06.03.2009


Reiner Kunze

Was die Rechtschreibreform mit der Freiheit zu tun hat

In der Online-Debatte weist Reiner Kunze darauf hin, daß die Politiker mit ihrer Machtarroganz jenen in die Hände arbeiten, die die Freiheit nicht achten und ein anderes System wollen.


Was ich Ihnen zu Beginn erzählen werde, betrifft die Sprache. Ich erzähle es Ihnen der Einblicke wegen, die in den vergangenen Jahren manchem die Sprache verschlugen. Als das inzwischen herrschende Orthographieelend noch nicht völlig unabwendbar zu sein schien, fragte ich einen Ministerpräsidenten, der am Rande eines Empfangs meine Frau und mich eines längeren Gesprächs gewürdigt hatte, wie er zur Rechtschreibreform stehe. Er antwortete: „Herr Kunze, ich habe keine Ahnung, worum es da geht.“ Vielleicht war es diese Ehrlichkeit, der er seine landesväterliche Popularität verdankte. Zwei, drei Tage später hörten wir ihn im Radio mit staatstragender Bestimmtheit sagen, die Rechtschreibreform werde ohne jede Änderung eingeführt, denn sie halte „allen Einwänden stand“. Ich werde hier nicht aussprechen, was ich in diesem Augenblick empfand. Nur dies: Für uns, meine Frau und mich, hatte der Mann seine Glaubwürdigkeit verloren.

Anfang 2006 sagte eine Kultusministerin im persönlichen Gespräch, die Rechtschreibreform werde am 1. August kommen, und was danach an der Rechtschreibung geändert werde, interessiere sie nicht mehr. Diese Skrupellosigkeit war mit der Amtsmacht ausgestattet, der Sprache von 100 Millionen Menschen eine jahrzehntelange, vielleicht eine ein Jahrhundert währende Leidenszeit zuzufügen.

Machtarroganz schlug in Entwürdigung um

Ein führender Parteipolitiker nannte jene, die bis zuletzt darauf gedrängt hatten, wenigstens von den grammatisch falschen und das Sprachgefühl außer Kraft setzenden Regelungen abzusehen, „nur einige Hochwohlgeborene“, die meinten, „aus ästhetischen oder sonstigen Gründen“ noch immer Einspruch erheben zu müssen. Da schlug Machtarroganz in Herabwürdigung um, und als hochwohlgeborener Bergarbeitersohn entsann ich mich nostalgisch der Finsternis unter Tage, die sich mit der Grubenlampe aufhellen ließ.

Der Bürger, der über Jahre solche oder ähnliche Erfahrungen macht und sich einem Establishment der Gesichts- und Amtsstandswahrung gegenübersieht, das dem Sachargument keine Chance läßt, dieser Bürger kann zu unterschiedlichen Schlüssen gelangen. Derjenige, der weiß, daß die Demokratie nicht besser sein kann als die Menschen, die jeweils für sie verantwortlich sind, wird sich in sein Los schicken, auf unbestimmte Zeit zum stillgelegten gesellschaftlichen Potential zu gehören, vielleicht resigniert, vielleicht aber auch auf das Selbstwehrpotential der Wirklichkeit vertrauend. Wo Sachargumente auf dem toten Gleis stehen, steht Wirklichkeit auf totem Gleis, was sich irgendwann rächen wird, denn jener Teil der Wirklichkeit, in dem von Menschen unabhängige Gesetze gelten, gehorcht uns bekanntlich nicht, ehe nicht wir ihm gehorchen. Der Schluß, den der Bürger zieht, kann aber auch darin bestehen, über Alternativen zu einem Staatswesen nachzudenken, das in bestimmten Bereichen dem Mißbrauch der demokratisch verfaßten Freiheit nicht nur ausgeliefert zu sein scheint, sondern in ihn involviert ist – unbelangbar.

„Die Partei, die ist noch da.“

Das jedoch ist die Stunde derer, die, obwohl widerlegt durch ein Jahrhundert systemimmanenter Verweigerung von Grundfreiheiten und Ausrottung ganzer gesellschaftlicher Klassen und Schichten, auf die rechtsstaatliche parlamentarische Demokratie als System verweisen und vorgeben, über den besseren und einzig gerechten Gesellschaftsentwurf zu verfügen. Dabei lassen sie weder über ihr Ziel noch über ihre Strategie im unklaren. Schon 1990 sagte ein in Ost-Berlin lebender Geheimdienstoberstleutnant a. D. einem westdeutschen Reporter: „Die Partei, die ist noch da. Die KPD hat unter viel schwierigeren Umstanden gekämpft. Sie hat nie aufgegeben. Sie gibt vielleicht ihren Namen auf, heißt SED oder PDS, aber sie gibt nie ihr Ziel auf. Warten Sie ab. Das, was hier in der DDR passiert, ist noch lange nicht fertig ... Die darauf hoffen, daß der Kommunismus am Ende ist, hoffen vergebens.“

Eine Kernideologin äußerte vor kurzem, es gebe keinen Grund, die Partei „Die Linke“ vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen. Die „Linke“ habe es nicht nötig, gegen die Verfassung zu verstoßen, denn diese biete ihr alle Möglichkeiten, den Systemwechsel herbeizuführen. Gefragt, warum er zur Bundespräsidentenwahl antrete, antwortete der Kandidat der Partei „Die Linke“ am 15. Oktober 2008 im Sender MDR-info, sein Herz habe schon immer links geschlagen, und er wolle „der ‚Linken‘ helfen, das Haus zu bauen, das sie gern haben möchte“. Die nicht ganz unerhebliche Minderheit, die in einem solchen Haus nicht leben möchte, hatte der Kandidat in diesem offenherzigen Augenblick ausgeblendet.

Das Gros der Umworbenen hat sich vom Stalinismus distanziert

Das Establishment der anderen Parteien geht aber nicht etwa geschlossen auf Distanz zu jener Partei, sondern um eines mehr oder weniger kurzzeitigen Machtgewinns willen umwerben sie Politiker unterschiedlicher Parteiebenen und werten sie Schritt für Schritt auf. Gewiß, man argumentiert, das Gros der Umworbenen hätte sich vom Stalinismus distanziert, und ich bin überzeugt, daß das ehrlich ist. Nur würde man nach der Machtübernahme auf dieses Gros keine Rücksicht nehmen – im Gegenteil. Die Vorstellung, auf welcher Seite dann Demokraten stehen könnten, die heute Parteitagsbeifall spenden, wenn einer „Abweichlerin“ gewünscht wird, ihr mögen „die Beine abfaulen“, läßt mich schaudern. Nicht wenige Demokraten waren und sind auf einem Auge ideologisch blind und in bestimmter Hinsicht auf beiden Ohren historisch taub, was bereits Lenin 1922 in einem Brief an Tschitscherin in sein internationales politisches Kalkül einbezog. Der Arbeitstitel dieses Kongresses lautet: „Freiheit ein Luxus? Der Arbeiter-und-Bauern-Staat als Paradies in den Köpfen.“

Die Frage, wie man „den Freiheitsgedanken attraktiver machen“ kann, klingt mir zu sehr nach Herrenausstatter. Es kommt nicht darauf an, den Freiheitsgedanken attraktiver zu machen, sondern es käme – ich bediene mich bewußt des Konjunktivs – darauf an, in der freiheitlichen Demokratie so zu leben und, was das politische, ökonomische und im weitesten Sinne intellektuelle Establishment betrifft, die Demokratie so vorzuleben, daß die Bürger auf den Gedanken kommen, es gibt im Zusammenleben der Menschen Gleichwertiges, aber nichts Wertvolleres als die Freiheit.

Quelle: WELT online
Link: http://debatte.welt.de/kommentare/115257/was+die+rechtschreibreform+mit+der+freiheit+zu+tun+hat

Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=613