.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1070

»Ohne mich würde Sara diesen gefährlichen Mann nicht haben kennen lernen.« (Lessing)
». . . als er nach dem leichtsinnigen Knaben fragte, den wir in der Gestalt eines Perückenmachers haben kennenlernen. . .« (Goethe)
»Diese Einigung drittens entspricht dem, was wir bereits als das Ideal der klassischen Kunstform haben kennenlernen . . .« (Hegel)

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.10.2005 um 05.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1071

Hier geht es um den sogenannten Ersatzinfinitiv - so genannt, weil er anstelle eines Partizips II steht. Ein vielbehandeltes Thema der deutschen Grammatik, die Ursprünge sind immer noch nicht ganz aufgeklärt. Zuletzt haben sich Peter Eisenberg und zu allerletzt Hans-Werner Eroms (in der Festschrift für Susuma Zaima, Tübingen 2005) damit beschäftigt. Wer sich dafür interessiert, kann mir eine Mail schreiben, dann schicke ich ein paar Seiten von mir selbst zu diesem überaus komplizierten Gegenstand.

 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 04.10.2005 um 08.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1072

Roger Herter, Schweiz: Dessous, ob Ez. oder Mz., spricht sich ungefähr "dössú", d.h. in jedem Fall mit stummem Ende - genauso wie "Fauxpas" und ungezählte andere. (Auch das wusste der Duden von 1961 noch!)
Ich vermute allerdings, Leute, die allen Ernstes "Pommess" essen, tragen - "Fopass" hin oder her - "Dessuss". (Und diejenigen, die sich einen Hauch von Chic geben wollen, sprechen den Auslautkonsonanten besonders zierlich stimmhaft...)


Ich kann mir gut vorstellen, daß man in der Schweiz Dessous auch im Plural meistens ohne s-Laut spricht. Die Schweizer sind mit dem Französischen besser vertraut, stärker davon beeinflußt, sie kommen damit auch indirekt viel öfter in Berührung: Für einen Schweizer mit französischer Muttersprache ist es selbstverständlich, ohne s-Laut zu sprechen. So hören es seine deutschschweizerischen Bekannten und deren Bekannte, von denen auch viele Französisch sprechen, und machen es genauso.

Bei uns in Deutschland ist das anders. Wir werden viel stärker vom Englischen beeinflußt, von dem aus wir einen s-Laut überall dort anhängen möchten, wo er im Plural in Frage kommt oder gar zur Erkennung des Plurals erforderlich ist. Das ist bei Dessous der Fall. Es spricht überhaupt nichts dagegen, genausowenig wie dagegen, die französische Aussprache zu verwenden (auch im Plural kein s-Laut). Der Duden stellt es richtig dar. Ob die Aussprache ohne s-Laut um 1960 noch Standard war, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls ist auch dies nichts Befremdliches: Ein Fremdwort wird zunächst eher so ausgesprochen wie in der fremden Sprache; im Zuge der Integration wird es der heimischen Aussprache stärker oder am Ende vollständig unterworfen. So ißt man hierzulande selbstverständlich "Pommes" und nicht "Pomm"; andererseits natürlich "Pomm frit" und nicht "Pommes frittes" oder "Pommes Fritz".

Die Pommes sind auch in einer anderen Stilschicht angesiedelt als der Fauxpas - fremdsprachlich gebildete Sprecher verwenden eher die originale Aussprache -, bei dem noch hinzukommt, daß er ganz überwiegend im Singular auftritt, weshalb man die Aussprache ohne s-Laut als Standard empfindet. Und schließlich vermittelt auch das Schriftbild bei Fauxpas einigen Widerstand gegen Eindeutschungstendenzen.

Zu Siena: Für solche Städtenamen gibt es ja oft genug deutsche Formen: Mailand statt Milano, Turin statt Torino, Padua statt Padova usw. Die ersteren sind in unseren Gefilden Standard. Dasselbe dürfte für die Aussprache gelten, zum Beispiel bei Siena. Wenn jemand seine spezielle Verbundenheit mit der Toskana herausstreichen oder seine Italienischkenntnisse demonstrieren möchte oder wenn er ganz und gar vom Erlebnis des Italienischen überwältigt ist, wird er Siena mit einem langen ä aussprechen. Das Wörterbuch könnte das allenfalls als Nebenvariante verzeichnen, müßte aber dann bei allen möglichen fremden Namen so verfahren: London auch als [landn], Paris auch als [par'i] usw. Das ist ein Holzweg. Offensichtlich steht viel Mist im neuen Wahrig.

 
 

Kommentar von Pavel Nemec, verfaßt am 04.10.2005 um 13.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1073

Bei 'lassen' kann augenscheinlich die Sprachentwicklung am lebenden Objekt beobachtet werden: In älteren Grammatiken findet man noch den Hinweis: "Bei den modalen Hilfsverben: 'dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen', ebenso bei: 'brauchen, heißen, hören, lassen' und 'sehen' tritt statt des Partizip Perfekts der Infinitiv ein, wenn sie mit einem vorangehenden Infinitiv verbunden sind. In früheren Zeiten waren bei 'lassen' und auch bei 'heißen' und 'sehen' Infinitiv und Partizip Perfekt formengleich. An diese Verben haben sich die anderen erwähnten im Gebrauch des Infinitivs statt des Partizip Perfekts angeglichen." Die Sprachentwicklung scheint in diesen Fällen bei 'brauchen, heißen, hören, lassen' und 'sehen' zum Partizip Perfekt zu gehen.

 
 

Kommentar von Karsten Bolz, verfaßt am 04.10.2005 um 16.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#1074

Mir wird nachgesagt, daß ich ein ziemlich klares Hochdeutsch spreche. Bei mir sind es in der Aussprache immer noch "das Dessous" (Ez.) ohne Endungs-s und "die Dessous" mit "scharfem" s wie in Fuß. Das höre ich auch so in meinem Umfeld.
"siena" und die Stadt "Siena" unterschiedlich auszusprechen, käme mir auch nicht in den Sinn. "siena" spreche ich wie "Siena" als siëna mit langem e. Vielleicht sprechen die Bewohner von Siena tatsächlich von Siäna, aber ich rede doch auch nicht von Bari, wenn ich die Hauptstadt Frankreichs meine.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.02.2014 um 17.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#25183

Ich hatte erwähnt, daß Hans Werner Eroms sich vor einiger Zeit mit dem Ersatzinfinitiv beschäftigt hat: „Die Serialisierung im Modalverbkomplex“. In: Narita, Takashi u. a. (Hg.): Deutsch aus ferner Nähe. Japanische Einblicke in eine fremde Sprache. Fs. für Susumu Zaima zum 60. Geb. Tübingen 2005:17-39.

Den Satz

Und niemand habe ausfindig gemacht werden können.

formt er, unter Rückgängigmachung des Ersatzinfinitivs, so um:

Niemand habe ausfindig gemacht gekonnt werden.

Das ist aber nicht richtig. Es müßte heißen

Niemand habe ausfindig gemacht werden gekonnt.

In diesem Bereich verhaspeln sich viele. So hält ja auch Inger Rosengren daß sie die Jägerprüfung hat ablegen müssen und daß sie die Jägerprüfung abgelegt haben muß für bloße Stellungsvarianten mit unterschiedlichen Folgen für den Status des regierten Verbs. Die Sätze haben aber verschieden Bedeutungen, denn hat müssen (= gemußt) ist nicht dasselbe wie muß haben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.01.2016 um 08.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#31234

Noch einmal zu Dessous, diesmal semantisch. Das Wort Wäsche (Unterwäsche usw.) ist ja ziemlich seltsam motiviert und stammt wohl aus Zeiten, als man das Waschen auf diesen Teil der Kleidung beschränkte. Jedenfalls macht es niemanden an. Dazu wird die Reizwäsche gebildet, die aber ein bißchen nach Prostitution klingt. (Dem Mann die Hausbar, der Frau die Reizwäsche?)
Wikipedia stellt nüchtern fest: Die Funktion der Reizwäsche geht über den Gebrauchswert der üblichen Unterwäsche hinaus.
Dessous und Lingerie bedeuten eigentlich auch nichts anderes als Unterwäsche, und so benannte Geschäfte oder Kaufhausabteilungen bestätigen es. Zugleich changieren sie ins Erotisch-Fetischistische: Lingerie are women's undergarments, and may imply their being fashionable and alluring (Wikipedia).
Wesentlich ist dabei die Herkunft aus dem Französischen, also aus dem Land der phantasierten Frivolität (wie der Orient durch die Haremsphantasie geprägt war und trotz gegenwärtiger Erfahrungen immer noch ein bißchen ist).
(Die Lexikoneinträge über "Feinripp mit Eingriff" usw. sind so lustig zu lesen wie die Abbildungen anzuschauen; das Sexuelle ist außerhalb seines Kontextes eben einfach komisch.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.12.2017 um 08.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=237#37200

Ältere Benimmbücher sind ja längst Gegenstand soziologischer Forschung. In einem Buch aus den sechziger Jahren, Bearbeitung eines noch älteren, ist wirklich an alles gedacht, außer an Sex. Wie man serviert, kondoliert usw.
Die Ehefrau ist im Normalfall zu Hause und sorgt dafür, daß der Mann nach der Arbeit alles sauber und gemütlich vorfindet. Hausarbeit ist vorher zu erledigen, der Mann will seine Frau nicht beim Putzen und Aufräumen sehen. Auch soll sie nicht glauben, ihre nicht mehr so neuen Kleider zu Hause auftragen zu können. Schon mit Rücksicht auf Postboten an der Haustür soll sie jederzeit adrett aussehen. Für das gemeinsame Frühstück gibt es hübsche Morgenmäntel, sonst auch allenfalls ein Schürzchen. Schminkt sie sich in der Öffentlichkeit (dezent! – ein paar Jahre früher schminkte sich die deutsche Frau überhaupt nicht), dann darf sie auch zu Hause ihrem Mann nicht ungeschminkt unter die Augen kommen, sonst kommt er auf falsche Gedanken.
 
 

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