11.08.2004


Helmut Jochems

Rückrufaktion

Ein neues Automodell wird in großer Stückzahl ausgeliefert und gerät sofort in die Schlagzeilen: Nach den ersten Unfällen ergibt die Überprüfung, daß das Bremssystem schwere technische Mängel aufweist. Wie reagiert der Hersteller?

Läßt er durch den Firmensprecher verkünden, die Kunden empfänden das defekte Bremssystem als Erleichterung beim Fahren und wollten auf keinen Fall darauf verzichten? Stellen die Fahrschulen in Aussicht, sie würden in Zukunft nur noch mit diesen herrlichen Neuwagen arbeiten? Kaufen die Behörden Tausende davon als Dienstwagen? Nichts von alledem. Jedes einzelne Stück wird in die Werkstatt zurückbeordert, wo das defekte System gegen ein einwandfrei funktionierendes ausgetauscht wird. Gratis natürlich für die Kunden, denn der Hersteller scheut keine Kosten, um sich aus dem Dilemma zu befreien. Freilich bleiben dann noch zwei Fragen, die aber niemand mehr stellt: Was für Ingenieure waren das eigentlich, die den Murks konstruiert haben? Und: Wo hatte der TÜV seine Augen, als er der Fehlkonstruktion die Typenzulassung erteilte?

Jeder Leser wird in der Lage sein, diese Fabel aus dem wirklichen Leben auf den seit langem aufgedeckten Rechtschreibmurks zu übertragen. Um die beiden letzten Fragen beantworten zu können, muß man freilich einiges Hintergrundwissen besitzen.

Wer waren die Urheber der orthographischen Fehlkonstruktion? Antwort: Ein kleiner, von seinen Fachkollegen wegen seiner Spinnerei gemiedener Kreis von sogenannten Rechtschreibexperten, die mit ideologisch angefeuertem Eifer die Deutschen zunächst von der Substantivgroßschreibung befreien wollten, dann aber, als das nicht zu gelingen schien, nur noch ein Ziel kannten: die gründliche Verballhornung der deutschen Rechtschreibung. Beides hat anarchistische Züge, und man kann sich die klammheimliche Freude des famosen Zirkels über die gelungene Rache an den reformunwilligen Deutschen gut vorstellen. Wie das unter Revoluzzern und Radikalinskis so üblich ist, herrschte auch unter den Möchtegern-Reformern keineswegs Friede und Eintracht. Aus guter Queller weiß man, daß sich dasselbst stets die Clique um den Chefreformer mit „mafiaähnlichen“ Methoden durchsetzte.

Und der TÜV? Der wurde 1992 eingeschaltet, und zwar als Arbeitsgruppe Rechtschreibung der Kultusministerkonferenz, lauter Ministerialräte, die bis heute an der Sache beteiligt sind. Sie hätten eigentlich früh erkennen müssen, daß die geplante Neuregelung zu einer Hälfte aus derben Späßen, zur anderen aus sprachwissenschaftlichem Murks besteht. Ihre Pflicht wäre es gewesen, eine fachliche Prüfungskommission um ein Gutachten zu bitten, das dann entsprechend ausgefallen wäre. Ironischerweise haben sich vor 1996 lediglich zwei SPIEGEL-Redakteure näher mit dem Entwurf vertraut gemacht und Herrn Zehetmaier einige Kuriosa vorgeführt. Die eigentlichen Prüfer hatten nie irgendeinen Zweifel, ja nach 1996 verwandelte sich der staatliche Rechtschreib-TÜV in die eigentliche Vertriebsorganisation. Als dann die Mängel in der Schreibpraxis unübersehbar waren, sperrte sich die Riege der Ministerialräte beharrlich gegen jede Revision. Erst jetzt, unmittelbar vor der endgültigen Einführung, sind ein paar kosmetische Reparaturen erfolgt.

Wie soll es weitergehen? Ein Automodell, das wegen seiner Unzuverlässigkeit bekannt ist, kaufen nur noch Lebensmüde. Wenn jedoch die Verkaufszahlen gegen Null tendieren, wird die Produktion ohnehin eingestellt. Eine verkorkste Rechtschreibung, die kein ernstzunehmender Mensch benutzt, hat keine Überlebenschancen. Und die Schulen? Selbst die abgebrühtesten Kultusminister werden es nicht wagen, die Schreibköpenickiade in ihrem „Machtbereich" fortzuführen, wenn das öffentliche Schreiben wieder verballhornungsfrei ist. In der demokratischen Gesellschaft herrschen nämlich die Gesetze des Marktes: Was niemand haben möchte, verschwindet von selbst - trotz der ignoranten "Einstimmigkeit“ bei den politischen Gesichtswahrern.



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