17.03.2006


Falsch ist richtig

Theodor Icklers neuer Leitfaden durch die Abgründe der Schlechtschreibreform

Schlechte noten in rechtschreibung haben einen ähnlichen charakter wie z. b. schlechte schulnoten wegen epilepsie, chronischem husten oder grippe.

So hieß es auf dem Kongreß »vernünftiger schreiben«, den die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, der Verband der Schriftsteller und das deutsche P.E.N.-Zentrum im Jahre 1973 ausrichteten. Die komplizierte Duden-Rechtschreibung stand, wie man damals meinte, dem Wunsch im Wege, die Bildungsreserven der »unterprivilegierten« Gesellschaftsschichten auszuschöpfen. Pläne zu einer Rechtschreibreform hatte es schon immer gegeben, doch waren sie selten über die beschränkten Kreise von Tüftlern und Sektierern hinausgedrungen. Um 1970 war neuer Schwung in die Sache gekommen. Es war die Zeit der »emanzipatorischen Pädagogik« und der hessischen Rahmenrichtlinien, denen es darauf ankam, sprachliche Normen als »veränderbar« darzustellen – natürlich stellvertretend für gesellschaftliche Normen überhaupt.

Rechtschreibreform – das hieß damals »gemäßigte Kleinschreibung «. Sie wurde mit revolutionärer Inbrunst herbeigesehnt: »Die reaktionäre großschreibung fällt nicht, wenn wir sie nicht niederschlagen!« Kritiker der Kleinschreibung seien »dem traditionellen bildungserbe der kaiserzeit verhaftet«. Nur die »ewig-gestrigen«, zum »analen zwangscharakter« deformiert, hingen noch am »rohrstockersatz« Rechtschreibung. »Sie haben die macht, ihre irrationalen liebhabereien der gesamtbevölkerung aufzuzwingen.«

Für Hubert Ivo, den Mitverfasser der Rahmenrichtlinien, bestand Rechtschreibunterricht im »Einpauken rational nicht begründbarer Regeln«, deren Beherrschung kein »Ausweis von Begabung« sei und daher bei der Notengebung keine Rolle spielen dürfe. Einen kritischen Rechtschreibunterricht als Hebel zur Gesellschaftsveränderung propagierte der Deutschdidaktiker Bernhard Weisgerber. Wenn ein Schüler Eltern mit Ä geschrieben hatte, sollte der Lehrer ungefähr folgendes zu ihm sagen: »Du hast Eltern mit Ä geschrieben. Sicher hast du gedacht: Das sind die Älteren, Eltern gehört also zu alt. Und damit hast du recht. Aber nach der heute geltenden Rechtschreibregelung wird das Wort Eltern mit E geschrieben. Wenn du in unserer Gesellschaft Ärger vermeiden willst, mußt du dich zunächst an diese Regelung halten. Wenn aber viele Leute darüber nachdenken wie du, wird die Schreibung vielleicht später einmal geändert.«

Bezeichnend ist, daß – und wie – dem Schüler recht gegeben wird. Er hat sogar das höhere Recht für sich, die Erwachsenen können bloß dumpfe Gewohnheit und schiere Macht für sich in Anspruch nehmen. Eines Tages, wenn sie nachdenken, werden sie sich bekehren, und die Letzten werden dann die Ersten sein. Zu »Partisanen« im Kampf gegen die herrschende Gesellschaft sollen die Schüler ausgebildet werden, meinte die GEW damals. Die jungen Menschen ins Recht und die älteren ins Unrecht zu setzen ist der Kern kulturrevolutionärer Pädagogik. Manche Reformbetreiber haben seit 1996 ihre Befriedigung darüber zum Ausdruck gebracht, daß nun die Kinder – gewissermaßen als orthographische Rote Garden – die Erwachsenen »korrigieren« können. Ein Kongreßredner erzählte folgende herzergreifende Geschichte: »Es ist nicht gelogen, ein lehrer, der später schulrat wurde, hat seine erste liebesgeschichte spontan abgebrochen, als er von seiner freundin einen brief mit ein paar orthographischen fehlern bekam.«

Rückblickend wird jeder fühlende Mensch die junge Frau beglückwünschen, daß ihr ein solcher Gatte erspart blieb, auch wenn er als späterer Schulrat zweifellos eine gute Partie gewesen wäre. Aber muß man, um die Zahl orthographiegeschädigter Mauerblümchen gering zu halten, gleich die ganze in Jahrhunderten gewachsene Rechtschreibung umkrempeln?

Damals schien die Zukunft der Gesellschaft von der Einführung der gemäßigten Kleinschreibung abzuhängen. Jede Polemik gegen den seinerzeit vorliegenden, inzwischen natürlich längst überholten Reformentwurf gehe »in verantwortungsloser Weise zu Lasten der nachfolgenden Generationen«! Auch der eine oder andere, der von der Veröffentlichung einschlägiger Bücher profi tiert, ließ sich bis heute in diesem Ton vernehmen. Ein Professor Götze, von dem sich später herausstellte, daß er der Bearbeiter des neuen Bertelsmann-Wörterbuchs war, erwartete in einem Leserbrief, daß junge und alte Menschen nach der Rechtschreibreform wieder Lust haben würden, »Briefe, Tagebücher oder Gedichte zu schreiben« – ein kleines Pfingstwunder.

Es sollte nach jenem Kongreß noch über zwanzig Jahre dauern, bis ein »Internationaler Arbeitskreis für Orthographie« in Wien den Entwurf einer Rechtschreibreform vorlegen konnte.

Geblieben ist die Idee, daß die gesamte Gesellschaft sich den wirklichen oder eingebildeten Bedürfnissen der Schule zu unterwerfen habe. Man wird doch die Schüler nicht im Stich lassen oder sie gar auf eine »Rechtschreibinsel« verbannen! Die Schüler als Geiseln der Reformbetreiber – eine bis heute erfolgreiche Strategie, deren moralische Bedenklichkeit freilich dem führenden Reformer in weit zurückliegenden Jahren durchaus noch bewußt war: »Eine Änderung geltender Normen über den Schüler zu erreichen ist zwar verlockend und wäre auch am erfolgversprechendsten, aber sie setzt an am schwächsten Glied in der Kette.«

Aus Theodor Icklers soeben erschienenem Buch Falsch ist richtig. 272 S., EUR (D) 14,90 · ISBN: 3-426-27391-8



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