09.06.2019


Stefan Stirnemann

Die Bessere, Pardon, die bessere Schreibweise

Zum Stand der Rechtschreibreform – zwanzig Jahren nach ihrer Einführung und etliche Kompromisse später

Im weltweiten Netz geistert zu einer der schönsten Erscheinungen des Buchmarktes der folgende Eintrag herum: „Die andere Bibliothek (eigene Schreibweise: Die Andere Bibliothek) ist eine bibliophile Buchreihe.“
Hier versucht einer der vielen unsichtbaren Schreiber des Internets, amtstreu und dienstbeflissen die Neuregelung unserer Rechtschreibung anzuwenden, verbessert den Großbuchstaben zum kleinen und verbannt die Namensform, welche die Begründer der Reihe, Hans Magnus Enzensberger und Franz Greno, zehn Jahre vor der Rechtschreibreform wählten, in eine Klammer; die »eigene« Schreibweise wird zur eigentümlichen, d.h. sonderbaren, jetzt überholten und deswegen verbotenen.

Hätte der heutige Herausgeber der Anderen Bibliothek, Christian Döring, eine amtliche Lizenz einholen sollen, den Verlagsnamen weiter zu verwenden? Der Vorgang ist ein Symbol: Was als Vereinfachung behauptet wurde, sorgt noch nach zwanzig Jahren und etlichen Überarbeitungen für Verunsicherung, und noch immer werden reihenweise Ausdrucksmöglichkeiten und ganze Wörter unserer Sprache von Amtes wegen ausgeklammert.

Das Regelwerk selber, das vor zwölf Jahren vom Rat für Rechtschreibung als Kompromiss vorgelegt wurde, ist noch immer in Arbeit. Einen der Paragraphen, welche die Verwendung des großen Buchstabens darstellen sollen, hat der Rat aus dem Verkehr gezogen und an seine Stelle das vornehme lateinische „vacat“ gesetzt. Die Formel bedeutet an sich „es ist leer, es fehlt“, doch es fragt sich, was sie hier anzeigen soll: eine Problem im Aufbau der Regelung? Ratlosigkeit im Inhalt? Das Vorbereiten neuer Schreibbefehle?

An der Schwelle zur Öffentlichkeit

Die Grundfrage dieser sogenannten Reform finde ich von Christian Morgenstern angesprochen. Als der Dichter der Galgenlieder im Jahre 1906 für den Verlag Bruno Cassirer die Korrekturen von Robert Walsers Roman Geschwister Tanner las, schrieb er dem sieben Jahre jüngeren Schweizer: „Der Anfang Ihrer Arbeit machte auf mich, aus dem Privatgebiet des Handschriftlichen in die Öffentlichkeit des Drucks gerückt, einen schlechten Eindruck.“ So ist es, es gibt das Privatgebiet, wo jeder nur für sich schreibt: Einkaufszettel, Notizen, Tagebuch; wer in die Öffentlichkeit tritt, wer gedruckt werden möchte, muss sich an Vorgaben halten. Was aber dürfen diese Vorgaben betreffen, und wer gibt sie weiter? In Christian Morgenstern hatte Walser keinen Rechthaber und Befehlsgeber, sondern einen erfahrenen und gewissenhaften Berater. Heute ist es der Staat, der mit undurchdachten Vorgaben in die lebendige Entwicklung der Sprache und ihrer Ausdrucksmittel eingreift.

Was an der Schwelle zur Öffentlichkeit schiefgehen kann, zeige ich, wenn auch ungern, an einem Fehler, der mir selber unterlaufen ist. Vor einiger Zeit erschien in der Anderen Bibliothek der Jubiläumsband 400, der herrliche Roman Der Goldene Esel, den der römische Dichter Apuleius im zweiten Jahrhundert n. Chr. geschrieben hat. Apuleius, Erzähler und Sprachkünstler von Weltklasse, fand in August Rode, einem Zeitgenossen Goethes, den ebenbürtigen Übersetzer.

Rodes Übersetzung aber teilt das Schicksal aller noch so sorgfältig gedruckter Literatur, dass einige Wörter und Wendungen außer Gebrauch kommen und nicht mehr verstanden werden; so ist Rodes Text immer wieder angepasst worden. Ich nun musste die Überarbeitung prüfen, die der umsichtige und sachkundige Wilhelm Haupt vor fast fünfzig Jahren durchgeführt hatte. Ich las dazu auch die Erstausgabe von 1783 und stand insofern an der Schwelle zwischen dem Privatgebiet, zu dem eine vergangene Zeit geworden war, und unserer Öffentlichkeit. Ich stieß auf eine auffällige Wendung, welche Haupt hatte stehen lassen.

tausend Glück

Der Held des Romans, der junge Lucius, ist in gewissem Sinne ein Vorläufer Harry Potters und wird von seiner Geliebten versehentlich in einen Esel verzaubert, was unerhörte Abenteuer zur Folge hat. Vor diesem Missgeschick sagt der Gastgeber Milo, ein Geschäftsmann, dessen Frau eine Hexe ist, zu seinem jungen Gast: „Inzwischen wünsch` ich von Herzen, Herr Lucius, daß Ihnen tausend Glück begegnen und Ihre Reise höchst ersprießlich sein möge!“ Dieses „tausend Glück“ erinnerte mich an den „privat Mann“ der Erstausgabe, welcher bei Wilhelm Haupt wie heute üblich als Privatmann erscheint, und so hielt ich es für einen echten Einfall und Fund, hier das Wort Tausendglück einzusetzen, das ich im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm aufgespürt hatte. Irrtum! Was hatte ich falsch gemacht?

Es fehlte mir die Geistesgegenwart, an die Wendung „tausend Dank“ zu denken. Und ich hatte offenbar übersehen, dass im Deutschen Wörterbuch neben „tausend Dank„ auch „tausend Segen, tausend Glück“ belegt und besprochen sind, – übersehen, obwohl ich das Buch dicht vor der Nase hatte. Folge meines Fehlers: Ich habe August Rode in diesem Falle seine Stimme genommen und eine Möglichkeit sich auszudrücken unter den Tisch gefegt, während doch das Gegenteil mein Ziel war.

Dem Sprachgefühl widersprechen

Die eigenen Fehler schaue ich mit mildem Auge an; ich halte mir jeweils zugute, dass ich es bin, der sie macht. Was sind die Fehler der Rechtschreibreformer? Sie ließen es an geistesgegenwärtigem Sprachbewusstsein fehlen, und sie versäumten es, unseren Sprachschatz zu mustern, den sie doch vor der Nase hatten: in Zeitungen, Literatur, Wörterbüchern. So stellten sie Regeln auf, die nichts mit der Sprachwirklichkeit zu tun haben und zu unvorhersehbaren Schreibweisen führen – bald groß, bald klein, bald getrennt, bald zusammen – , die, da sie dem Sprachgefühl widersprechen, nur von einem Korrekturprogramm angewendet werden können.

Werfen wir einen Blick auf die Sprachwirklichkeit. Erich Kästner schreibt in Notabene 45, seinem Tagebuch der letzten Kriegstage, von einem Versuch zu kochen, während die Stromzufuhr immer wieder ausgeschaltet wurde: „Die Wirtschafterin kämpfte in der Küche wie ein Löwe. Doch sie brachte die heißersehnten und heiß ersehnten Bratkartoffeln trotzdem nicht zustande.“ Wortspiele sind Spiele mit Wörtern, Wörter gehören ins Wörterbuch, sofern sie allgemein gebräuchlich sind.

Das Wort heißersehnt war zunächst verboten, wurde dann als angebliche Variante wieder erlaubt, die Dudenredaktion aber empfiehlt das getrennte „heiß ersehnt“ und nimmt uns damit nicht etwa nur ein Wort oder eine Ausdrucksmöglichkeit, sondern ein ganzes Muster der Wortbildung.

Louise Gottsched, die im Schatten ihres Mannes leben musste, des Sprach- und Literaturwissenschaftlers Johann Christoph Gottsched, hielt 1748 fest, dass die Zuständigkeit des „Orthographus“ begrenzt ist, „als welcher nicht bestimmet, wie die Wörter heißen und abgeändert werden: sondern nur bloß, wie man die einmal festgesetzten schreiben soll.“ Ob es Wörter wie heißersehnt, wiedersehen, fleischfressend gibt, hat nicht der Orthograf zu entscheiden. Der Stillehrer Eduard Engel schrieb einst: „Das beherrschende Gesetz der deutschen Sprache heißt Freiheit.“

Adverbien wie Pronomen

„Sie lebt, sie sprießt, sie wandelt sich unaufhörlich, und sie will nicht, sie soll nicht gemeistert, geknebelt, gehudelt, gebüttelt werden, am wenigsten von solchen, die sich durch kein eignes Sprachkunstwerk als Könner und Meister der Sprache erwiesen haben.“ Engel war im sogenannten Dritten Reich seiner jüdischen Herkunft wegen verboten und wurde, da rechtlich schutzlos, plagiiert. Gert Ueding wertete im Freitag seine „Deutsche Stilkunst“, die vor zwei Jahren in der Anderen Bibliothek neu aufgelegt wurde, als „das schönste und zugleich genaueste Porträt der deutschen Sprache, das wir besitzen“.

Nicht nur in der Wortbildung, auch beim Großbuchstaben gelten heute Regeln, die nichts taugen. Die alte Wendung »heute früh« lautet reformiert „heute Früh“. Soll man also auch schreiben: „heute ganz Früh“? Adverbien werden wie Pronomen herkömmlich klein geschrieben, und mit dem Kleinbuchstaben ist seit langem unser Sprachgefühl verbunden.

Die Großschreibungen der Neuregelung stammen aus dem tiefen 19. Jahrhundert (der Erstere, im Allgemeinen), und es fällt schwer zu verstehen, wie ein Rückschritt als Reform ausgegeben werden konnte. Bei Wendungen aus fremden Sprachen verlangt die Neuregelung das Wissen, ob der zweite Bestandteil ein Substantiv oder Adjektiv sei.

Im Andenken an Louise Gottsched

Falsch schreibt die Dudenredaktion nach dieser Regel „Perpetuum mobile“ und „Spiritus Rector“. Richtig wäre Perpetuum Mobile (das ewig Bewegliche) und Spiritus rector (der lenkende Geist). Anstatt mit kiloschweren Wörterbüchern und Grammatiken zu beweisen, dass mobile ein Substantiv und rector ein Adjektiv ist, erinnere ich an die herkömmliche und einfache Richtlinie, welche das Stemmen dicker Bücher unnötig macht; ihr folgend schreibt man jeweils das erste fremdsprachliche Wort groß und das zweite klein.

Es ist nicht nötig, die Fehlerliste fortzusetzen, denn es gibt Gesamturteile. Vor zwölf Jahren sagte Johanna Wanka, die Präsidentin der deutschen Kultusministerkonferenz: „Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.“ Und vor einigen Monaten sagte Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes: „Wir hätten das ganze Unternehmen nicht gebraucht.“ Der Auftraggeber der Reform, die Kultusministerkonferenz, und die Schule, die Einrichtung, für die sie gedacht war, halten das Unternehmen für falsch oder unnötig. In Kernbereichen ist es mehr als unnötig oder einfach falsch, es schadet, und der Schaden trifft auch die Staatsräson, die man zu wahren wähnte.

Was ist zu tun? Der Kompromiss des Rates für Rechtschreibung besteht wesentlich darin, neben die reformierte Trennung (wohl bekannt) das herkömmliche Wort zu setzen (wohlbekannt). Nun muss endlich anerkannt werden, dass das grundsätzlich keine Varianten sind, die vertauscht werden können. Adverbien und Pronomen müssen wieder klein geschrieben werden; gute Zeitungen könnten damit anfangen. Verdient unsere Sprache nicht ein besseres Regelwerk? Wenn der Staat auf Vorgaben verzichtet und wenn ein erneuerter Rat für Rechtschreibung nur an die Sache, d. h. an die freie Sprache denkt, werden wir es haben. Dieses andere, Andere Regelwerk widmen wir dem Andenken an Louise Gottsched.

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Stefan Stirnemann (* September 1960 in Aarau) ist ein Schweizer Gymnasiallehrer, Altphilologe und Übersetzer

Quelle: der Freitag
Link: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-bessere-pardon-die-bessere-schreibweise

Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=764