01.08.2012


Claudia Ludwig

Die Rechtschreibreform – ein Riesenfehler

Vor genau sechs Jahren traten die neuen Regeln in Kraft. Seitdem herrscht Verwirrung, beklagt die Autorin und Lehrerin.

Das Hamburger Abendblatt druckt erstaunlicherweise einen reformkritischen Text unserer langjährigen Mitstreiterin ab:


95 Jahre lang gehörte sie zu unserem Alltag: die „alte“, die klassische Rechtschreibung. Wir lasen sie in allen Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, Werbeanzeigen, auf Plakatwänden und in Gebrauchsanweisungen. Sie war uns vertraut, und sie war vor allem eins: einheitlich und eindeutig. Wer zweifelte, sah im Duden nach, und dann waren schnell alle Unklarheiten beseitigt, man konnte zum Tagesgeschäft übergehen.

Vier Generationen hatten sie erlernt. Großeltern schrieben, wie ihre Enkel es in der Schule lernten, konnten helfen, waren kompetent. Sekretärinnen, Lektoren, Menschen, zu deren Beruf die Schrift gehört, beherrschten sie, diese „alte“ Rechtschreibung. Das war schon etwas wert!

Und dann beschlossen Politiker (wer eigentlich?), zwölf Sprachwissenschaftler zu beauftragen (mit welchem Recht eigentlich?), die Rechtschreibung zu vereinfachen (warum eigentlich?). Es begann ein zähes Ringen, denn jeder dieser Experten hatte Vorlieben, die er unbedingt realisiert haben wollte. Dann kam das Werk an die Öffentlichkeit. Ein Sturm der Entrüstung brach los, Gegner und Befürworter bekämpften einander. Es wurde diskutiert, verändert, mehrmals nachgebessert und schließlich verkündet: Am 1. August 2006 war die endgültige Fassung der „neuen“ deutschen Rechtschreibung geboren: „moderner und viel einfacher“.

Eines aber blieb in dem Trubel unbeachtet: Diese „neue“ Rechtschreibung war und ist nur bindend für Behörden, Schulen, Universitäten, für alle Institutionen, deren oberster Dienstherr der Staat ist. Dieser Tatbestand bot die einzigartige Chance, die „Reform“ zu stoppen. Es ist nicht passiert.

Und was haben wir jetzt? Wir haben mehr Vielfalt in den Schreibweisen, was allerdings für den Leser nicht unbedingt erfreulich ist. Wir haben eine Vielzahl an neuen Regeln, die auch bei bestem Willen und größter Anstrengung nicht mehr auswendig zu beherrschen sind. So sind z. B. aus zwei Möglichkeiten, das scharfe „s“ am Wortende zu schreiben (alt: „s“ oder "ß") drei Möglichkeiten geworden („s“, "ß" oder „ss“) – eine Erleichterung?

Und schreibt man in klassischer Rechtschreibung eindeutig: „gewinnbringend, ausschlaggebend, alleinerziehend und herzerquickend“, so bietet der neueste Duden folgende Schreibweisen an: „Gewinn bringend/gewinnbringend, ausschlaggebend, allein erziehend/alleinerziehend und herzerquickend“. Alles klar?

Sicherheit beim Schreiben wird es so nie mehr geben. Und wozu führt das? Schüler feilschen mit Lehrern um die Schreibweise eines Wortes. Wörterbücher werden gewälzt und zur Schule geschleppt. Es geht ja immerhin um einen, vielleicht gar den ausschlaggebenden Punkt. Da es keine eindeutigen Schreibweisen mehr gibt, führt das zu wachsender Verwirrung bei allen Schreibenden, worauf die einen mit Gleichgültigkeit reagieren (Ich schreibe jetzt, wie ich will!), andere, die professionell mit Schrift umgehen, häufiger im Duden nachschlagen müssen. Und es gibt viele neue Fehler.

Unsere Situation heute ist somit die gleiche, die Konrad Duden vor mehr als hundert Jahren zu seiner Reform motivierte. Duden stellte entsetzt fest, daß in zwei nicht weit voneinander entfernten Schulen völlig unterschiedliche Schreibweisen gelehrt wurden. Flugs machte er sich – ganz Praktiker – ans Werk und erarbeitete eine Rechtschreibung, die vor allem ein Ziel hatte: die Schreibweisen zu vereinheitlichen, um das Schreibenlernen zu erleichtern.

Diese Einheitlichkeit hat die „Rechtschreibreform“ nun endgültig zerstört. Dabei würde uns gerade heute – bei unserer vielfältigen Kommunikation – eine eindeutige, verläßliche Rechtschreibung hilfreich sein. Denn erst auf einer einheitlichen Basis kann man mit Sprache spielen, wie es uns die Amerikaner vormachen.

Aber vielleicht kommt sie ja wieder, die klassische Rechtschreibung – eines Tages, irgendwann? Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich immer zuletzt oder: Träumen darf man ja noch.

Quelle: Hamburger Abendblatt
Link: http://www.abendblatt.de/hamburg/article2356254/Die-Rechtschreibreform-ein-Riesenfehler.html

Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=682