15.09.2004


Die türkische Sprachreform

Ein katastrophaler Erfolg

Vor einhundert Jahren war Türkisch eine Sprache mit einem gewaltigen Wortschatz – übertroffen vielleicht nur noch vom englischen. Mindestens zur Hälfte bestand dieser Wortschatz aus Lehnwörtern aus dem Arabischen und dem Persischen. Das osmanische Türkisch war eine kosmopolitische Hof- und Hochsprache.

Mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs kam auch für sie das Ende. Den ethnischen Säuberungen vor Gründung der Republik im Jahr 1923 folgte in der Republik die Sprachsäuberung. Das Türkische sollte vereinfacht werden. 1928 wurde die lateinische Schrift eingeführt, 1931 das Institut für Türkische Sprache und Geschichte eingerichtet. Es hatte die Aufgabe, arabische und persische Wörter durch türkische (oder erfundene, aber türkisch anmutende) zu ersetzen. Zeitungen und Verlage beschäftigten Übersetzer, die neue, aber weiter in osmanischem Türkisch abgefaßte Texte ins Neutürkische übertrugen.

Auch Mustafa Kemal Atatürk gebrauchte in seinen Texten weiter die ihm vertrauten arabischen und persischen Wörter; Lektoren ersetzten sie dann durch Neologismen des Sprachinstituts. Bei einem Empfang im Jahr 1934 konnte Atatürk eine von ihm geschriebene und anschließend ins Neutürkische übertragene Rede selbst nicht mehr verstehen. Von da an soll er der Sprachreform mißtraut haben.

Gleichwohl ging sie weiter. Heute sind Atatürks frühe, vor der Reform entstandenen Texte selbst Universitätsabsolventen nicht mehr verständlich. Schon Klassiker der türkischen Literatur aus den dreißiger Jahren müssen ins Neutürkische übertragen werden und sind, wenn die Übertragung sich nicht lohnt, überhaupt nicht mehr erhältlich. „Bis in die achtziger Jahre“, schreibt Günter Seufert in der Berliner Zeitung, „klammerte sich die muslimisch-konservative Mehrheit an das sprachliche Erbe der Osmanen […] Gegen die staatliche Schule hatten die alten Begriffe freilich keine Überlebenschance. Die Massenmedien taten – wie überall – das Ihre zur Verflachung der Sprache. Heute ist die Ausdrucksvielfalt des Türkischen dahin. Professoren beklagen, daß der aktive Wortschatz von Gymnasiasten bei dreihundert Wörtern liege“. Die türkische Sprachreform war, wie der englische Turkologe Geoffrey Lewis in einem sehr lesenswerten Vortrag meint, „a catastrophic success“ (große pdf-Datei, englisch).



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