18.12.2007


Stefan Stirnemann

„Ich habe gemacht ein feines Geschäft“

Ein Wort über Ludwig Reiners, den Klassiker der Stilkunst

Eduard Engel, Autor des klassischen Werkes „Deutsche Stilkunst“ und im Dritten Reich als Jude verfemt, verdient einen ehrenvollen Platz in der Geschichte der Stillehre. Ludwig Reiners, Mitglied der NSDAP und Hochstapler, gab 1944 eine „eigene“ „Deutsche Stilkunst“ heraus.


Wer einen guten Stil schreiben will, braucht Begabung und Anleitung. Als beste Anleitung gilt seit 60 Jahren die «Stilkunst» von Ludwig Reiners. Die Bearbeiter der neuesten Ausgabe rühmen, sie sei ein Klassiker geworden, scheine unersetzlich und werde es nach menschlichem Ermessen noch lange bleiben. Was macht Reiners unersetzlich? Wohl seine schöpferische Idee, sein Stil und die Fülle der Kenntnisse. Reiners belehrt, aber unakademisch; er verbindet Wissenschaft mit Unterhaltung. Die Begriffe, die er verwendet, sind anschaulich und kräftig: Stopfstil, Stilschlamperei, Bandwurmsatz, Stilgecken, Schreistil, Menschenrede, die etwas anderes ist als bedrucktes Papier. Er zeigt, was die Meister des Satzbaus über Sprache und Stil sagten: Quintilian, Lessing, Schopenhauer. Die Fehler führt er an Beispielen aus Zeitung und Literatur vor. Und was kennt Reiners nicht alles: die griechischen Redner, Tacitus, das Nibelungenlied, Goethes Gespräche, entlegene Stellen aus Tieck und Droste-Hülshoff. Auch Victor Hugo und Mark Twain hat er im Blick.

Wer war dieser kenntnisreiche Ludwig Reiners (1896–1957)? Nach dem Bericht eines Freundes, des Schriftstellers Eugen Roth, leitete er in München eine Nähfaden-Fabrik und gab in seiner Freizeit Bücher heraus. Sein klassisches Werk erschien 1944 unter dem vollen Titel «Deutsche Stilkunst». Woher hat Reiners seine Idee, seinen Stil, sein Wissen? Er hatte keine Idee, keinen Stil und weder Zeit noch Fähigkeit zu Studien; er stellte sein Buch aus anderen Büchern zusammen und plünderte vor allem die «Deutsche Stilkunst» eines wahrhaft klassischen Autors, des wegen seiner jüdischen Herkunft entrechteten Eduard Engel. Was Reiners auszeichnet, stammt von Engel.

Eduard Engel (1851–1938) mit wenigen Worten vorzustellen ist unmöglich. Er war eine Persönlichkeit des literarischen Lebens und verfasste Literaturgeschichten verschiedener Sprachen. Ihm lag am reinen Ausdruck, er verabscheute Fremdwörter; das trug ihm den Titel eines Puristen ein. Er liebte sein deutsches Vaterland und schrieb in dieser Haltung auch Sätze, mit denen man sich abfinden muss. Theodor Fontane lobte Engel 1883 in einem Brief: «Für mich hat Ihre Schreibweise einen charme, weil sie das absolute Gegenteil von akademischer Langenweile bedeutet, es sprudelt, es quietscht vor Vergnügen und das Vergnügen teilt sich einem mit.» Das gilt auch von Engels Lebensbuch, wie er selbst es nennt, eben seiner «Deutschen Stilkunst». Er veröffentlichte sie 1911; zum letztenmal erscheinen konnte sie 1931, es war die 31. Auflage. 1936 sprach die Schmähschrift «Jüdische und völkische Literaturwissenschaft» dem «jüdischen Literaturpapst» Recht und Fähigkeit ab, über deutsche Dinge zu urteilen. Im Dritten Reich war Engel ohne Schutz, und Reiners konnte ihn unbesorgt ausrauben. Wie ging er dabei vor?

Aus der Werkstatt eines Fälschers

Engel hat diesen Grundsatz: «Alles Wichtigste in der Stillehre nimmt von selbst die Form des Verneinens an.» «Lehrbar ist nur, die angebildeten Laster des Satzes, wie des Stiles überhaupt abzutun.» Daraus macht Reiners: «Daher ist jede Stilanleitung zum guten Teil negativer Natur: es ist wichtiger und leichter, Stillaster abzulegen als Stiltugenden zu erlernen.» Den Stilmeister will Engel nicht belehren: «Ihm werden hier keine Lehren gegeben, keine Warnungen erteilt, denn er ist mein Lehrer, nicht ich der seine.»

Reiners: «Ihn kann kein Stilbuch etwas lehren, es kann von ihm nur lernen.» An Stilmeistern führt Reiners dieselbe Auswahl vor wie Engel, zum Beispiel Theodor Storm mit dem Satz: «Meine Prosa hat mich stets mehr Zeit gekostet als Verse.» Halt, das schrieb nicht Storm, sondern Lessing, wie Engel richtig angibt; Reiners vertauschte beim Abschreiben die Namen. Reiners kennt nicht nur die Literatur zu wenig, er hat auch keine eigene Erfahrung, die er weitergeben könnte. Engel berichtet, wie er an seinem Werk über Goethe arbeitete: «Ich habe die Handschrift fünfmal durchgelesen, und zwar nach einer ersten fachlichen Prüfung unter diesen Hauptgesichtspunkten: 1. Ausdruck (Bestimmtheit, Anschaulichkeit, Wörter auf ung usw.); 2. Beiwörter, Umstandswörter; 3. Satz- und Absatzlänge; Satzzeichen, Satzbau, Wortfolge, Schachtelung, Bezugsätze; 4. Klang; 5. Überflüssiges.»
Reiners: «Da wir nicht bei einer Durchsicht auf alle Fehler achten können, so müssen wir unsere Entwürfe mehrmals durchgehen und jedesmal etwas anderes im Auge behalten, nämlich 1. inhaltliche Fehler, 2. Knappheit, 3. Zuspitzung und Anschaulichkeit des Ausdrucks, 4. Vermeidung unnötiger Haupt- und Beiwörter, 5. Satzbau, 6. Klang.»
So ging Reiners vor: er schrieb ab und um.

Eigentlich hat Eugen Roth schon alles gesagt. Er nannte Reiners einen «Feierabend- und Sonntagsschreiber», dessen bestes Werk, die Stilkunst, aus mindestens so vielen eigenen wie fremden Quellen gespeist sei. Man hat seither ab und zu auf diesen Tatbestand hingewiesen, ihn aber noch nicht gründlich untersucht und mit der nötigen Klarheit beurteilt. Und noch niemand hat deutlich gesagt, dass Reiners ein Hochstapler ist.

Der Laie als Fachmann

Engel zitiert aus einer griechischen Literaturgeschichte: «Ausserdem hatten die Athener in dieser Zeit ihrer grössten Aufgewecktheit eine besondere Vorliebe für eine gewisse Schwierigkeit des Ausdrucks; ein Redner gefiel ihnen weniger, der ihnen alles plan heraussagte, als der sie etwas erraten liess und ihnen dadurch das Vergnügen machte, dass sie sich selbst gescheit vorkamen.» Bei Reiners klingt das so: «Schon die Griechen hatten seit der Zeit der Sophisten und noch mehr in der Zeit des Hellenismus eine Vorliebe für eine gewisse Schwierigkeit des Ausdrucks. Ein Redner, der alles gerade heraussagte, gefiel ihnen weniger als einer, der sie etwas erraten liess und ihnen dadurch das Vergnügen machte, dass sie sich selbst gescheit vorkamen.» Reiners nennt die Quelle nicht, gibt also eine fremde Erkenntnis als eigene aus. Und indem er eine Aussage, die einer bestimmten Zeit Athens gilt, gleich auf das ganze Griechentum ausweitet, zeigt er, dass ihm neben der Ehrlichkeit auch das Urteilsvermögen fehlt. So schreibt ein Narr Kulturgeschichte. Wie steht es mit seinem Sinn für Stil? Über einen Vorgänger urteilt Reiners stolz: «Wenn der Jungdeutsche Theodor Mundt in einem Buch über Prosakunst eine neue lebendige Sprache fordert, so geschieht das in einem qualvollen Papierstil.» Zum Beweis führt er sieben Zeilen aus Mundts Buch an und übersieht, dass in fünfen Mundt nicht selber spricht, sondern Wilhelm von Humboldt zitiert. In einem besonders närrischen Kapitel behauptet Reiners: «Wenn man einen charakteristischen Text einem geschulten Ohr vorliest – nicht die Worte selbst, sondern nur ein la la la, aber mit richtigem Rhythmus –, so erkennt es sofort heraus, ob hier die Stimme Goethes oder Schillers, Kleists oder Nietzsches redet.» Nun hatte das geschulte Ohr und sogar Auge mehr vor sich als ein Lalala, und doch erkannte Reiners die Stimmen Humboldts und Mundts nicht.

Bezeichnend für Reiners ist auch das: «Von dem Humor mancher andern großen Männer – Luther, Lessing, Nietzsche – ist in anderen Kapiteln die Rede. Sie alle hätten das Wort Hebbels unterschrieben: ‚Für einen vorzüglichen Witz soll man eine Million gewöhnlicher Jamben hergeben‘.» In Wahrheit schrieb Hebbel, dass ein ‚Kunstverständiger‘ für einen einzigen Nestroy’schen Witz de première qualité eine Million gewöhnlicher Jamben hingebe, und meinte damit, ein gutes Possenspiel sei mehr wert als eine schlechte Tragödie oder Komödie. Reiners fälscht ein Zitat, um grosse Namen in einen albernen Zusammenhang zu zwingen.

Gemeines Judendeutsch

Oft wurde Engel unterstellt, dass er seine «Stammesgenossen» fördere. Ein Rezensent warf ihm 1916 vor: «Wie wird aber die Stillehre von Becker-Lyon heruntergekanzelt, weil sie eine jüdische Wortstellung mit Recht ‚gemeines Judendeutsch‘ nennt!» Engel hatte den Ausdruck abgewiesen und sachlich geschrieben: «Wir dürfen nicht sagen, noch schreiben: Ich habe gesehen meinen Freund, denn dies ist undeutsch.» 1944 führte Reiners das Judendeutsch wieder in die Stillehre ein: «Nur in längeren Sätzen können wir das Verb voranziehen. In kürzeren klingt das Voranziehen wie Judendeutsch: ‚Ich habe gemacht ein feines Geschäft‘.» Reiners war Mitglied der NSDAP. Im Begriff, mit dem Buch eines als Jude Verfemten ein feines Geschäft zu machen, witzelte er über jüdische Geschäftstüchtigkeit.

Das Urteil

Für ein «Kleinod in der Krone deutscher Prosakunst» hält Engel diesen Satz aus Mörikes «Mozart auf der Reise nach Prag»: «Wie von entlegenen Sternenkreisen fallen die Töne aus silbernen Posaunen, eiskalt, Mark und Seele durchschneidend, herunter durch die blaue Nacht.» Es sind die Klänge, zu denen der steinerne Komtur Don Giovanni warnt: «Dein Lachen endet vor der Morgenröte.» Am folgenden Abend überbringt er das Urteil: «Deine Zeit ist um.» Welches Urteil verdient Ludwig Reiners? Engel spricht es so: «Alle Verstösse gegen die Sprachrichtigkeit lassen sich verzeihen und durch Unterricht beseitigen. Unbeholfenheit des Ausdrucks, Schwerfälligkeit des Satzbaues, Verworrenheit im Ordnen der Gedanken lassen sich mindern oder abstellen. Die unverzeihliche Todsünde des Stils, die Sünde gegen den heiligen Geist in der Menschenrede ist die Unwahrheit.» Reiners äfft ihm auch dieses Urteil nach, mildert es aber, im Bewusstsein darum, dass es sein eigenes ist: «Den Unbeholfenen können wir ertragen, den Papierenen belehren, dem Unsicheren verzeihen, aber der Windbeutel, der Taschenspieler, der aufgedonnerte Scharlatan ist unserer heiteren Verachtung gewiss.» Heitere Verachtung ist freilich zu wenig für das, was Reiners tat. Mit seinem Diebstahl vernichtete er Eduard Engels Namen.

Reiners, den Menschen kannte Engel kaum; Reiners, der Typ war ihm vertraut. Er schrieb seine «Stilkunst» ausschliesslich gegen ihn: den Bildungsflunkerer, den Hochstapler, den literarischen Betrüger. Er verlangte: «Sei wahr! Wolle nicht mehr sagen, als du sicher weisst, klar denkst, ehrlich fühlst.» Dass ausgerechnet Engel einem Reiners in die Hände fiel, hat etwas alptraumhaft Ironisches, und wenn die Verdeutschung trifft, die Engel der Ironie beigibt, Feinspott, so ist das Feinspott vom gröbsten. Soll die hinterlistige und geschäftstüchtige Dummheit den Sieg davontragen? Eduard Engel muss seinen Namen zurückbekommen; seine «Deutsche Stilkunst» muss neu herausgegeben werden. Der Verlag C. H. Beck sollte Reiners aus dem Angebot entfernen.

Reiners erschwindelte sich den Titel eines Klassikers der Stilkunst und führte ihn sechzig Jahre. Die übrige Zeit wird er als Klassiker der Hochstapelei und des literarischen Diebstahls zubringen.

NZZ am Sonntag, 16. 12. 2007



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