04.03.2006


Hubert Spiegel

Richtig und falsch

Als die F.A.Z. vor sechs Jahren von der reformierten zur bewährten Rechtschreibung zurückkehrte, zog sie die Konsequenz aus der Erfahrung, die jeder machte, der eine Zeitlang die neuen Regeln befolgte.

Die Reform hatte die deutsche Sprache beschädigt und den Reichtum und die Genauigkeit ihrer Ausdrucksmittel erheblich beeinträchtigt. Schriftsteller, Journalisten und viele andere, die sich gegen die Reform zur Wehr setzten, taten dies, um ihr Handwerkszeug zu verteidigen.

Damals warfen Politiker dieser Zeitung vor, sie entfessele eine "Pseudodebatte". Die neue Rechtschreibung, behaupteten die Kultusminister damals, sei wesentlich einfacher als die alte, eine Reform der Reform sei unnötig.

Jetzt hat Brandenburgs Kultusministerin Wanka eingestanden, daß "die Rechtschreibreform falsch war". Reformmängel, deren Existenz jahrelang geleugnet wurde, sollen nun als behoben gelten. All dies wird in einer Mischung aus Erleichterung und Überdruß gesagt. Man muß sich einmal ansehen, welche Formulierungen dabei gebraucht wurden. Die "eklatantesten Mißstände" seien beseitigt, der "gröbste Unsinn" und die "schlimmsten Fehler" würden nun rückgängig gemacht. Das ist richtig und erfreulich. Wir sollen Spaghetti nicht länger ohne h schreiben, wir dürfen Kommata wieder so setzen, daß sie das Lesen erleichtern, und im wichtigen Bereich der Zusammenschreibung werden viele klassische Schreibweisen wieder in ihr altes Recht gesetzt. Das ist ein Erfolg der Reformgegner, über den sich jetzt auch die Reformer selbst zu freuen scheinen.

Und doch geben die Erfolgsmeldungen zu denken. Der "gröbste Unsinn" wurde revidiert. Aber wie steht es mit jenen Reformteilen, die nicht gröbster Unsinn, sondern nur grober oder feinkörniger Unsinn sind? Sie bleiben vorerst bestehen. Reichte die Zeit nicht? Oder will der Rat für Rechtschreibung es bei diesem Reformtorso belassen?

Der Zeitdruck war groß, denn die Reform sollte unbedingt zum Sommer in Kraft treten. Am 1. August werden genau acht Jahre vergangen sein, seitdem die neue Rechtschreibung an den Schulen eingeführt wurde. Für Schüler und Lehrer war dies eine Zeit des Leidens. Ein Schüler, der in diesem Sommer sein Abitur macht, wurde 1993 eingeschult und lernte in der Grundschule, daß man das Wort "kennenlernen" zusammenschreibt. Als er aufs Gymnasium wechselte, wechselte auch die Rechtschreibung. Nun sollte "kennenlernen" aus zwei Wörtern bestehen. In den folgenden Jahren schrieb unser Gymnasiast das Wort auseinander, mußte aber feststellen, daß die meisten Menschen in seiner Umgebung und alle deutschen Schriftsteller "kennenlernen" weiterhin zusammenschrieben. Wenn der Gymnasiast das Wort demnächst in der Abiturprüfung zusammenschreibt, ist das ein Rechtschreibfehler, der aber wenige Wochen später, nämlich nach dem 1. August, keiner mehr sein wird. Dann werden beide Schreibweisen erlaubt sein. Der Schüler muß seinem Lehrer seit Jahren Leid tun. Nach dem 1. August darf er ihm auch wieder leid tun.

Der Rat für Rechtschreibung will zahllose klassische Varianten wieder zulassen und verspricht, daß es dadurch jedem wieder freigestellt ist, weitgehend der bewährten Rechtschreibung zu folgen. Das wird zu prüfen sein. Bewährte und neue Rechtschreibung sollen sich nicht länger ausschließen, sondern gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Ist das eine salomonische Entscheidung? Nein, es ist nur die dürre Weisheit derjenigen, die nicht mehr wissen wollen, was falsch und was richtig ist. Die meisten Menschen lassen ihr Sprachgefühl über ihre Rechtschreibung entscheiden; sie mußten ohnmächtig erleben, wie dieses Sprachgefühl im ewigen Hin und Her der vergangenen Jahre verunsichert und beschädigt wurde. Diesen Schaden kann auch die Reform der Reform nicht beheben.

F.A.Z., 4. März 2006



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