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Stefan Stirnemann
Vom Umgang mit Irrtümern
Betrachtungen zur jüngsten Version der Rechtschreibreform

Die wichtigste Kritik an der seit 1996 laufenden Rechtschreibreform betrifft deren inhaltliche Inkonsistenz: Die Regeln sind auch in diesem Juni in wesentlichen Bereichen geändert worden. Nach vielen Änderungen, die sich nur den verschiedenen Auflagen der Wörterbücher entnehmen liessen, haben im Juni die deutschen Kultusminister, die offenbar auch für die Schweiz entscheiden, weitgehende Eingriffe in das Regelwerk gutgeheissen. Man muss, vor allem im Bereich des Getrennt- und Zusammenschreibens, von einer eigentlichen Zurücknahme der neuen Regeln sprechen. Im neuesten Duden, der Ende August erschien, zeigen sich die Folgen - aber erst zum Teil: Die Reformkommission hat die fällige Überarbeitung des Regelwerks noch nicht abgeschlossen, so dass der Umfang der Änderungen noch unklar ist. Jedenfalls sind jetzt alle Darstellungen der neuen Rechtschreibung in wesentlichen Teilen überholt oder unvollständig. Ein Beispiel: Im »Leitfaden zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung«, den die Bundeskanzlei im Jahr 2000 in zweiter, erweiterter Auflage herausgab, werden vorgeschrieben: allein stehend (Ziffer 18), Rat suchend (Ziffer 13), die erste Hilfe (Ziffer 42), binnen kurzem (Ziffer 35), 15fach (Ziffer 28). Seit Juni gilt in diesen Fällen auch: alleinstehend, ratsuchend, Erste Hilfe, binnen Kurzem, 15-fach; die entsprechenden Ziffern (und weitere) müssen überarbeitet werden. Überholt ist auch das Wörterverzeichnis des Leitfadens; allein auf der zufällig aufgeschlagenen Seite 56 sind zu ergänzen: einwärtsgebogen, eisenverarbeitend, ekelerregend, engbefreundet, engbedruckt, englischsprechend, erdölexportierend, erholungsuchend, ernstgemeint, ernstzunehmend. Mit Ausnahme von ekelerregend und erholungsuchend schloss der Duden 2000 alle diese Wörter noch als »alte Schreibung« aus.

Auch neue Schulbücher sind veraltet

Überarbeitet werden müssen auch ganz neu erschienene Schulbücher. In der »Sprachwelt Deutsch« der interkantonalen Lehrmittelzentrale (1. Ausgabe 2003) steht z. B. im Abschnitt »Kleinschreibung« der Satz: »Die meisten wollen einfach in den Ausgang.« Jetzt soll betont werden, dass auch Grossschreibung möglich sei: »Die Meisten stimmten seiner Meinung zu.« Der Abschnitt muss also angepasst werden. Im selben Buch wird die Regel wiedergegeben, dass Adjektive auf -ig, -lich, -isch vom folgenden Wort getrennt zu schreiben seien. Seit Juni gilt diese Regel indessen so nicht mehr: Bildungen wie übriggeblieben sind wieder zugelassen. In einer teuren Unterrichtshilfe (2003) werden als »Besonders knifflig« Wörter aufgeführt, die man in Verbindung mit bestimmten anderen Wörtern gross schreibe: »Unrecht haben« oder »Leid tun«. Seit Juni ist jedoch auch »leidtun« richtig, »unrecht haben« aber noch nicht. Betroffen von den Änderungen sind viele hundert Einträge im Duden und mehrere tausend Wörter unserer Sprache. Die Lehrkräfte würden, so sagte der Vorsitzende der Reformkommission, ein österreichischer Gymnasiallehrer, über E-Mail »schnell und kostengünstig« ins Bild gesetzt.

Diesen Änderungen müssen in absehbarer Zeit weitere folgen. Das ist auch der Reformkommission mindestens zum Teil bewusst. In ihrem vierten Bericht steht zur Kommasetzung, dass hier vorläufig keine Änderungen vorgesehen seien. Der »Beirat« der Kommission gibt in einer Stellungnahme den Grund solcher Zurückhaltung an: »Der Beirat empfiehlt, die Änderungen in einem Rahmen zu halten, bei dem die Auswirkungen der Regelmodifizierungen nicht zu einer erneuten öffentlichen Infragestellung der Neuregelung führen können.« In diesem Beirat sind die grossen Wörterbuchverlage vertreten; sie fürchten wohl um ihr Geschäft.

Öffentlichkeit nimmt die Regeln nicht an

Ein Hinweis auf die »Neue Zürcher Zeitung« genüge zur Begründung dieser Behauptung: Mit Gemse, Stengel, behende, greulich, sitzenbleiben, achtgeben, not tun und Trennungen wie kon-struieren sind hier Kernstücke der Reform zurückgewiesen. Das gilt auch für das Komma vor Infinitiven: »Da es uns wichtig ist, der Leserschaft einen klar gegliederten Satz zum Lesen zu unterbreiten, werden wir in der NZZ an der bisherigen Regelung mit Komma festhalten.»

Nach den neuen Regeln kann somit nicht rekursfest korrigiert werden. Das Zählen und Werten von Fehlern ist aber auch keineswegs die Hauptaufgabe der Schule. Recht verstanden bezeichnet das rote Strichlein einen Verstoss gegen die Wirklichkeit, der, durch Nachdenken oder geduldiges Üben, vermieden werden soll. Der Vorsitzende der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), Regierungsrat Hans Ulrich Stöckling, hielt im Gespräch mit den »Schweizer Monatsheften« fest, dass die Schule verbindliche Regeln brauche. Verbindliche Regeln stellen sicher, dass Schülerinnen und Schüler das lernen, was der Wirklichkeit entspricht, und schützen sie vor Willkür. Die neuen Regeln leiten die Schule aber keineswegs zur Wirklichkeit an; sie werden nirgends vollständig umgesetzt und am wenigsten in den Werken der Literatur. Ihre Unverbindlichkeit zeigt sich auch darin, dass sie nach kurzer Zeit geändert werden mussten.

Die Wiener Absichtserklärung von 1996 ist im Urteil von über 60 Rechtswissenschaftern ein »juristisches Nullum«. Wohl deswegen trägt das EDK-Dossier 42 («Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung») den Vorbehalt: »Der Bericht hat vorwiegend Informationscharakter.« Es ist auch fraglich, ob der Gegenstand der Absichtserklärung, das Regelwerk von 1996, nach den neuesten Änderungen überhaupt noch vorhanden ist. Es hat bisher zudem keine echte Vernehmlassung gegeben. Ein Beispiel für diese Behauptung sei die »Anhörung«, welche zum vierten Bericht der Reformkommission stattfand. 25 dieser Berichte hat der Sachbearbeiter der EDK »vertraulich« an nicht genannte Personen geschickt. Die Auswertung bietet allgemeine Sätze wie: »Grossmehrheitliche Zustimmung erfährt die Reform vorab bei den Unterrichtenden aller Stufen.« Dies wurde zu einer Vorlage gesagt, die das, was da »grossmehrheitliche Zustimmung« erfuhr, in wesentlichen Punkten abänderte. Die Kritik wird kurz abgefertigt: »Gewisse Widerstände weckte die Neuregelung eigentlich ausschliesslich bei schreiberfahrenen älteren Sprachteilhabern im Privatgebrauch.« Von einem Maturanden wird erwartet, dass er in seiner Matura-Arbeit Tatsachen von Meinungen trennt und Belege anführt. Zum Verfahren passt aber, dass die Reformkommission nach durchgeführter Anhörung sehr wohl weitere Änderungen vornahm. Die Reform verfälscht Bedeutung und Gewicht zahlloser Wörter. Im Duden 2000 steht neben dem reformierten viel versprechend gleichberechtigt vielversprechend. Das ist grundsätzlich falsch: Man vergleiche dazu nur schon etwa eine »vielversprechende Schriftstellerin« mit einem »viel versprechenden und wenig haltenden Gedichtanfang«. Der Duden 2004 gibt in zahllosen weiteren Fällen die Wahl frei, als ob es sich um orthographische Varianten handelte (wie Delphin oder Delfin).

Wenige andere Beispiele: Warum behandeln die Reformer in Lichtenbergs Satz Gleiches verschieden: »Es tun mir viele Sachen weh, die anderen nur Leid tun«? Und warum bei Erich Kästner Verschiedenes gleich: »Sie haben Recht. Doch das Recht, den ersten Stein gegen uns aufzuheben, das haben Sie nicht!« Und wie lange noch gilt eigentlich die Differenz zwischen »Ich bin dir Feind« aber »Ich bin dir spinnefeind«? Solche Vorschriften legen gerade den Anfängern lediglich schwere Stolpersteine vor die Füsse.

Einheitliche Rechtschreibung gestört

Von 1901 an, dem Jahr der Berliner Konferenz, bis 1996 erschienen Zeitungen, Literatur und Schulbücher in einer einheitlichen Rechtschreibung. Heute findet man auf einer Schulbuchseite dreimal selbstständig und einmal selbständig und fragt vergeblich, wozu das gut sei. Offenbar ist auch für solche Widersprüche der Staat nicht zuständig. Nach ihrem Beschluss vom Juni teilten die Kultusminister lediglich mit: »Für den Fall Leid tun wird die neue zusätzliche Variante leidtun eingeführt. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sich eine eindeutige Entscheidung für adjektivischen und substantivischen Gebrauch nicht treffen lässt.« An einer solchen Erklärung ist erstens erstaunlich, dass Bildungspolitiker öffentlich Wortarten bestimmen, und zweitens, dass sie es eigentlich gar nicht können. Schon ein Schulwörterbuch von 1796 führt nämlich »Es thut mir leid« als adjektivischen Gebrauch an; die Erkenntnis ist natürlich älter. Der Staat schafft den Rahmen, in welchem alle Wissenschaften frei ihre Arbeit tun können; eingreifen darf er nicht, sofern er selber frei bleiben will.

Es muss jetzt gehandelt werden

Die letzten acht Jahre zeigten, dass die Reformkommission eine stark fehlerhafte Arbeit abgeliefert hat und mit ihren Fehlern im sprachlichen Alltag auch nicht umgehen kann. Ihr Weg mit bisher drei sonnengelben Duden-Meilensteinen ist zudem viel zu teuer, zumal in einer Zeit, in welcher unseren Schulen ganze Wochenstunden weggespart werden. Unabhängig von den Entscheidungen, die in Deutschland in der nächsten Zeit gefällt werden, müssen unsere Behörden nun dringend dafür sorgen, dass an den Schulen im Sprachunterricht wieder Ordnung und Zuverlässigkeit herrschen. Die neuen Regeln dürfen nicht in dieser Form für die Schule verbindlich werden; unabhängige Wissenschafter müssen sie überarbeiten. Da die Reformer selbst der Schule Änderungen zumuten, ist es vernünftig, jetzt (nicht in zehn Jahren) so zu ändern, dass wieder für lange Zeit Ruhe herrschen kann. Bis sich die Lage in diesem Sinne geklärt hat, sollten Schulen und Ämter keine neuen Wörterbücher kaufen.

Neue Zürcher Zeitung, 28. 9. 2004

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