18.06.2006


Prof. Dr. Dr. Rudolf Wachter

Wo steht die neue Rechtschreibung?

Referat vor der Schweizer Orthographischen Konferenz

Lesen Sie hier das Referat von Prof. Wachter, das er am 1. Juni 2006 in Zürich gehalten hat.


Sehr geehrte Damen und Herren, ja, die Rechtschreibreform! Irgend jemand wird darüber einmal ein witzig-satirisches Epos schreiben. Aber dafür sind wir heute nicht hergekommen. Wir müssen vorwärts schauen. Und ich habe das leicht prickelnde Gefühl, dass dem heutigen Tag und unserer hiesigen Zusammenkunft ziemlich grosse Bedeutung zukommen könnte. Welchen Weg wird die Schweizer Presse- und Verlagslandschaft, die hier so prominent versammelt ist, in dieser verfahrenen Frage weisen? Ich will jetzt nicht pathetisch werden, aber wir Schweizer neigen manchmal eine wenig zur Rebellion, und diese steht uns gar nicht so schlecht an. Sie aber, meine Damen und Herren, haben tatsächlich die Freiheit, heute aufgrund rationaler Kriterien und sorgfältig abwägend zu entscheiden, wie wir in unserem Land der deutschen Sprache am besten dienen können! Ja vielleicht sind wir Schweizer, gerade weil wir die deutsche Standardsprache auf bewusstere Weise lernen müssen als die Deutschen und die Österreicher, besonders gut in der Lage, nüchtern zu sagen: „Dies ist gut, und jenes ist schlecht.“

Sie haben die Reform, die Kritik und das graduelle Zurückkrebsen verfolgt. Einige offensichtliche Fehler sind inzwischen rückgängig gemacht, mindestens in dem Sinne, dass nun neben der neuen auch die altbewährte Schreibung wieder richtig ist. Und die Sache ist auf hochinteressante Weise verlaufen: Die Bildungspolitiker, d. h. einmal mehr die Allianz der Exekutiven auf nationaler und regionaler Ebene ohne Mitspracherecht der Legislative, haben die Reform seinerzeit ohne Zögern gutgeheissen und per Dekret eingesetzt, haben aber mittlerweile einen neuen Rat für Rechtschreibung installieren müssen, und dieser, obwohl zu einem erheblichen Teil aus Leuten bestehend, die die Reform konzipiert und die Reformregelwerke gedruckt und verkauft haben, kann nun nicht anders, als die Reform Schritt für Schritt zurückzunehmen. Dieser Verlauf zeigt mit schonungsloser Klarheit, dass in Sachen Sprache und Schrift das demokratische Prinzip so gut funktioniert, dass schliesslich auf jeden Fall die besseren Argumente den Sieg davontragen. Sprache gehört eben allen. Sie ist deutsch im etymologischen Sinne des Wortes (deutsch heisst ursprünglich nichts anderes als „dem Volk gehörend“). Alle können, wenn sie nur wollen, kompetent mitreden. Deshalb haben sich Politiker in Sachen Sprache und Orthographie noch jedesmal die Finger verbrannt, wenn sie etwas Mangelhaftes – oder nur schon etwas Neues, das keinen echten Vorteil brachte – top down durchsetzen wollten. Ein prominenter Fall ist Kaiser Claudius, dessen Orthographiereform, sobald er selber zum göttlichen Kürbis geworden war, zu den kulturgeschichtlichen Akten gelegt wurde. Geschickte Reformen dagegen, sogar bottom up, können glänzenden Erfolg haben. Ein schönes Beispiel dafür ist die Erfindung unseres Buchstabens G, den wir einem Hauslehrer im Sklavenstand in Rom um 250 v. Chr. verdanken.

Im Augenblick besteht in der deutschen Orthographie eine höchst unbefriedigende Situation, insofern als der neue Rat – mit dem Segen der Politik – in zahllosen Fällen mehrere Schreibungen zulässt. Auf die Dauer ist das untragbar, fürs Schreiben wie fürs Lesen. Im Hinblick auf das Schreiben hat mir schon vor etwa einem Jahr eine hellsichtige Maturandin geklagt, man müsse sich nun pro Wort viel mehr einprägen als früher, nämlich erstens, ob ein Wort mehr als eine richtige Schreibung hat oder nicht, und, wenn ja, zweitens, statt eine richtige Schreibung gleich zwei oder drei. Die Auswahl, die sogenannte Freiheit, gibt also paradoxerweise mehr zu lernen, nicht weniger. Und in bezug auf das Lesen ist die Auswahllösung deswegen höchst ungünstig, weil eine Orthographie, wie ich schon seit Jahren immer wieder betone, grundsätzlich desto besser ist, je weniger sie auffällt und die Leser vom Inhalt eines Textes ablenkt – wie eine sauber geputzte Fensterscheibe in einem Bergrestaurant. Für die Orthographie gilt deshalb

meine These Nr. 1: Eine Reform, die keinen klaren Fortschritt bringt, lohnt sich nicht, denn sie wird sich nicht durchsetzen. Sie stiftet jedoch unnötige Verwirrung und ist deshalb verantwortungslos. Schon gar nicht aber lohnen sich Schreibvarianten, denn diese bringen für das Schreiben und Lesen nur Nachteile!

Nun sind wir aber eben da, wo wir sind. Wie soll es weitergehen? Der Weg, den der Rat für Rechtschreibung eingeschlagen hat, hat uns zwischen Skylla und Charybdis geführt: Einerseits sind Variantenlösungen, wie gesagt, auf die Dauer schlecht, andererseits ist nicht einzusehen, warum uns nur ein Teil der altbewährten Schreibungen wieder erlaubt worden sind. Offenbar haben die Politiker dem Rat in gewissen Bereichen verboten, auf die Reformbeschlüsse zurückzukommen, und der Rat hat es aus eigenem Antrieb nicht geschafft, das Heft in die Hand zu nehmen. Stutzig macht den Leser der jüngsten Empfehlungen aber auch die Tatsache, dass alte Schreibungen oder seit der Reform verbotene Formen dort, wo sie wieder gestattet worden sind, fast konsequent hintangestellt und damit nach wie vor als minderwertig gekennzeichnet sind (z. B. „fleischfressend“). Dies ist bestenfalls als unfair zu taxieren, jedenfalls bevor bewiesen ist, dass die Form, die eine Zeitlang verboten war, schlechter ist und weniger oft benutzt wird als die neue (falls die beiden überhaupt dasselbe bedeuten). Der Verdacht ist deshalb nicht von der Hand zu weisen, dass auch der Rat selber, oder mindestens ein Grossteil seiner Mitglieder, gewisse Dinge lieber nicht mehr anpacken will.

Dabei geht es hier nicht selten um objektiven sprachlichen Unsinn, etwa bei der Grossschreibung: Warum sollen wir zum Beispiel „heute morgen“ mit grossem „Morgen“, „heute früh“ aber anders, nämlich mit kleinem „früh“, schreiben müssen? Es ist sprachwissenschaftlich völlig eindeutig, dass „morgen“ in diesen Verbindungen kein richtiges Substantiv ist, ebensowenig wie „früh“. Warum, zweitens, sollen wir „vor allem“ weiterhin mit kleinem „allem“ schreiben dürfen, ja sogar müssen, „des weiteren“, „im allgemeinen“, „im einzelnen“ aber nur mit Grossbuchstaben? Denn „ohne weiteres„ darf klein geschrieben werden, ja in der Form „ohneweiters“ den Österreichern zuliebe sogar klein und zusammen, und „insbesondere“ muss sogar weiterhin klein und zusammengeschrieben werden. Da lobe ich mir wirklich die Konsistenz der alten Regelung genereller Kleinschreibung! Und das wichtigste Argument ist wieder dasselbe wie vorhin: Auch in diesen stehenden Verbindungen haben die sogenannten Substantive nicht volles Gewicht; die Verbindungen sind leichtgewichtige Adverbien, und Adverbien schreibt man klein. Der nach 100 Jahren Konsens von der Reform wieder aus der Mottenkiste hervorgeholte Grossbuchstabe kommt in diesen Fällen im übrigen viel zu blickfängerisch daher, fast gar als Potemkinsches Dorf, besonders in Sätzen, in denen sonst fast oder gar keine Substantive vorkommen. Ich schreibe hier jedenfalls weiter klein!

Meine These Nr. 2: Um die Variantenschreibung innert nützlicher Frist wieder einzudämmen, müssen als erstes auch die noch verbotenen alten Schreibungen wieder gestattet werden.

Dies gebietet das Prinzip der Fairness, auch wenn dadurch die Fälle mit Schreibvarianten vorübergehend zahlreicher werden. Nicht nur die freien Medien und die Allgemeinheit, sondern auch die Jugendlichen und die Lehrkräfte müssen die volle und echte Wahlfreiheit erhalten. Es heisst doch, der heutige Konsument sei qualitätsbewusst: Na bitte, dann lassen wir ihn aber auch wirklich frei das Bessere wählen! Danach warten wir ein paar Jahre, eruieren sorgfältig die jeweils häufigere der beiden Schreibungen, und führen durch Wiederholung solcher Erhebungen in immer kürzeren Abständen die didaktischen Mittel langsam wieder zu einheitlichen Regelungen hin. Da aber der Rat für Rechtschreibung, wie gesagt, nicht den Eindruck macht, genügend zielsicher auf dieses Fairnessprinzip zusteuern zu können, so schiene es mir um der Sache willen geboten, dass die nicht unter dem Joch des Staates stehenden Teile der Sprachgemeinschaft ihre Entscheidungen zwischen den altbewährten und den neuen Schreibungen treffen, ohne allfällige weitere Empfehlungen abzuwarten.

Ich empfehle schliesslich allen Beteiligten aus tiefstem Herzen, diese Reform, die uns nun zehn Jahre umgetrieben hat, mit der gebührenden Distanz, sozusagen als sportlichen Wettkampf, zu betrachten. Ja sie verdient sogar manchmal ein kleines Lächeln! Denn im Rahmen der Kulturgeschichte, sub specie aeternitatis sozusagen, ist sie wahrhaftig nicht mehr als ein kurzer Hustenanfall der deutschen Sprache. Die Epigraphiker und Paläographen in 2000 Jahren freilich werden darüber begeistert sein, da sie nämlich Originalschriftstücke nach den Kriterien der Reform genau werden datieren können. Sie werden etwa sagen: „Aha, dieser Text stammt aus dem Jahrzehnt, in dem unsere armen Vorfahren ‚Es tut mir leid‘ mit grossem L schreiben mussten!“ (Das haben wir ja nun glücklich überstanden!) Sprachwissenschaftler dannzumal werden den Kopf schütteln ob dem dreisten obrigkeitlichen Wortraub, dass nämlich für mehrere Jahre althergebrachte deutsche Wörter wie „fleischfressend“ und „kennenlernen“ verboten waren und Wörter wie „spazierenführen“ und „radfahren“ sogar noch länger. (Diese letzteren sind heute immer noch verboten!) Etymologen werden schmunzeln über die Kleinkariertheit einer Umstellung von „Stengel“ auf „Stängel“, von „behende“ auf „behände“, von „Gemse“ auf „Gämse“ und werden lauthals spotten über die Ignoranz derjenigen, die die Umstellung von „Quentchen“ auf „Quäntchen“ ausgeheckt und zugelassen haben. (Auch in diesem Fall wird am Verbot der sprachgeschichtlich einzig richtigen Schreibung mit ‹e› beharrlich festgehalten!) Die zukünftigen Kollegen werden dank ihrem sprachgeschichtlichen Weitblick weiter darauf hinweisen, dass in Sachen Umlaut [ä] im Deutschen des späten 2. Jahrtausends n. Chr. ohnehin eine gewisse, freilich historisch gewachsene Unordnung herrschte, indem man zum Beispiel die schwachen Verben „tränken„ und „drängen“ mit ä, „senken“ und „sprengen“ dagegen mit e schrieb, obwohl alle auf gleiche Weise als sogenannte Kausativa zu den starken Verben „trinken“, „dringen“, „sinken“, „springen“ gebildet sind. Das habe aber nie jemanden gestört, nicht einmal die Reformer, und deren punktuelle Eingriffe hätten deshalb überhaupt nichts gebracht, sondern nur unnötig Verwirrung gestiftet, zumal man sich dabei auf fragwürdige Begründungen stützte. Und sie werden schliesslich schmunzeln über den befohlenen Mehraufwand, in „Schiffahrt“, „Schnellauf“ und „Brennessel“ drei statt zwei gleiche Konsonanten zu schreiben, und über die Kapitulation der Reformer vor "dennoch", „Mittag“ und „Wollust“, für die weiterhin die Schreibung mit zwei Zeichen gelten sollte.

Ich sehe die mitleidigen Gesichter unserer Nachfahren deutlich vor mir und wünsche mir hier und heute, dass ich so schnell wie möglich und ohne mehr ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, auch in den Fällen vom Typus „heute morgen“, „im allgemeinen“, „radfahren“, „Stengel“ und „Schiffahrt“ wieder die altbewährte Rechtschreibung benutzen darf. Ich verspreche dafür feierlich, dass ich kein einziges zusätzliches graues Haar bekommen werde, wenn schliesslich die neue Spezies der etwas behäbigen „Gämsen“ mit ‹ä› diejenige der grazilen „Gemsen“ mit ‹e› von unseren Alpenfluhen verdrängen sollte.

Aber mein Versprechen gilt nur unter der Voraussetzung eines echten, fairen und freien Wettbewerbs der Schreibungen, so wie er der Sprache als einem lebendigen Organismus einzig angemessen ist! Und dass dieser faire Wettbewerb endlich zustande kommt (unter dem die grazile Gemse eine reelle Überlebenschance hat), dazu können Sie heute beitragen. Meines Erachtens lohnt es sich nicht, weiter zu schwanken und zu zaudern oder mittels Hausorthographien Progressivität oder Konservativismus zu demonstrieren. Beginnen wir vereint mit dem Fensterputzen, damit wir unseren Blick so rasch als möglich wieder auf den Inhalt der Texte, auf die Sprache selbst und auf den Gesamtrahmen der deutschen Sprachgeschichte richten können!


Rudolf Wachter ist Inhaber der permanenten außerordentlichen Professur für griechische, lateinische und indogermanische Sprachwissenschaft in Basel. Zusätzliche Forschungsschwerpunkte sind Epigraphik und Geschichte des Alphabets.



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