06.08.2004


Frank Schirrmacher: Die Reform der deutschen Rechtschreibung ist gescheitert

Der F.A.Z.-Herausgeber im Leitartikel

Ein Wort des großen Chesterton: »Es heißt immer, man könne die Uhren nicht zurückdrehen. Aber wenn sie falsch gehen, kann man genau das machen: sie zurückdrehen.« Und das geschieht nun mit der völlig aus dem Takt gekommenen sogenannten Rechtschreibreform.
Sie ist ein öffentliches Unglück. Sie hat eine verwirrte Sprach- und Schreibgemeinschaft hinterlassen, ein Land, in dem die Eltern anders schreiben als die Kinder, die Kinder anders als die Schriftsteller, deren Werke sie im Unterricht lesen, die Schriftsteller anders als die Zeitungen und Zeitschriften, in denen sie gedruckt werden, und von diesen jede anders als die nächste. Das Ziel einer Vereinheitlichung und Vereinfachung der deutschen Schriftsprache ist auf monströse Art verfehlt worden. Schon deshalb ist die Feststellung berechtigt: Die Reform der deutschen Rechtschreibung ist gescheitert.

Planwirtschaftliches Experiment

Sie war einst geplant, weil man einen Alleingang der DDR befürchtete. Als diese zerfiel, tagten die Ausschüsse und Gremien weiter, als hätte man vergessen, sie abzuberufen. Entstanden ist schließlich das letzte planwirtschaftliche Experiment auf deutschem Boden. Sprache, der lebendige Organismus, ist keine LPG und läßt sich nicht umbauen wie ein Einkaufszentrum.

"Wir haben im Augenblick wichtigere Sorgen als die Rücknahme der Rechtschreibreform", verkündete unlängst der sächsische Ministerpräsident. Er vergaß freilich hinzuzufügen, daß wir mit der Rechtschreibung gut lebten, ehe sie in die Hände der Politiker fiel. Auch damals veränderte sie sich, und kein vernünftiger Mensch hat sich dem je entgegengestellt. Aber Evolution durch Gebrauch ist etwas anderes als Reform durch Verordnung. Daß die Politiker wichtigere Probleme zu lösen haben als die, die sie ohne Not in die Welt gesetzt haben, ist eine Lektion nicht nur für die Rechtschreibreform, sondern für Reformen überhaupt.

Die Sorge beschleunigte den Prozeß

Dabei waren alle guten Willens. Diese Zeitung hat es ein Jahr lang mit der neuen Rechtschreibung versucht. In der "Welt" erklärte bereits 1998 Mathias Döpfner: "Solange es irgendwie möglich ist, schreiben wir weiter nach alten Regeln. Die Rechtschreibreform wird sich nicht durchsetzen." Im "Spiegel" hatte Rudolf Augstein die Redaktion ermächtigt, in der alten Rechtschreibung weiterzuschreiben. Daß diese Verlage, wie auch viele andere, dann doch zur neuen Rechtschreibung wechselten, kann ihnen niemand vorwerfen. Auf dem Spiel stand die Einheitlichkeit der deutschen Sprache. Die Sorge, womöglich anders zu schreiben, als in Schulen gelehrt wird, beschleunigte den Prozeß.

Daß jetzt der "Spiegel" und der Axel Springer Verlag zur alten Rechtschreibung zurückkehren, ist mutig und angesichts des Einflusses der beiden Verlage folgenreich. Die Verlage handeln, wie auch diese Zeitung, aus Not, nicht aus ideologischem oder wirtschaftlichem Kalkül. Darin müßten sie von der Öffentlichkeit bitter ernst genommen werden: Ihr Schritt sagt nichts anderes, als daß es beim besten Willen nicht mehr geht.

Semantische Abgründe

Sprache ist das Handwerkszeug von Schriftstellern, Journalisten und Verlagen. Wie ein Schuhmacher oder ein Schmied wissen sie am besten, wenn man ihnen die Werkzeuge kaputtmacht. Fast jede Redaktion in Deutschland hat eine hausinterne Rechtschreibung entwickelt. Selbst diejenigen, die sich der neuen Rechtschreibung bedienen, äußerten sich oft geradezu verzweifelt. Die logischen und semantischen Abgründe, die die neue Rechtschreibung aufreißt, sind ruinös nicht nur für hochgeistige Werke.

Die "Süddeutsche Zeitung", die weiß, was Sprachkultur ist und keiner Belehrung durch die Kultusbürokratie bedarf, schrieb vor wenigen Wochen: "Die Kultusminister spielen auf Zeit. Sie hoffen, daß entweder die Gewöhnung an den Unsinn oder die Verwirrung einen solchen Grad erreichen, daß niemand mehr weiß, wo ihm der Kopf steht." Auch die "Süddeutsche Zeitung" hat sich jetzt zur Rückkehr zur alten Rechtschreibung entschlossen.

Grotesk widerlegt

Es ist zu hoffen, daß die Umkehrung der Reform nicht zu einer Prestigefrage wird. Der "Spiegel" und die Axel Springer AG, wie auch diese Zeitung, haben erklärt, daß auf der Basis der alten Rechtschreibung sinnvolle Neuerungen durchaus übernommen werden können. Voraussetzung einer Reform ist, daß sie funktioniert, daß eintritt, was versprochen wird. Das Versprechen lautete: Einheitlichkeit, Einfachheit und größere Sinnhaftigkeit. Alles wurde durch die Praxis grotesk widerlegt. Die Reform war ein handwerkliches Desaster, und hier wird sie in der Tat zu einem Problem für die Politiker. Ratlos steht man vor der Erkenntnis, daß es in Deutschland offenbar unmöglich ist, etwas als falsch Erkanntes zu widerrufen.

Die Bundesregierung hat jüngst erklärt, sie bestehe auf der Reform, und brüskierte damit ihre eigene Kulturstaatsministerin. Der Grund dafür ist nicht bessere Einsicht oder die literarische Expertise des Kanzlers. Der Grund ist selbst ein sprachlicher. Man hat Angst, daß das Wort "Reform" gleichsam kontaminiert wird, daß die Rechtschreibreform, für die die derzeitige Regierung übrigens keine ursächliche Verantwortung trägt, nun zum Symbol von Reformunfähigkeit wird, zum Menetekel, das die Inkompetenz der politischen Klasse in giftiges Licht taucht.

Das Gegenteil ist wahr. "Spiegel" und der Axel Springer Verlag sind so sachlich wie der Technische Überwachungsverein: Was nicht funktioniert, dessen Zulassung wird widerrufen. Im Jahr 2004, das Historiker später einmal unter dem Stichwort der "Reform" mustern werden, ist die Auseinandersetzung um die Rechtschreibreform ein Symbol: Sie zeigt den Politikern die Grenzen ihrer Zuständigkeit.

Quelle: F.A.Z.
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