27.10.2009


Reiner Kunze

Mensch im Wort

„Warum sollte ich mit etwas anerkannt Falschem Kompromisse eingehen?“

In dem anläßlich des 75. Geburtstages von Reiner Kunze erschienen Buch „Mensch im Wort“ finden sich „drei Gedichte für Kinder und dreißig Antworten auf Fragen von Jürgen P. Wallmann“ (so der Untertitel). Hier der Teil des Interviews, in dem es um die Rechtschreibung (und ihre Reform) geht:

Wie erklären Sie die Kleinschreibung der Substantive bei Ihren Gedichten? Und wäre es nicht konsequent, die Kleinschreibung auch in der Prosa zu praktizieren?

Die Schreibweise in den Gedichten – Gedichte für Kinder ausgenommen – hat sich herausgebildet im Verzicht auf alles, was ich in meinen Gedichten nicht brauche, zum Beispiel Satzzeichen und Großbuchstaben, so sie für das Verständnis entbehrlich sind. Wenn das Gedicht aus wenigen Wörtern besteht und der Rest der Seite leer ist, bedarf es am Schluß nicht des Punktes. Dagegen ist der Großbuchstabe bei Satzanfängen und Eigennamen unerläßlich. Diese eigene, streng geregelte Orthographie lehnt sich an die gemäßigte Kleinschreibung an, ist mit ihr aber nicht identisch. Sie hat sich wechselseitig mit der Art meiner Gedichte herausgebildet. Anders gesagt: Der Gedichtkörper hat seine eigene Haut hervorgebracht. Darin die Befürwortung einer Abkehr von der Groß- und Kleinschreibung zu sehen, wäre ein Fehlschluß. In seinem Buch „Lob der Rechtschreibung“ weist Horst Haider Munske darauf hin, daß die Großschreibung der Substantive und Substantivierungen „die hervorstechendste Eigentümlichkeit“ unserer Rechtschreibung ist. Luther hat sie vor mehr als vierhundertfünfzig Jahren vorbereitet, und in der gesamten klassischen Literatur finden wir sie angewandt. Wir sollten uns nicht Schritt für Schritt von uns selbst entfernen.

Sie haben vehement gegen die sog. Rechtschreibreform gekämpft. Jetzt ist sie, wenn auch stark modifiziert, mit politischem Druck durchgesetzt worden. Wie verhalten Sie sich nun, bleiben Sie bei der sog. „alten“ Rechtschreibung oder machen auch Sie gewisse Kompromisse?

Rechtschreibregeln sind dazu da, daß das, was schriftlich ausgedrückt werden soll, hochdifferenziert, eindeutig, sofort verständlich und vielgestaltig ausgedrückt werden kann. Maßgebliches Kriterium ist der jeweilige Entwicklungsstand der Sprache. Schreibweisen, die ihm nicht mehr entsprechen, müssen geändert werden.
Regeln einzuführen, die das Gegenteil dessen bewirken, was Rechtschreibung zu leisten hat, verbietet sich. Bis diesen Grundsätzen wieder Geltung verschafft sein wird – entweder nach einer langen Leidenszeit der Sprache (dann werde ich es nicht mehr erleben) oder durch Rückkehr des Sprachgewissens in den zuständigen staatlichen Machtgremien –, werde ich an der bisher am höchsten entwickelten, bis 1996 verbindlich gewesenen einheitlichen deutschen Rechtschreibung festhalten. „Die Kultusminister wissen längst, daß die Rechtschreibreform falsch war“, sagte Wissenschaftsministerin Prof. Wanka. Warum sollte ich mit etwas anerkannt Falschem Kompromisse eingehen?


(Aus: Mensch im Wort. Drei Gedichte für Kinder und dreißig Antworten auf Fragen von Jürgen P. Wallmann, Edition Toni Pongratz [Nr. 100], 2008; Seiten 24 bis 26)



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