02.07.2009


Prof. Dr. Dr. Rudolf Wachter

Wie muss korrekt argumentiert werden?

Referat vor der Schweizer Orthographischen Konferenz

Lesen Sie hier das Referat von Prof. Wachter, das er am 4. Juni 2009 in Zürich gehalten hat.


Sehr geehrte Damen und Herren,

Die SOK kann sich nicht auf irgendwelche politischen Mandate oder Machtmittel stützen, sondern wir müssen mit rationalen Argumenten kämpfen und gewinnen. Darüber sind wir froh, und auch ein klein wenig stolz! Aber wir müssen deshalb auch ganz genau wissen, wie wir vorgehen müssen. Ich möchte Ihnen hier vier grundlegende Argumente an die Hand geben.

Erstens: Es ist wichtig, so zu argumentieren, dass es alle verstehen. Die Rechtschreibung, wie auch Sprache und Schrift generell, gehört der ganzen Bevölkerung, nicht nur einigen Germanisten, Politikern und Wörterbuchverlegern. In der Sprache hat fast jeder und jede eine nicht zu unterschätzende Kompetenz. Wir ziehen alle beim Sprechen unwillkürlich immer wieder Analogieschlüsse und stellen Vergleiche an. Deshalb müssen wir uns nicht wundern, dass niemand einsieht, warum seit der Reform in so vielen Fällen Gleiches nicht mehr auf gleiche Weise geschrieben werden soll. In einem Satz wie «Der eine trinkt, der andere raucht, ein dritter spielt und ein vierter arbeitet sich zu Tode» dürfen die heutigen Schüler, genau wie wir und unsere Vorfahren seit über hundert Jahren, «der eine» und «der andere» klein schreiben, «ein dritter» und «ein vierter» aber müssen sie seit 1996 gross schreiben. «Ohne weiteres » darf klein, «des weiteren» muss gross geschrieben werden. In «heute morgen» müssen sie «morgen» gross schreiben, obwohl «morgen» hier gar kein Substantiv ist; in «heute früh» aber müssen sie «früh» klein schreiben, obwohl es ja auch hier das Substantiv «in der Früh» gibt. Adverbielle Ausdrücke wie «im voraus», «im nachhinein», «im allgemeinen», «im übrigen » müssen sie gross schreiben, obwohl diese hundert Jahre lang klein geschrieben wurden und die Büchergestelle voll von jenen herkömmlichen Schreibungen sind.

Fazit Nr. 1: Die Rechtschreibreform hat auf die Sprachkompetenz der Bevölkerung, die erfahrungsgemäss ein ausserordentlich feines Gespür für Konsequenz und Sprachrichtigkeit hat, keine Rücksicht genommen. Wir von der SOK schlagen vor, das zu korrigieren und die herkömmlichen Schreibungen wieder zu gestatten, Regelwerk 2006 hin oder her, mit dem Argument, dass Rechtschreibregeln die Praxis der schreibenden Bevölkerung abbilden sollen und nicht die Praxis sich nach irgendwelchen künstlichen Rechtschreibregeln richten müssen soll.

Zweitens: Sprechen, lesen und schreiben lernen wir in der Kindheit. Wenn wir die Rechtschreibung bis zum Alter von, sagen wir, 15 Jahren einigermassen gut gelernt haben, brauchen wir für den Rest unseres Lebens nicht mehr viel darüber nachzudenken, sofern wir regelmässig lesen und schreiben. Und jetzt stellen Sie sich die etwa 100 Millionen Deutschsprachigen vor, die 1996 erfahren mussten, dass eine lange Serie altbekannter Wörter wie «jedesmal», «eine Handvoll», «sogenannt», «wohlbekannt», «notleidend», «aufsehenerregend » – Sie kennen diese Sündenfälle ja längst – von einem Tag auf den anderen abgeschafft, d.h. ihre Zusammenschreibung für falsch erklärt wurde, mit einer Übergangsfrist von zwei Jahren! Da ging ein Aufschrei der Empörung durch die deutschen Landen! Zudem war auch in diesem Punkt die Willkür, mit der die Reformer vorgegangen waren, mit Händen zu greifen. Warum sollten wir auf «wohlbekannt» verzichten müssen, aber «stadtbekannt» und «hellblau» behalten dürfen? Und wo sollte da die Erleichterung für die Schulkinder sein, die die Reform zu bringen versprach? Im Gegenteil, die Neuregelung gab viel mehr zu lernen. – Item, fast alle abgeschafften Wörter wurden nach und nach, 2000, 2004, 2006 stillschweigend wieder erlaubt («jedesmal» freilich wurde vergessen). Doch bis heute wollen die einschlägigen Wörterbücher und Lehrmittel uns und den Schülern weismachen, «dies ist ihm wohl bekannt» und «dies ist ihm wohlbekannt» seien blosse Varianten und damit austauschbar, nur weil die Reformer und die Erziehungsdirektionen nicht die Grösse haben, ihren unseligen Fehler zuzugeben und rechtsumkehrt zu machen.

Fazit Nr. 2: Die Rechtschreibreform hat durch ihren Eingriff in den deutschen Wortschatz nicht nur orthographische, sondern sogar sprachliche Gewohnheiten frontal angegriffen, und dies ohne Not und inkonsequent. Wir von der SOK schlagen vor, dies zu korrigieren und die herkömmlichen Bedeutungsdifferenzierungen ausnahmslos wieder in Kraft zu setzen, mit dem Argument, dass die Rechtschreibung die Vielfalt der Sprache möglichst klar abbilden und nicht beschneiden soll.

Drittens: In den beiden soeben genannten Problembereichen, der Gross- und Kleinschreibung einerseits und der Getrennt- und Zusammenschreibung andererseits, liegen die beiden hauptsächlichen Entwicklungstendenzen der deutschen Rechtschreibung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Die e r s t e  T e n d e n z läuft in die Richtung, dass nur noch echte Substantive gross geschrieben werden. Das hat bekanntlich sogar dazu geführt, dass man in Ausdrücken wie «im dunkeln tappen», wenn die übertragene Bedeutung gemeint war, jahrzehntelang Kleinschreibung bevorzugt hat. Die Reformer haben von dieser langfristigen Entwicklung offenbar nichts gewusst oder – noch schlimmer – haben sie bewusst ignoriert und umzukehren versucht, und obendrein, wie gesagt, in inkonsequenter Weise. Die z w e i t e  T e n d e n z läuft in die Richtung, dass aus mehreren Wörtern zusammengesetzte Ausdrücke, wenn sie eine eigene Bedeutung entwickeln, gerne zusammengeschrieben werden sollen. (Man nennt diese Prozesse in der Sprachwissenschaft Lexikalisierung und Univerbierung.) Dies hat sogar dazu geführt, dass bereits im vergangenen Jahrhundert Zusammenschreibungen wie «desweiteren» oder Verben wie «inkraftsetzen», «infragekommen» ausgesprochen häufig vorkamen, obwohl sie der letzte Duden, dem noch die althergebrachte natürliche Autorität zukam, also die Ausgabe von 1991, noch nicht sanktioniert hatte. Und solche Schreibungen erfreuen sich – trotz der Reform – ungebrochener Beliebtheit, wie ein Blick ins Internet mit Google sofort bestätigt. Gewisse Fälle hatten sich sogar schon viel früher durchgesetzt, so z.B. «desgleichen», «insbesondere», «infolgedessen» oder auch – jedenfalls in Österreich – «ohneweiters».

Fazit Nr. 3: Die Rechtschreibreform hat langfristige Entwicklungstendenzen mutwillig ignoriert, ja sogar umzukehren versucht. Wir von der SOK schlagen vor, diese Tendenzen wenn schon eher zu fördern als zu torpedieren, denn sie sind in der Bevölkerung, vor allem unter den älteren Mitgliedern, die die allmähliche Entwicklung der Rechtschreibung in ihrem langen Leben mitverfolgen konnten, mindestens unbewusst so stark verankert, dass ein Versuch zur Umkehr bei vielen ein Malaise hervorrufen musste. Und mit ihren Inkonsequenzen und Kompromissen hat sich die Reform noch zusätzlich desavouiert: Warum hat man 2006 «im voraus», «im nachhinein» nicht wieder mit Kleinschreibung gestattet, wo doch z.B. «vor allem» und «unter anderem» seit damals nicht nur wieder klein geschrieben werden d ü r f e n , sondern sogar m ü s s e n , und «zum einen» und «zum anderen» (mit Artikel!) sogar zwischen 1996 und 2006 nicht groß geschrieben werden durften? Oder warum haben die Reformer für «hungers sterben» die Kleinschreibung eingeführt, wo sie doch sonst so oft zur antiquierten Grossschreibung des 19. Jahrhunderts zurückkehrten? (Die SOK folgt der Reform in diesem Fall übrigens ohne Zögern!) Oder warum haben die Reformer «insbesondere» nicht auseinandergenommen und der Grossschreibung unterstellt: «ins Besondere» (wie «im Besonderen»)? Wir empfehlen deshalb die herkömmliche Zusammen- und (ausser bei echten Substantiven) die Kleinschreibung.

Viertens: Die Reform hatte sich auf die Fahnen geschrieben, das Rechtschreiben zu vereinfachen. Wir wissen heute, dass sie das pure Gegenteil erreicht hat, und es war – Hand aufs Herz! – von allem Anfang an klar, dass es so kommen würde. Die Rechtschreibung hat eben in erster Linie für den Leser, nicht für den Schreiber, möglichst einfach zu sein. Das ist auch recht so, denn das meiste, was geschrieben wird, wird von mehr Menschen gelesen als geschrieben. Entsprechendes gilt im übrigen für die Schrift ganz allgemein. Das sei denen ins Stammbuch geschrieben, die die ägyptischen Hieroglyphen und andere komplexe Schriften für unserem Alphabet überlegen halten. Was den historisch-etymologischen Gehalt der Zeichen und die Abbildung der Sprachstruktur betrifft, ist die Hieroglyphenschrift vielleicht tatsächlich interessanter, aber der Zweck der Schrift, nämlich Lesen und Schreiben möglichst vielen möglichst einfach zu machen, wird mit unserem Alphabet hundertmal besser erreicht. Das Alphabet haben wir – wie eben auch die Demokratie – den Alten Griechen zu verdanken; die Hieroglyphen waren die exklusive Geheimschrift einer hauchdünnen Elite im Pharaonenreich.

Fazit Nr. 4: Die Rechtschreibreform zeugt von einem undemokratischen Umgang mit Schrift und Sprache und erinnert an finstere Zeiten der älteren und jüngeren Geschichte. Die SOK schlägt vor, dies zu korrigieren, und empfiehlt eine Rückkehr von «top-down» zu «bottomup », nämlich zur Praxis des Dudens vor 1991, d.h. den Gebrauch zu beobachten, unvoreingenommen die Mehrheitsverhältnisse festzustellen und auf dieser Basis – sowie mit Blick auf langfristige Tendenzen, Sprachrichtigkeit und Konsistenz – Empfehlungen abzugeben. Damit diese Rückkehr gelingt, braucht es jetzt aber unbedingt ein Moratorium für alle von der Reform verbotenen bzw. gebotenen Schreibungen, insbesondere in Schule und Verwaltung. Es geht nicht an, dass vom 1. August an die Lehrer den Schülern für «Gemse», «jedesmal», «ein dritter», «des weiteren» usw. einen Fehler anstreichen müssen. Die SOK hat, wie Sie wissen, Empfehlungen ausgearbeitet, wie das Chaos möglichst rasch wieder zum Verschwinden gebracht werden kann – und zwar ohne jeden Zwang, auf völlig demokratische Weise, einzig durch sauberes und sorgfältiges Argumentieren und Begründen! Nur so besteht die Chance, dass die Mehrheit der Deutschsprachigen in zehn Jahren wieder deutsche Texte lesen kann, ohne auf jeder Druckseite mehrmals über orthographische Auffälligkeiten zu stolpern.



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