02.04.2009

Die Welt des Christian Stang

Mister Duden

Als Kind las er Grammatiken statt Comics. Wie ein Autodidakt Rechtschreibprofi wurde

Die Welt des Christian Stang besteht aus 200 Sprachbüchern. Sie stehen wohlgeordnet in den Regalen seines Zwei-Zimmer-Apartments. Wörterbücher, Rechtschreibratgeber, Grammatikführer. Auf einem Schrank steht ein Globus. Doch das ist eine andere Welt. Wörter wie Croissant und Flambée kann er im Schlaf buchstabieren. Aber in Frankreich war er noch nie.

Christian Stang, 34 Jahre alt, Halbglatze und Silberblick, sieht sich selbst als Rechtschreibpapst. Schon an 20 Orthographiebüchern hat er mitgeschrieben. Doch ein Detail unterscheidet ihn von den anderen Autoren des Duden-Verlags: Stang ist Postbeamter. Einen Hörsaal hat er noch nie von innen gesehen.

Der Sohn eines Schlossers ist in Regensburg geboren und aufgewachsen. Er wird hier nie wegziehen. Seine Kindheit verbrachte er nicht auf dem Fußballplatz, sondern in Bibliotheken. [...] Im Diktat schrieb er Einser, ansonsten war er ein Durchschnittsschüler. Mit 14 Jahren kannte er mehr Grammatikregeln als seine Deutschlehrerin. Für das Gymnasium reichte es nicht: Seinen Ehrgeiz konzentrierte er auf die Orthographie. Auf nichts anderes.

Als Stang mit 16 seine mittlere Reife erhielt, hatte er alles ausgeliehen, was die Regensburger Bibliotheken an Fachliteratur zur deutschen Sprache hergaben. Er las Rechtschreibbücher wie andere Leute Kriminalromane. Als er Fehler in einem Wörterbuch entdeckte, teilte er das dem Verlag per Brief mit: „Hinweis zur Nachkorrektur“. Ein Mitarbeiter rief an und fiel aus allen Wolken, als sich der Kritiker als Jugendlicher entpuppte. Er gab ihm einen ersten Auftrag. Auch andere Verlage wurden auf den Autodidakten aufmerksam. Zwei Jahre später wurde sein erster Ratgeber veröffentlicht, ein 120-Seiten-Taschenbuch zur Zeichensetzung.

Die großen Verlage wie Duden und Langenscheidt schätzen Stangs unkomplizierte Ausdrucksweise, seinen unakademischen Stil. [...]

1996 wurde die Rechtschreibung reformiert, Stang freute sich. Endlich sollte alles einfacher werden, allen verständlich. Stang verfasste eine Broschüre über die orthographischen Neuregelungen, sie wurde in allen Postfilialen des Landes verteilt.

In einem Handbuch fordert er dazu auf, das Komma bei folgendem Satz zu setzen: „Er fasste den Gedanken das Abitur nachzuholen.“ Abitur. Stang hat darüber nachgedacht. Sich dagegen entschieden: „Koinä Zeit.“ Er ist zufrieden mit seinem Leben. Stang ist Beamter und bekommt außerdem so viele Aufträge, dass er manchmal bis tief in die Nacht am Schreibtisch sitzt. Er ist das Gegenteil eines Bastian Sick, der seinen Aufstieg vom Schlussredakteur zum Sprachpapst medial ausschlachtet und Sporthallen füllt. Das alles interessiert Stang nicht. [...] Als Kind war er mit seinen Eltern in Italien. Seitdem ist er nie wieder in den Urlaub gefahren. Eine Freundin hat er auch nicht. „Koinä Zeit.“

Lieber führt er seine Leser durchs Dickicht der Satzzeichen. [...] Beim Zeitungslesen ist er ebenfalls in erster Linie Korrektor. Stang geht durch die Welt und streicht im Kopf alles rot an: Falsche Apostrophsetzung auf der Tageskarte beim Italiener, falsche Pluralbildung am Werbeschild des Friseurs, Fußball mit Doppel-s, Terrasse mit einem r, aggressiv mit einem g. Überall Fehler. Nur in Stangs Universum nicht. Irgendwann will er sich ein neues Thema erschließen. Wieder eine andere Welt: die Astronomie.

Lydia Harder
F.A.Z., 1. 4. 2009, S. 9



Die Quelldatei zu diesem Ausdruck finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=thorheiten&id=150