14.08.2008


Uwe Grund

Erwiderung auf Hans Brügelmann

Eine Replik auf die auf boersenblatt.net und teachersnews.net veröffentlichte Kritik.

(1) Die von H. Brügelmann vermißten Zahlen findet man im veröffentlichten Text meines Vortrages bei der Forschungsgruppe Deutsche Sprache auf den Seiten 3f. Die Vergleichsdiktate bezogen ein:
– 230 (105 + 125) Texte von Schülern und Schülerinnen der 5. bis 7. Klasse
– 43.496 niedergeschriebene Wörter (Token).
Das ist in der Tat eine immer noch schmale empirische Basis (4 Gymnasien, 9 Klassen), doch teilt sie dieses Merkmal mit anderen Untersuchungen. In der Studie NRW-Kids werden für das Jahr 2001 untersucht:
– 162 Viertkläßler-Texte
– 10.368 Wörter (Token).
In einem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekt „Muttersprachliche Fähigkeiten von Maturanden und Studienanfängern in der Deutschschweiz“ werden für das Korpus der Abiturarbeiten zu den Stichjahren 1962 – 1978 – 1989 ausgewertet:
– 106 Texte
– 83.144 Wörter (Token).

(2) Mit dem Stichwort „marginale Größenordnungen“ trifft Brügelmann exakt das, was ich an dieser Stelle aussagen wollte: Die von ihm zitierte, von 0,25 auf 0,5 Fehler je 1000 Wörter steigende Fehlerkategorie betrifft nämlich die Wörter, die gemäß §25 des neuen Regelwerks nunmehr anders, nach „Heyse“, zu schreiben sind. 1970/72 fanden wir in fünf Klassenarbeiten mit knapp 20.000 Wörtern 5 (!) Fehler in Wörtern des Typs schließ-, Schloß (jetzt: Schloss), geschlossen. Das zeigt mit hinreichender Deutlichkeit die Irrelevanz (oder Marginalität) dieser Regeländerung in Hinblick auf die schulischen Bedürfnisse.

(3) Der von niemandem in Abrede gestellte Fehleranstieg in allen mir bekannten Untersuchungen hat, da stimme ich Brügelmann gern zu, „auch andere Gründe“. Nach der Rechtschreibreform ist nicht unbesehen wegen der Rechtschreibreform. Welche Rolle das neue Regelwerk oder die Art seiner Vermittlung oder außerschulische Kontexte bei den einzelnen Fehlerkategorien spielen, ist eine noch unbefriedigend beantwortete Frage. Was z. B. dringend fehlt, sind quellenkritisch edierte Korpora, an denen die Interpretationsarbeit ansetzen kann. Ich werde in Kürze einen Versuch in dieser Richtung vorlegen.

(4) Der Vorwurf der „Dramatisierung“ kehrt sich gegen die seinerzeitigen Reformer: Wir sollten uns noch einmal in Erinnerung rufen, wie die Reform begründet wurde: „Das umfangreiche und komplizierte Regelwerk [erg. des Duden] sowie schlechte Rechtschreibleistungen (Fehler in der Orthographie […]) haben immer wieder den Wunsch geweckt, die heutigen Rechtschreibregeln zu vereinfachen.“ (W. Mentrup 1985, S. 21). In Wirklichkeit lauteten damalige Urteile so:
• „Mit unseren Ergebnissen können wir zeigen, dass die heutigen Maturandinnen und Maturanden im Durchschnitt keine nennenswerten Schwierigkeiten im Bereich der sprachformalen und orthographischen Korrektheit haben. Ihre Texte sind sprachlich-formal und orthographisch überwiegend bis weitgehend korrekt.“ (P. Sieber, 1984, S. 210).
• „Der Rechtschreibunterricht mit den heute [erg. 1985] vorliegenden Sprachbüchern, Rechtschreibprogrammen und selbst erstellten Übungen ist […] so effektiv, daß
– Grundschüler in ihren Texten im Durchschnitt etwa 93% der verschiedenen Wörter, die sie selbständig verwenden, richtig schreiben,
– Hauptschüler am Ende des 10. Schuljahres rund 96%
– und Realschüler am Ende des 10. Schuljahres rund 98% der Wörter“ (W. Menzel, 1985, S. 9).

Sollen wir als „Erfolg“ der Rechtschreibreform werten, wenn es den Bildungsinstitutionen gelingt, irgendwann einmal dieses Ausgangsniveau wieder zu erreichen?


Literaturhinweise

U. Grund: Rechtschreibleistungen in gymnasialen Eingangsklassen der 1970er Jahre. Fallstudie und Quellendokumentation (i. V.)

W. Menzel: Rechtschreibfehler – Rechtschreibübungen. In: Praxis Deutsch 69 (1985), S. 9ff.

W. Mentrup: Die „Kommission für Rechtschreibfragen“ des Instituts für deutsche Sprache 1977 bis 1984. In:. Kommission für Rechtschreibfragen des Instituts für deutsche Sprache (Hrsg.): Zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung, Düsseldorf: Schwann, 1985, S. 9ff.

P. Sieber (Hrsg.): Sprachfähigkeiten – Besser als ihr Ruf und nötiger denn je! Ergebnisse und Folgerungen aus einem Forschungsprojekt. Mit Beiträgen von E. R. Brütsch und anderen. Aarau usw.: Sauerländer, 1995 (Reihe Sprachlandschaften; Bd. 12)



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