29.10.2009


Theodor Ickler

Ausgemistet, aussortiert, exiliert

„Solche Bücher dürfen wir Kindern nicht mehr in die Hand geben“

Rückblick auf ein Büchermassaker: Wie der Rechtschreibreformwahn Lücken in die Schulbibliotheken riß.

Als im Sommer 1996 die Einzelheiten der geplanten Rechtschreibreform bekannt wurden, glaubten besonders die Jugendbuchverlage, ihre Produkte möglichst rasch auf die neuen Schreibweisen umstellen zu müssen. Neue Schulbücher wurden ohnehin nur noch in Reformorthographie genehmigt, aber auch bei privater Lektüre sollten die Kinder sich nicht mehr an herkömmlichen Schreibweisen die Augen verderben. Angeblich entsprach dies dem Wunsch der Eltern; auch herrschte weithin die Vorstellung, die Reformschreibung sei gesetzlich vorgeschrieben. Die noch lebenden Autoren stimmten mehr oder weniger zähneknirschend zu; einige klagten in privaten Äußerungen über den Zwang, dem sie sich nicht zu entziehen vermochten.

Die Umstellung geschah durchweg so schnell wie nachlässig, keine andere Literaturgattung zeigte derart viele Irrtümer und Versehen. Die korrekten Umsetzungen der Reform waren allerdings sprachlich nicht besser als die fehlerhaften: "so Leid es Lilli auch tut" – "Ratte ist immer an allem Schuld" – ",Morgen!‘, sagte er Hände reibend" – "Offenbar wirkte Mamsell sehr Furcht einflößend". Die Reparaturbedürftigkeit der neuen Regeln stand für jeden Sachkundigen schon damals fest, und so kam es auch: Durch die Revisionen 2004 und 2006 wurden von den rund zehntausend reformierten Duden-Einträgen etwa viertausend nochmals geändert. Die Lebensdauer der Rechtschreibwörterbücher sank auf 23 Monate (Duden) oder gar nur 13 (Wahrig).

Im Rechtschreibwortschatz der Grundschulen betraf die Reform zwar nach amtlicher Zählung nur 24 Wörter (alle wegen der ss-Schreibung). Gleichwohl wurden von Anfang an auch Schul- und Leihbibliotheken durchforstet und von Büchern in "alter" Rechtschreibung gereinigt. Typische Vollzugsmeldung: "Alle Bücher in alter Rechtschreibung wurden ausgemistet." Die Dunkelziffer dürfte enorm sein; wahrscheinlich sind Millionen Bände vernichtet worden. Hier können nur einige wenige Stimmen zitiert werden.

Ein Gymnasium in Stuttgart klagte 2004 über finanzielle Schwierigkeiten, nachdem "hunderte von Büchern aufgrund der Rechtschreibreform ausgemustert und ersetzt werden mußten". Eine Schule in Bensheim meldet: "Bücher, die nicht mehr der neuen Rechtschreibung entsprachen, wurden ausgemistet." Aus Hude: "Bücher aus der ehemaligen Schulbücherei sind allerdings nicht zu finden. ,Alle Bücher hier sind neu angeschafft. Das liegt an der Rechtschreibreform. Wir können den Kindern ja nicht zumuten, heute falsche Schreibweisen zu lesen‘, erläutert die Rektorin." Einzelnen Lehrern ging das Vernichten von Büchern gegen den Strich, sie schickten sie nach Polen oder Rumänien oder verkauften sie auf dem Flohmarkt. Gerade aus kleinen Büchereien in Landgemeinden wurden bis zu zwei Drittel aller Bücher aussortiert. Gern werden Spendengelder oder die Mittel von Fördervereinen dazu verwendet, die Folgen der Vernichtungsaktion auszugleichen: "Der Schulleiter, der vor kurzem die Literatur mit alter Rechtschreibung aussortierte, ist froh über die Idee des Fördervereins: ,Ohne ihn könnte sich das unsere kleine Schule niemals leisten‘" (Obergrenzebach 2008). So auch an der Deutschen Schule in Madrid: "Bücher mit alter Rechtschreibung wurden aussortiert", so hörte man hier 2009.

Die nächste Revision steht bevor, der Rat für deutsche Rechtschreibung diskutiert bereits das Unvermeidliche. Aber aus einem Ort im Sauerland wird noch kürzlich berichtet: "Wer sich in der Bücherei der Grundschule zur Zeit ein Buch ausleihen möchte, steht vor fast leeren Regalen. ,Vor zwei Wochen haben wir mit zwei Praktikantinnen des Gymnasiums unsere Bücher aussortiert, die noch die alte Rechtschreibung beinhalten‘, erklärt Schulleiter P. B. Das Ergebnis: mehr als die Hälfte der Bücher sind nicht mehr zeitgemäß. (...) Gefunden hat er unter anderem alte Schätzchen wie ,Ferien auf Saltkrokan‘ von 1964. ,Solche Bücher dürfen wir Kindern nicht mehr in die Hand geben‘, betont er." Das sollten jene Eltern zur Kenntnis nehmen, die sich im Internet verwundert fragen, warum in ihrer Gemeindebücherei die Werke von Lindgren und Kästner nicht mehr aufzufinden sind: Die alten Bände sind aussortiert, neue aber noch nicht angeschafft. Nicht alle Bücher jedoch werden in einer der verschiedenen Versionen der Reformschreibung nachgedruckt. Die Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft zum Beispiel teilt mit, daß die Werke ihres Namenspatrons aus Kostengründen kaum umgestellt werden dürften.

Ähnliche Meldungen gibt es aus Österreich. Dort wurden nach Auskunft der Schulleiter an jeder zweiten Volks- und Hauptschule die Buchbestände rigoros dezimiert, obwohl das Kultusministerium im Jahre 2004 ausdrücklich erklärt hatte: Ein Aussortieren von Büchern, die es nur in traditioneller Rechtschreibung gibt, "würde einen Eingriff in die literarische Vielfalt bedeuten". Das Ministerium riet, nicht über den Rahmen der jährlichen Bestandspflege hinauszugehen. Ähnlich das hessische Kultusministerium: "Kein Buch muß ausgesondert oder vorzeitig ersetzt werden, nur weil es die alte Schreibweise enthält. Mehrbedarfsanträge dürfen daher weder direkt noch indirekt mit Anschaffungen rechtschreibreformierter Bücher begründet werden."

Bei den Schulen ist dieser Aufruf zur Mäßigung offensichtlich nicht angekommen. Es wird auch selten bedacht, daß die namhaften deutschen Schriftsteller, darunter alle Büchner-Preisträger, sich weiterhin der herkömmlichen Orthographie bedienen und auf ihren Wunsch auch in Schulbüchern so gedruckt werden. Immer beliebter werden darüber hinaus Klassikertexte in Originalschreibweise, wie sie etwa bei Reclam und Suhrkamp in wohlfeilen Schulausgaben herauskommen. Die Büchervernichtung wäre auch unter diesem Gesichtspunkt nicht notwendig gewesen.

Vergleichbare Verluste hat es in Friedenszeiten bisher nicht gegeben. Die Urheber der Rechtschreibreform allerdings dürften von solchen Schreckensmeldungen unbeeindruckt bleiben. Auf Warnungen vor einem Traditionsbruch antworteten sie schon 1992 mit der kulturrevolutionären These: "Das meiste, was gedruckt oder geschrieben wird, gilt dem Tagesbedarf: Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren, Korrespondenz, Schulbücher. Geht man von 1995 als einem möglichen Reformdatum aus, so brauchen die Kinder, die ab dann lesen lernen, in den seltensten Fällen etwas von dem zu lesen, was vor 1995 geschrieben und gedruckt wurde."

(F.A.Z.-Printausgabe vom 29.10.2009, Nr. 251 / Seite 31, modulo ClassGerman)

Quelle: F.A.Z.
Link: http://tinyurl.com/faz-ickler-ausgemistet

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