22.07.2006


Basler Zeitung

Deutschprofis am Ende des Lateins

Liebe Sprachliebhaberinnen und Sprachliebhaber, unser Deutsch steht kopf (oder Kopf?). Einst reichte eine durchschnittliche Schulbildung, um korrekt zu schreiben, und der einmal angeschaffte Duden tat ein Leben lang seinen Dienst.

Inzwischen stapeln sich die Lexika auf unseren Schreibtischen – und seit heute Samstag schreibt uns wieder ein neues Regelwerk vor, wie wir zu schreiben haben: der Duden, Auflage 24.

Wacker schlagen die Deutschexperten mit rund 3000 neuen Empfehlungen Schneisen in den Variantendschungel, der seit der Rechtschreibreform 1996 in unseren Texten wuchert. Wir sind beeindruckt – und ziemlich ratlos: Warum sollen wir künftig “tierliebend” zusammen, “Musik liebend” aber getrennt schreiben? “Handel treibend”, aber “gewerbetreibend”? “Strom sparend”, aber “energiesparend”?

Mit dem Entscheid der deutschen Kultusminister und der Schweizer Erziehungsdirektoren, die neuste Fassung der neuen Rechtschreibung am 1. August in Kraft zu setzen, sei die “Sicherheit in Fragen der Orthografie” wiederhergestellt, schreibt die Duden-Redaktion im Beipackzettel. Schön wär’s.

Werfen Sie mal einen Blick in die diversen neuen Wörterbücher, die den aktuellen Stand der “Reform der Reform” dokumentieren. Sie stellen fest: Nicht nur wir Laien, sondern auch Deutschprofis sind am Ende des Lateins. So rät etwa “Wahrig. Die deutsche Rechtschreibung”, “das Adjektiv erste in der Fügung Erste Hilfe grosszuschreiben”. Heuers “Richtiges Deutsch” wiederum schlägt genau das Gegenteil vor – nämlich: “möglichst konsequent die Kleinschreibung anzuwenden: das schwarze Brett, der goldene Schnitt, die erste Hilfe”. Wir sind erstaunt, denn auch verantwortliche Heuer- und Wahrig-Redaktoren gehören dem Rat für deutsche Rechtschreibung an, dessen Aufgabe es wäre, für Klarheit zu sorgen und uns das Schreiben zu erleichtern.

Stattdessen ist uns schwindlig geworden angesichts der Variantenflut, die die Dauerreform ausgelöst hat. Im August 1996 lernten wir um und schrieben zum Beispiel neu “es tut mir Leid” (statt leid); ab Juni 2004 schrieben wir “es tut mir leid” (oder “es tut mir Leid”). Jetzt werden wir erneut umgeschult und sollen “es tut mir leid” schreiben – womit sich die neue Rechtschreibung wieder ein Stückchen der alten vor 1996 angenähert hat. Dumm nur, dass wir die alten Regeln inzwischen vergessen haben.

REMO LEUPIN

Die baz wendet die neue amtliche Rechtschreibung an und wählt bei Varianten in der Regel die herkömmliche Schreibung gemäss Empfehlung der Schweizer Orthographischen Konferenz, der Verlage und Nachrichtenagenturen angehören.

> www.baz/go/rechtschreibung




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