08.08.2009

»Nur noch 112 Grammatikregeln«

Sprache ist viel mehr als Orthografie

Am 1. August trat auch in der Schweiz die neue Rechtschreibung in Kraft. «Notenrelevant» für die Schüler. Also aufgepasst mit den Fussangeln und orthografischen Stolpersteinen.

Liebe Schüler. Wenn ihr jetzt dann wieder in eure Klassenzimmer zurückkehrt, dann passt auf bei Sätzen wie diesen: «Es tut mir Leid, aber es ist mir zu aufwendig, euch jedesmal zu sagen, ihr sollt die wohlbekannten greulichen gräulichen T-Shirts wegwerfen - schliesslich seid ihr selbständig.» Da drin sind seit dem 1. August so viele Fehler versteckt, dass eine genügende Note akut gefährdet wäre. Jetzt ist sie bei uns endgültig angekommen, die neue Rechtschreibung. Die Lehrer, die in den letzten drei «Übergangsjahren» Fehler, die gegen die neuen Regeln verstiessen, zwar anstreichen, aber nicht bewerten durften, werden jetzt knallhart durchgreifen. Und kein Couvert, keinen Panther oder Delphin, keine Schiffahrt und keinen Masstab mehr dulden.

Dass diese Neuregelung der deutschen Sprache nicht ohne Nebengeräusche abgeht, zeigte sich bereits 1998, als die Rechtschreibreform offiziell in Kraft trat - mit einer Teilrevision 2006 und einer Übergangsfrist, die in Deutschland 2007, in Österreich 2008 und nun, ein Jahr später, in der Schweiz abläuft. Ablaufen sollte, denn bereits regt sich Widerstand. Die 2006 von Sprachwissenschaftlern und Vertretern von Medien und Verlagen gegründete Schweizer Orthografische Konferenz (SOK) regt ein Moratorium an, eine Denkpause, um das «riesige Durcheinander» des neuen Regelwerks nochmals zu überarbeiten. Am 20. August wird sich die nationalrätliche Bildungskommission die Argumente der SOK anhören, wohl wissend, dass nicht der Bund, sondern die Kantone in Schulfragen das Sagen haben.

Sprachlogik, was ist das?

Was ist denn an der neuen Rechtschreibung so falsch, oder anders gefragt, was war denn am früheren Regelwerk so viel besser als an der heutigen Version? Da gibt es natürlich Argumente zuhauf. Angefangen bei der berühmten Gemse, die wegen ihrer Abstammung von Gams zur Gämse mutierte, vom Stängel, der mit der Stange verwandt ist, vom Sprächen, das von Sprache kommt - nein, sorry, hier macht die Rechtschreibung eine Ausnahme, ebenso wie bei den Eltern, die eigentlich auch Ältern heissen sollten. Daraus folgt: Die neue Sprachregelung ist nicht logisch. Nur: War es denn die alte? Hatte sie nicht einfach den eklatanten Vorteil, dass es 100 Jahre lang keine Sprachreform gegeben hat? Dass Generationen von Schülern gelernt haben, dass «st» nicht getrennt wird (Ko-sten), «sp» (Knos-pe) aber schon? Dass Zucker und Bäcker bei der Trennung je ein Doppel-k bekommen, dass «die andern» nur klein geschrieben wird, wenn das Subjekt bereits benannt worden ist?

Ein weiteres Argument gegen die Rechtschreibreform ist die Beliebigkeit, die in der Sprache Einzug gehalten hat. Was durchaus stimmt. Heute ist es mir unbenommen, meine Spaghetti zu geniessen, während mein deutsches Gegenüber mit demselben Appetit Spagetti isst. Seit 1996 sei so viel eingeführt und wieder verworfen worden, dass niemand mehr wisse, was nun eigentlich gelte, monieren die Reformgegner. Zeitungen wie die «NZZ» bastelten sich eigene Rechtschreiberegeln, was aufwendig - oder aufwändig? - ist und im Ansatz falsch. Wie soll ein auf den ganzen deutschen Sprachraum bezogenes allgemein gültiges Regelwerk zustande kommen, wenn jeder sich auf seine «Hausorthografie» beruft? Wie soll nur schon ein Nachschlagewerk konzipiert werden, wenn zum Beispiel Rhythmus auch unter Rytmus abgelegt werden könnte?

Mehr als ein Kompromiss wird auch mit einer neuerlichen Überarbeitung des Regelwerks nicht zu erreichen sein. In der Rechtschreibung werden die phonetischen Grundsätze - schreiben, wie gesprochen wird - und die historisch-etymologischen Prinzipien - die Orientierung am Wortstamm, der Wortgeschichte - sich immer gegenseitig im Wege stehen. Da helfen nur Duden und andere Nachschlagewerke weiter. Gegen die Variantenflut, die es jedem recht machen will, sollte jedoch energischer angegangen werden.Varianten haben nur dort eine gewisse Berechtigung, wo es sich um landestypische Ausdrücke handelt. Schweizer sind froh, wenn sie ihr Portemonnaie behalten dürfen und das Münz nicht aus dem Portmonee klauben müssen.

Schreibverkehrsregeln

Wer davon ausgeht, dass die Rechtschreibung eine feste Grösse ist, der hat den Sinn der Sprache nicht begriffen. Denn Sprache ist viel mehr als Orthografie - sie ist Melodie, Farbigkeit, Mimikry und Metamorphose. Die Rechtschreibung ist nur das «Handbuch», das den Schriftverkehr koordiniert. Auch das Strassenverkehrsgesetz ist so ein Regulativ. Es hält wohl fest, wer Vorfahrt hat - fahren muss aber jeder selber. Für die Reform spricht, dass die neue Rechtschreibung nur noch 112 Grammatikregeln hat im Gegensatz zu den 212 bisherigen und dass die Kommaregeln von 52 auf gerade noch 9 «eingedampft» wurden. Das freut nicht nur kommende Schülergenerationen, sondern auch alle Fremdsprachigen, die Deutsch lernen wollen.

Liebe Schüler: Regeln sind da, um eingehalten zu werden. Aber schreiben, das ist viel mehr. Das ist Esprit, Musik und die Lust am Fabulieren.

Quelle: Zürichsee-Zeitung
Link: http://www.zsz.ch/storys/storys.cfm?vID=11053

Die Quelldatei zu diesem Ausdruck finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=thorheiten&id=158