01.03.2006


Schweizer Sonderweg

EDK-Präsident lehnt Ratsvorschläge »vorderhand« ab

Im Gespräch mit dem St. Galler Tagblatt erklärt Hans Ulrich Stöckling, daß die Schweiz »keine überstürzten Änderungen« an der Rechtschreibreform wünsche.

Währenddessen bemängelt der Schweizer Buchhändler- und Verlegerverband die Verletzung »aller politischen Anstandsregeln« durch die Geschäftsführung des Rats für deutsche Rechtschreibung.


Im Durcheinandertal
Rechtschreibreform 06: Noch mehr Varianten, noch weniger Einigkeit

Morgen entscheiden die Kultusminister Deutschlands über die neuste Reform der Rechtschreibreform. Die Schweiz zieht voraussichtlich nicht mit. Kritiker reden von «Chaos». Erziehungsdirektor Stöckling sieht aber «keinen Grund zur Aufregung».

Peter Surber

Den einen tut die verlorene Rechtschreib-Ordnung leid oder Leid, die andern sind die ganze Diskussion längst leid. Zu Ersteren gehört der St. Galler Gymnasiallehrer Stefan Stirnemann. «Der erste April findet am zweiten März statt»: So kommentiert er den nächsten Akt im Trauerspiel um die Rechtschreibung.

Am morgigen 2. März entscheidet die deutsche Kultusministerkonferenz über die jüngste Überarbeitung der 1996 eingeführten Reform. Die Vorschläge stammen vom 36-köpfigen Rat für deutsche Rechtschreibung, der nach den politischen Querelen um die Reform eingesetzt worden war. Die Minister hoffen auf «Rechtschreibfrieden» – wohl vergeblich. «Das Chaos wird immer grösser», kommentiert etwa die Zeitung «Die Welt».

Der Widerstand wächst

Die FAZ forderte am Montag erneut den Abbruch der Übung. Auch das PEN-Zentrum, der Brockhaus Verlag, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft oder der Verband Bildung und Erziehung opponieren. Am kritischsten aber, lobt der «Welt»-Autor, sei die Schweiz.

Hier hat der Lehrerverband LCH die jüngsten Reformvorschläge in einem fünfseitigen Papier zurückgewiesen. Die Nachrichtenagentur SDA meldet Widerstand an, und der «Sprachkreis Deutsch» fordert in einem offenen Brief die Erziehungsdirektoren zu einer «sprachwissenschaftlichen Überprüfung des ganzen Regelwerks» auf.

Diese Forderungen weist EDK-Präsident Hans Ulrich Stöckling auf unsere Anfrage hin zwar zurück. Das Chaos sei «herbeigeredet» (vgl. Interview). Aber die jüngsten Reformvorschläge hält auch er für unausgegoren.

Die alten Streitfälle

Worum geht es im Einzelnen? Die neuen Vorschläge bringen vereinzelte akzeptable Kehrtwendungen, zum Beispiel die erneute Grossschreibung des Anrede-«Du». Problematischer sind die Änderungen auf den beiden kompliziertesten Gebieten:

– Getrennt- und Zusammenschreibung: Gegenüber 2004, als die Getrenntschreibung zum Normalfall und die Zusammenschreibung zur Ausnahme erklärt wurde, nimmt der Rat eine Aufweichung vor, wobei er sich auf «Sprachgebrauch», «Sprachbau» und «Sprachempfinden» stützt – nach Ansicht des LCH keine praktikablen Kriterien. Unter anderem soll man neu wieder «Rad fahren» statt «radfahren», jedoch «brustschwimmen» oder alternativ «Brust schwimmen». Die Schülerinnen und Schüler bleiben, so der LCH, «Rat suchend» oder «ratsuchend» – also ratlos.

– Gross- und Kleinschreibung: Hier wird es definitiv unübersichtlich. Reformgegner Stirnemann nennt als Beispiel die einstigen alten Formen: «im allgemeinen, vor allem, unter anderem, aufs neue, von neuem, aufs herzlichste, am besten, des weiteren, ohne weiteres» – und kontrastiert sie mit den neuen Vorschriften: «im Allgemeinen, vor allem, unter anderem/Anderem, aufs Neue, von neuem/Neuem, aufs herzlichste/Herzlichste, am besten, des Weiteren, ohne weiteres/Weiteres». Sein Kommentar: «Es ist diese wirre Häufung von Varianten, welche den LCH zu seinem scharfen Urteil brachte, dass die Empfehlungen den Respekt vor der Rechtschreibung weiter abbauen werden.»

Die jüngsten Vorschläge durchbrächen die Systematik, zudem erhöhe sich durch die Variantenvielfalt «die Verunsicherung und der Nachschlagbedarf», bilanziert der LCH. Gravierend sei dies in erster Linie für die Lernenden: Ihnen würden Fehler angerechnet, «die im Schreiballtag längst durchgehen».

Luxus-Probleme?

Allerdings relativiert der LCH seine Kritik gleich selber: Im Vergleich mit solchen Orthografie-Detailfragen bewegten sich die Schreibsorgen der Schülerinnen und Schüler «auf einem massiv tieferen Niveau. Schulen wären glücklich zu preisen, wenn dort nur noch Fehler in den genannten Bereichen gemacht würden».

Das war im Anfang ein Ziel der Reform: die übermässige Fixierung auf Rechtschreibfehler zu mindern. Ob dieses Reformziel erreicht wurde, darüber fehlen gesicherte Erkenntnisse. Aber wenn man einbezieht, dass die Jugendlichen heute sowieso am liebsten Mundart schreiben und simsen – und sich dort gar eine subkulturelle Orthografie herauszubilden scheint –, so ist gewiss: In Zukunft stellen sich, was Sprachpflege und Schreibgewandtheit im Deutschen betrifft, jenseits von «radfahren» und «Rad fahren» noch ganz andere Fragen.

Link: www.tagblatt.ch/index.php?artikelxml=xxx&artikel_id=1156333&ressort=tagblattheute/kultur


«Das Chaos ist herbeigeredet»

Der Sprachkreis Deutsch hat am 23. Januar mit einem offenen Brief an die Erziehungsdirektorenkonferenz EDK, deren Präsident Sie sind, einen «Marschhalt» für die Rechtschreibreform gefordert. Ihre Antwort darauf?

Hans Ulrich Stöckling: Für die heutigen Schülerinnen und Schüler (Primarschule, Oberstufe und Gymnasium) stellt die neue Rechtschreibung überhaupt kein Problem dar, weil sie seit ihrem Schuleintritt nach diesen Regeln unterrichtet worden sind. Dies hat dann auch dazu geführt, dass sich in der Schule am ersten August nichts geändert hat. Kein Schüler, der nur nach den neuen Regeln unterrichtet wurde, kommt auf die Idee, Regeln der alten Rechtschreibung anzuwenden. Die schweizerischen Lehrerverbände haben deshalb unsere Position auch immer unterstützt. Zuzugeben ist, dass der Kanton Bern immer noch die so genannte alte Rechtschreibung zulässt.

Jetzt soll es wieder Änderungen geben. Ist die EDK nicht der Meinung, dass die Verunsicherung dadurch immer grösser wird?

Stöckling: Der von der Kultusministerkonferenz Deutschlands zusammen mit Österreich und der EDK eingesetzte Rat für Deutsche Rechtschreibung hat jetzt neue Vorschläge unterbreitet. Über diese ist kein vernünftiges Vernehmlassungsverfahren durchgeführt worden. Deshalb haben wir mitgeteilt, die Schweiz würde diese Neuerungen vorderhand nicht übernehmen. In dieser Haltung werden wir auch von den Lehrerverbänden unterstützt. Wir wollen zurzeit keine überstürzten Änderungen mehr.

Ist der offene Brief bei Ihnen also auf offene Ohren gestossen?

Stöckling: Was den offenen Brief betrifft, so enthält dieser Forderungen, die auf keinen Fall übernommen werden können. Regeln rückgängig zu machen, die seit über zehn Jahren in den Schulen angewendet werden, würde das von diesen Leuten herbeigeredete Chaos erst verursachen.

Im Übrigen ist die EDK nach wie vor der Meinung, dass in einem freien Land jeder schreiben kann, wie er will. Namhafte Schriftsteller, aber auch gewisse Zeitungsredaktionen haben sich schon bisher nicht an die neuen Regeln gehalten, sondern eigene entwickelt. Wir brauchen einzig für die Schule ein Regelwerk. Wenn wir darauf verzichten und auf irgendwelche diffuse «alte Rechtschreibregeln» zurückkommen, dann wird der Sprachunterricht für die Lehrkräfte zum unmöglichen Unterfangen.

Zurzeit besteht zumindest aus der Sicht der Ausbildung kein Grund zur Aufregung. Die neuen Regeln werden in der Schule diskussionslos angewandt, und die Schülerinnen und Schüler kennen gar nichts anderes. Deshalb müssen wir bei neuerlichen Korrekturen ausserordentlich vorsichtig sein. (Su.)

Link: www.tagblatt.ch/index.php?artikelxml=xxx&artikel_id=1156393&ressort=tagblattheute/kultur


Erklärung des Schweizer Buchhändler- und Verlegerverbandes (SBVV) zu den Empfehlungen des Rates für Rechtschreibung

Fast zehn Jahre sind seit Einführung der neuen, wenig geglückten Rechtschreibregeln vergangen. Diese lange Zeit wurde von den Politikern in Abschnitte eingeteilt, in denen nichts geändert werden durfte, und in solche, in denen in unnötiger Eile Änderungen durchgeboxt wurden. Das ist denn auch der Grund, weshalb bis heute keine Lösung gefunden wurde und die Rechtschreibung sich immer noch „in hängenden Rechten“ befindet. Eine für die Verleger unmögliche Situation.

Auch die neuesten Änderungsvorschläge des Rates für Rechtschreibung wurden auf die Schnelle zusammengestellt. Und um diese Eile noch deutlicher zu machen, widerrief der Vorsitzende des Rates, Staatsminister a. D. Hans Zehetmair, eine Einladung zu einem Anhörungsverfahren, die er noch vor ein paar Wochen ausgesprochen hatte. Seine Begründung, die Anhörung sei unnötig, da man sich im Rat für Rechtschreibung einig sei, verletzt alle politischen Anstandsregeln. Zu diesem Bild passt es, dass im Rat für Rechtschreibung alle, die gegen diese verunglückte Rechtschreibung aufbegehren, als „Krawallmacher“ verunglimpft werden.

Die Empfehlungen des Rates stellen eine weitere Relativierung der Grundsätze von 1996 dar, was wir begrüssen. In vielen Fällen wird das aber durch Varianten erreicht. Varianten sind für uns Verleger kaum und für die Schulen noch weniger geeignet. Viele missratene Regeln wurden leider nicht überarbeitet. Bei der Vorlage des Rates handelt es sich also um eine weitere vorläufige Fassung, die kaum länger Geltung haben wird als diejenige vom Juni 2004.

Ein Ende der unseligen Auseinandersetzung wird erst eintreten, wenn eine wirklich tragfähige Grundlage gefunden ist. Es ist zu hoffen, dass der Rat für Rechtschreibung seine zögerliche Haltung aufgibt und endlich Grundlagen schafft, auf die wir uns verlassen können.

Zürich, 28. Februar 2006

Men Haupt
Präsident des Schweizer Buchhändler- und Verlegerverbandes (SBVV), Zürich



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