12.07.2006 Stefan Stirnemann Richtiges Deutsch (Teil 1)Peter Gallmann zeigt, was die neueste amtliche Rechtschreibung istFür die Netzseite der Forschungsgruppe Deutsche Sprache bespreche ich Walter Heuer, Max Flückiger, Peter Gallmann: Richtiges Deutsch, Vollständige Grammatik und Rechtschreiblehre unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtschreibreform, 27. Auflage, 2006.Die 26. Auflage habe ich hier besprochen; sie ist nur anderthalb Jahre alt geworden – ihr Vorwort stammt vom August 2004, das Vorwort der neuen Bearbeitung wurde im Januar 2006 geschrieben. Nötig wurde die Neubearbeitung wegen der erneuten Umgestaltung der neuen Rechtschreibung. Die Verantwortung für die Neubearbeitung liegt bei Peter Gallmann: als Reformer, der seit zwanzig Jahren an der Abänderung unserer Rechtschreibung arbeitet, und als Mitglied des Rates für Rechtschreibung muß er mit den Dingen vertraut sein wie kaum einer. Walter Heuers Buch wird seit der sechzehnten Auflage (1983) von Max Flückiger und Peter Gallmann betreut. Es ist und bleibt eigentlich ein gutes Buch, mit guter Theorie, hilfreichen Überblicken und nützlichen Übungen. Die Rechtschreibreform schadet ihm freilich, und die neueste Auflage ist gerade für die Schule unbrauchbar. Vier Erkenntnisse sind zu gewinnen: Erstens: Gallmann hat den Überblick über die Reform verloren. Beispiel: Paragraph 333 über die „Komparationsformen der Partizipien“ entspricht wörtlich der 23. Auflage von 1997, Gallmann hat vergessen, ihn anzupassen, und lehrt 2006 den Stand der Dinge von 1996: übel riechend, hell leuchtend, viel beschäftigt u. a. seien nur getrennt richtig. Es geht nicht um einzelne Wörter, es geht um Grundsätze, die 1996 aufgestellt und im Juni 2004 und Februar 2006 zurückgenommen wurden. Gallmann war dabei und müßte es wissen. Zweitens: Wo der Rat für Rechtschreibung mehrere Möglichkeiten vorsieht, empfiehlt Gallmann vorwiegend die reformierte Lösung. Beispiel: Zu Fügungen wie Erste Hilfe schreibt er: „Wir empfehlen, möglichst konsequent die Kleinschreibung anzuwenden.“ Der neueste Wahrig empfiehlt das Gegenteil: „Es empfiehlt sich, das Adjektiv erste in der Fügung Erste Hilfe (=medizinische Erstversorgung) großzuschreiben, um auf ihren fachsprachlichen Charakter hinzuweisen und sie so gegen die wörtliche Bedeutung abzugrenzen.“ Die Leiterin der Wahrig-Redaktion, Sabine Krome, ist wie Gallmann Mitglied des Rates. Drittens: Gallmann setzt sich über die amtliche Regelung hinweg oder legt sie falsch aus. Beispiel: Er führt in Paragraph 1120 das Farbadjektiv gelblichgrün auf. Es ist kein Druckfehler, in Paragraph 1349 wiederholt er es: „ein gelblichgrüner Schimmer“. Im August 2004 schrieb Gallmann noch getrennt: bläulich grün (Paragraph 1220). Laut dem neuen Wahrig ist die Trennung zur Zeit noch vorgeschrieben: „Verbindungen aus zwei Adjektiven schreibt man jedoch getrennt, wenn der erste Bestandteil kein einfaches, sondern ein abgeleitetes Adjektiv ist: gelblich braun, gelblich rot.“ Entsprechend steht es in der einschlägigen Ausgabe des Sprachreports. In diesem Punkt ist Gallmann zwar im Recht, aber er müßte sagen, daß er von der amtlichen Vorschrift abweicht und warum. Viertens: Gallmann mißachtet den Käufer nicht nur durch Oberflächlichkeit und Eigenmächtigkeit, sondern auch durch seinen Umgang mit den erneuten Veränderungen: Er bekennt sich nicht zu seiner Mitverantwortung, sagt nicht, was eigentlich los ist, sondern ändert stillschweigend das, was er bisher gelehrt hat. Beispiel: Im August 2004 begann Paragraph 1220 so: „Man schreibt getrennt, wenn der erste Teil der Fügung ein Adjektiv auf -ig, -isch, -lich ist.“ Jetzt fehlt dieser Satz. Die Lage: Der Rat für Rechtschreibung soll die Einheitlichkeit der Rechtschreibung wahren, das heißt sie wiederherstellen, indem er die Fehler der Reform berichtigt. Es zeigt sich jetzt, daß auch die dritte Fassung des amtlichen Regelwerks diese Einheitlichkeit nicht bringt. Gallmann arbeitet für die Schule (Vorwort zur 22. Auflage: „Dass das Buch über seinen zuerst engeren Benützerkreis hinaus heute auch in Schulen gebraucht wird … erfüllt uns mit Dankbarkeit.“); er wird dafür sorgen, daß in den Schulen die Grundsätze der Reform beibehalten werden. Die Bildungspolitiker werden ihn unterstützen. Das Generalsekretariat der EDK (Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren) teilte am 22. Juni mit: „Da die Veränderungen des Rates in erster Linie mehr Varianten-Schreibungen zulassen, kann in der Schule teilweise die bisherige Regel weiter vermittelt werden. Wo dies nicht möglich ist, wird die Varianten-Schreibung möglichst durch Regeln geführt.“ Zur Zeit wird für die Schule ein Reform-Regelwerk ausgearbeitet, das die Absicht Zehetmairs und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung durchkreuzt. Wer Hans Zehetmairs Werbung jetzt nachgibt und dabei den Grundsatz „Bei Varianten die herkömmliche“ befolgt, schreibt also keineswegs so, wie die Kinder in den Schulen schreiben. Wenn er nachgibt, ohne auf diesem Grundsatz zu bestehen, muß er erklären, warum genau er nachgegeben hat. Der Rat für Rechtschreibung ist ferner in ganz grundsätzlichen Fragen uneinig; das sieht man an den unterschiedlichen Empfehlungen Kromes und Gallmanns. Dazu gibt es offensichtlich Zweifel daran, wie einzelne Regeln auszulegen sind, und es werden Regeln angewendet, die nicht oder noch nicht im Regelwerk stehen. Während allgemein geglaubt wird, der Rat für Rechtschreibung habe die Lage geklärt, sind wir tatsächlich gleich weit wie im Sommer 2000, als allen Unvoreingenommenen die verlorene Einheitlichkeit bewußt wurde. Und wenn im Frühjahr 2004 die Reformer damit scheiterten, die Verfügungsgewalt über die Rechtschreibung zu erhalten, so haben sie dieses Ziel jetzt offenbar erreicht: ohne Aufsicht verändern sie die amtlichen Regeln. Es ist an und für sich unverständlich, daß die Ratsmitglieder ihren Wettbewerbsvorteil ausnützen dürfen. Sie sollten sich wenigstens zu besonderer Sorgfalt verpflichtet fühlen. Gallmanns Buch ist die erste ausführliche Darstellung der neuesten Rechtschreibung. Sie ist für die Schule unbrauchbar. Damit geraten die Politiker in Zeitnot: jetzt, in der unterrichtsfreien Zeit, sollten sich die Lehrkräfte auf das neue Schuljahr vorbereiten. Wie geht das, wenn es kein zuverlässiges Lehrmittel gibt? Und wenn sich ein erfahrener Reformer und Rechtschreibrat so im Gestrüpp der neuen Rechtschreibung verirrt, was darf man von einem Lehrer erwarten, und gar von einem Schüler? Ich beginne einen Durchgang durchs Buch. Höflichkeit als individuelle Auffälligkeit, Inkonsequenz und Fehler In Paragraph 1775 lehrt Gallmann unverdrossen: „Die Pronomen für die vertraute Anrede (du, dir, dein …; ihr, euch, euer …) schreibt man in allen Texten klein: (Brief:) Lieber Fritz! Hier erhältst du deinen Rasierapparat zurück (…).“ Die neueste Änderung gibt er, sichtlich unwillig, in einer Anmerkung: „Bei den Pronomen für die vertraute Anrede ist in Anlehnung an die frühere Regelung auch Großschreibung möglich – aber nur in Briefen.“ Wie es gemeint ist, sagt Gallmann so: „Bei Privatkorrespondenz ist die Entscheidung für Groß- oder Kleinschreibung eine Frage der persönlichen Vorlieben und muss hier nicht weiter kommentiert werden. Wenn allerdings bei der Wiedergabe von Privatkorrespondenz oder Ausschnitten davon (etwa als Zitat in einem Zeitungsartikel) individuelle Auffälligkeiten, Inkonsequenzen und Fehler bereinigt werden, empfehlen wir die Kleinschreibung nach der Grundregel für Pronomen.“ Prophetisches Vorwort Mit prophetischem Weitblick schrieben Max Flückiger und Peter Gallmann im Januar 2006: „Die neuesten Beschlüsse der deutschen Kultusminister vom März 2006 und der schweizerischen Erziehungsdirektoren, ebenfalls vom März 2006, sind berücksichtigt.“ Man hat auch die Ergebnisse des Anhörungsverfahrens, das die EDK bis Ende April durchführte, nicht abgewartet, oder vielleicht auch sie prophetisch vorweggenommen. Zum eigentlichen Anlaß der Überarbeitung meldet das Vorwort: „Die Vorgaben der Rechtschreibreform, die heute zu großen Teilen gültig ist, in den Schulen geübt und im Druckwesen praktiziert wird, werden grundsätzlich übernommen. Doch werden oft eindeutigere Regeln gesetzt dort, wo neue Vorschriften zu unbestimmt oder sogar mehrdeutig gehalten sind. Dies gilt besonders für die Zeichensetzung und für Worttrennungen, auch für Fremdwörter, wo für Angehörige eines mehrsprachigen Landes, die ja in engem Kontakt mit andern Sprachen stehen, eine radikale Eindeutschung nicht sinnvoll wäre.“ Im August 2004 lautete der Satz so: „Die Vorgaben der Rechtschreibreform, die in den Schulen seit längerer Zeit praktiziert wird, auch im Druckwesen vermehrt Eingang gefunden hat, werden grundsätzlich übernommen. Doch werden oft eindeutigere Regeln gesetzt dort, wo neue Vorschriften zu unbestimmt oder sogar mehrdeutig gehalten sind (…).“ Der Rat für Rechtschreibung hat seine Arbeit im Dezember 2004 aufgenommen und diesen Februar erste Ergebnisse vorgelegt – und trotzdem gibt es immer noch unbestimmte und sogar mehrdeutige Regeln? Warum hat sich Gallmann nicht wirksam dagegen gewehrt, daß sie verbindlich werden? Stilistisch bemerkenswert ist folgender Satz: „Wir freuen uns, wenn dieses neue Buch Ihnen neben viel konzentriertem Lehrstoff und viel Lehrreichem auch etwas Abwechslung bietet, hin und wieder sogar etwas Spaß, und dass die der Paxis entnommenen schlechten Beispiele Ihnen gelegentlich ein Schmunzeln entlocken!“ In Paragraph 421 wird unterschieden: „Es freut mich, wenn du kommst (angenommener Fall). Es freut mich, dass du kommst (tatsächlicher Fall).“ Tatsächlich hat man bei der Arbeit mit Gallmanns Buch nicht Lust zu schmunzeln. Ärgerliche Fehler, Ergänzungen, Präzisierungen, Aktualisierungen „Die 27. Auflage trägt ein neues Kleid, das auch Ihnen – so hoffen wir wenigstens – gut gefällt, und das Buch ist zudem innen grafisch-optisch neu gestaltet worden. Der Neugestaltung wegen ist auch der Inhalt des Werks durchgehend überprüft worden: einige ärgerliche Fehler konnten dabei behoben und nötige Ergänzungen, Präzisierungen und Aktualisierungen vorgenommen werden.“ Man erfährt nicht, was da behoben, ergänzt, präzisiert und aktualisiert wurde. Mit einer einfachen Liste der Fehler und Zusätze würde es dem treuen Käufer und Leser ermöglicht, ein teures Buch weiterzuverwenden, das er erst vor einem Jahr gekauft hat. Ich gebe zwei Beispiele für ärgerliche Fehler: Gallmann schrieb noch bis August 2004 aus alter Gewohnheit jedesmal: auch an noch so einfache Regeln muß man sich gewöhnen. Jetzt steht endlich richtig: jedes Mal. Auch das ich habe Recht war in der letzten Auflage noch nicht überall durchgedrungen. In Übung 19 hieß es noch: „Doch, ihr habt schon recht!“ Jetzt ist der Fehler behoben: „Doch, ihr habt schon Recht!“ – obwohl es gar kein Fehler mehr ist. Sprachwandel vom August 2004 bis Januar 2006 Unter dem Titel „Verblasste Nomen“ erklärt Gallmann: „Wenn recht/Recht und unrecht/Unrecht bei den Verben haben, bekommen, erhalten, behalten und tun stehen, ist die Wortart nicht immer klar zu bestimmen; die amtliche Rechtschreibung von 2006 gibt die Schreibung daher frei.“ Im August 2004 stellte Gallmann die Sache so dar: „In unfesten (trennbaren) Verbindungen aus Nomen und Verb schreibt man das Nomen groß und getrennt.“ Beispiele: „Recht haben (behalten, bekommen; ebenso: Unrecht haben, behalten, bekommen).“ Drei Anmerkungen drängen sich auf: Wenn das Nomen getrennt geschrieben wird, dann liegt keine trennbare Verbindung vor, sondern eine getrennte – was immer das sein soll. Zweitens gönnt Gallmann dem Käufer kein Wort darüber, warum die Wortart von Recht in Recht haben plötzlich nicht mehr klar ist. Ohne weiteres wird auf eine „amtliche Rechtschreibung von 2006“ verwiesen, die es offenbar vom Himmel geschneit hat. Drittens sagt Gallmann auch zu den weiteren Veränderungen nichts, welche es bei den Verbindungen aus Nomen und Verb gegeben hat, sondern streicht stillschweigend Beispiel um Beispiel aus seiner Liste von 2004: Eis laufen, Halt machen, Kopf stehen, Maß halten, Not tun, Pleite gehen. Eislaufen und kopfstehen gehören nun zu einer „kleinen Fallgruppe“, in der das Nomen seinen Eigenwert verloren habe und zu einem Verbzusatz geworden sei. – Und dies alles in der Zeit zwischen August 2004 und Januar 2006. In einer Anmerkung erwähnt Gallmann kopfstehen nochmals, diesmal als „Sonderfall“, und preisgeben als „Einzelfall“. Er nennt die drei Verbindungen, bei denen „die Fassung des amtlichen Regelwerks von 2006“ Getrennt- oder Zusammenschreibung vorsieht: achtgeben oder Acht geben, maßhalten oder Maß halten, haltmachen oder Halt machen. Als treuer Reformer schreibt Gallmann: „Wir empfehlen in diesen Fällen die Getrenntschreibung nach der Grundregel.“ Klassisch ist der folgende Satz: „Bei einigen Grenzfällen erspart einem die Zusammenschreibung das Nachdenken darüber, ob dem Verbzusatz wirklich ein Nomen zugrunde liegt: leidtun, pleitegehen, bankrottgehen.“ Wer findet sich in all diesen Fallgruppen, Einzelfällen, Sonderfällen und Grenzfällen noch zurecht? Ein Eichhörnchen hüpft emsig in den Ästen herum, rennt nüssesammelnd übers Moos am Boden, hat alle Pfötlein voll zu tun, gräbt seine Funde ein und aus und woanders wieder ein: was gestern ein Nomen war, ist heute ein Verbzusatz, groß wird klein, die Baumnuß wird zum Haselkernlein. Weiß das Eichhörnchen noch, was es wo vergraben hat? Wir wollen sehen. (Fortsetzung folgt.)
Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
|