26.02.2006


„Allenfalls orthografische Änderungen“

18 Fragen an Karl Blüml

In der aktuellen Ausgabe 1/06 des österreichischen „morgen“ ist ein Artikel von Alexander Glück über Dr. Karl Blüml erschienen. Lesen Sie hier das zugrundeliegende, von ihm per E-Mail geführte Interview.
(Das als Überschrift gewählte Zitat stammt aus der Antwort auf Frage Nr. 12. Die dort erwähnte Internetseite des Cornelsen-Verlags finden Sie hier.)



1. Sie haben sich in jahrelanger Arbeit besondere Meriten um die Rechtschreibung erworben, die aufs Konto Österreichs gehen. Auf welche Ergebnisse kann unser Land heute stolz sein?

Dr. Karl Blüml: Mit Sicherheit ist die Neuregelung der ss-ß-Schreibung die didaktisch wichtigste Neuerung. Diese Schreibung war in Österreich schon im 19. Jahrhundert üblich, wurde aber dann 1901, um Einigkeit im gesamten deutschen Sprachraum zu gewinnen, aufgegeben.
Weiters möchte ich hervorheben, dass die Abschaffung der großen Zahl von Ausnahmen, wie sie vor 1996 üblich waren (vgl. den Typus in bezug auf – mit Bezug auf) ganz wesentlich zu einer rascheren Erlernung der richtigen Substantivgroßschreibung beigetragen hat.


2. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Sprache und der Orthographie, und wie ist demzufolge die Rechtschreibreform einzuschätzen?

Blüml: Natürlich besteht ein Zusammenhang. Die Schreibung ist ganz einfach die grafische Darstellung der Sprache. Wie eine solche Darstellung erfolgt, ist jedoch von Sprache zu Sprache – zumeist aus historischen Gründen – recht unterschiedlich. Die jetzige Reform hat den Versuch unternommen, die Schreibung wieder stärker an nachvollziehbaren Regeln zu orientieren und nicht Einzelfälle zu schaffen. Ein markantes Beispiel ist die türkische Sprache. Dort hat man an der Wende zum 20. Jahrhundert eine Umstellung auf das lateinische Alfabet durchgeführt und dabei versucht, Laute und Buchstaben so weit wie möglich überein zu stimmen. Das ist ohne eine solche „Revolution“ in Kultursprachen praktisch nicht möglich (vgl. alle die gescheiterten Versuche der Reformierung der englischen Orthographie und auch der deutschen bis 1996).


3. Sie schrieben, daß die Probleme, welche die Rechtschreibreform letztlich notwendig machten, auf der Regelungsseite zu finden sind. Andererseits hört man immer wieder das Argument, die Sprache habe sich schon immer verändert, und die Rechtschreibung müsse nun daran angepaßt werden. Worum ging es wirklich: allein um das orthographische Regelwerk oder um die reine Sprachentwicklung? Was hatte sich konkret an der Sprache verändert, dem die Schreibung folgen mußte?

Blüml: Konkret hat sich an der Sprache sehr viel geändert – nicht zuletzt durch die Aufnahme zahlreicher neuer Wörter aus anderen Sprachen, durch Wortneuschöpfungen im Deutschen selber (so gab es etwa wohlverdient im Duden der 50er Jahre noch nicht). Gerade in der Frage der „Eindeutschung“ von Fremdwörtern gibt es einen kontinuierlichen Prozess, dem sich die Schreibung auch immer wieder anpassen muss.
De facto wurden viele solche Anpassungen seit 1901 (der letzten Reform) laufend in den Neuauflagen der Wörterbücher durchgeführt, sodass es zu sehr, sehr vielen Einzelfallregelungen kam. Das Regelwerk von 1901 konnten aber die Wörterbücher nicht verändern, denn 1901 hatte sozusagen der Staat die Regelungsgewalt übernommen (anders als in manchen anderen Kulturen, wie etwa in England oder den USA, wo das praktisch über die Wörterbücher geregelt wird, während es in Frankreich wieder eine zentrale Regelung gibt).


4. Nun ist bei der Reform der bisherige Weg, in der Orthographie beobachtend-beschreibend vorzugehen, verlassen worden und stattdessen eine präskriptive Regelung getroffen worden. Was hat man sich davon versprochen, warum war das erforderlich?

Blüml: Das ist so nicht ganz richtig. Auch das Regelwerk von 1901 war präskriptiv und auch der Duden war in praktisch allen seinen Auflagen in dem Sinne präskriptiv dem „guten und richtigen Deutsch“ verpflichtet.


5. Die Orthographie im bisherigen Sinne beschreibt die Konventionen, die die Sprachgemeinschaft als „richtig“ ansieht. Nun wurden nicht wenige Schreibungen eingeführt, die in diesem alten Sinn als „grammatisch falsch“ bezeichnet werden. Welche Funktion hat in Ihren Augen eine künftige Orthographie?

Blüml: Dies ist eine schwierige Frage. Wenn man die Vorwörter der diversen Dudenauflagen nachliest, findet man zumindest ab 1961 laufend den Hinweis darauf, dass man es bedauert, dass eine Reform jener Bereiche nicht möglich sei, in denen die Schreibgemeinschaft offenbar überwiegend anders schreibt, als es die Regeln von 1901 vorsehen. In dem Sinn wird es Aufgabe des „Rates für deutsche Rechtschreibung“ sein, die Schreibentwicklung zu beobachten und sozusagen keinen „Reformstau“ entstehen zu lassen. Die Zahl der Menschen, die selbst in wissenschaftlichen Publikationen vor 1996 zB entgegen den Dudenregeln der Einzelne, im Allgemeinen, in Bezug auf schrieb, war beträchtlich. Wenn solche Entwicklungen beobachtet werden, soll diese Einrichtung nun laufend prüfen, ob das notwendige, sinnvolle Änderungen sind – oder nur vorübergehende Moden.


6. Es gibt Äußerungen von Ihnen und auch von Herrn Augst, die die Bedeutung grammatisch falscher Schreibweisen verteidigen. Da die Grammatik aber die Struktur der Sprache beschreibt und damit logisch-sachliche Zusammenhänge, bedeuten die grammatisch falschen Schreibungen doch einen Bruch mit der allgemein üblichen logischen Denkweise. Zum Beispiel konstatiert der dritte Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission folgendes: „Die Sprachgemeinschaft hat sich nach anfänglichem Zögern an die Schreibung ‚Leid tun‘ mit substantivischer Interpretation von ‚Leid‘ gewöhnt.“ Diese durch die Reform notwendige Interpretation ist eine sprachlich-semantische Angelegenheit, keine orthographische. Wie kann erwartet werden, daß irgend etwas, was solche falschen Zusammenhänge enthält, konsensfähig sein wird?

Blüml: Ich habe leichte Probleme mit der Bezeichnung „grammatisch falsche Schreibweise“. Wie allgemein bekannt ist, gibt es zahlreiche Grammatikmodelle, die versuchen, die gesprochene und geschriebene Sprache adäquat zu beschreiben – die ernsthaften wissenschaftlichen Modelle sind deskriptive Modelle, nicht präskriptive, wenngleich natürlich die Beschreibung langjährigen Gebrauchs letztlich die Empfehlung für den gegenwärtigen und künftigen Gebrauch darstellt. Deskription wird so – einfach übersetzt – zur Präskription. Ein schlichtes „Grammatisch-Falsch“ oder „Grammatisch-Richtig“ ist selten der Fall – außer in Fällen wie „Ich sage dem Mutter …“.
Daneben und darüber hinaus ist die Frage bei der Orthographie noch wesentlich komplizierter. Hier handelt es sich um Konventionen, die teilweise erst im Nachhinein grammatisch begründet wurden. Die deutsche Sprachgemeinschaft ist in eine Großschreibung der Substantive – ausgehend von der Großschreibung der Namen/Bezeichnungen für Gott – schön langsam hineingewachsen. Substantivierungen wurden tlw. nach Gutdünken, tlw. nach den jeweils vorherrschenden Grammatikmodellen nach und nach inkludiert. Aber: Es gibt keine grammatische Rechtfertigung dafür, warum man den adjektivischen Bestandteil von Nominationsstereotypen wie etwa Gelbe Karte, Roter Milan usw. ebenfalls groß schreiben sollte. Das ist reine Interpretation – und noch dazu stetig wechselnde Interpretation. Wie gerade die Geschichte der Nominationsstereotype beweist. Ebenso ist die Geschichte der Schreibung von Substantivierungen höchst wechselhaft – ob der Einzelne oder der einzelne geschrieben wird, ist reine Interpretationssache. Es kommt darauf an, nach welchem Grammatikmodell man Substantivierung definiert.
Der Fall Leid tun ist ein solcher Interpretationsfall. Natürlich kann man mit Fug und Recht sagen, das ließe sich nicht wirklich substantivisch interpretieren. Mit demselben Recht kann man aber auch sagen, dass die allgemeine Konzeption von Leid eine substantivische ist. Bei leid gibt es noch Wendungen wie es ist mir [um sie] leid (ein großes Leid?) – daneben aber auch das Paradigma es tut mir leid – es tut mir weh
Nicht die Zwischenstaatliche Kommission, nicht der „Rat für deutsche Rechtschreibung“, sondern die seinerzeitige internationale Arbeitsgruppe fand, dass eine substantivische Interpretation sehr wohl zulässig wäre, weil es ein echtes Paradigma dieser Art in synchroner Hinsicht gibt. Was ist der Unterschied zwischen Leid tun und Maß halten, Hof halten …, zwischen Leid tun und Not tun
Die Reform 1996 entschied sich hier für das Paradigma Substantiv (groß) + Verb (getrennt und klein) – eine absolut zulässige Entscheidung angesichts der Möglichkeiten.
Man müsste jetzt umgekehrt auch fragen, wie konnte die Reform von 1901 (und all die Duden-Auflagen danach bis 1996) annehmen, dass die Schreibgemeinschaft tatsächlich einer Unterscheidung mit Bezug auf und in bezug auf folgt? Sie hat es getan, gefördert durch Korrektoren, Lehrer/innen, Wörterbücher – obwohl es mindestens so viele Gründe für eine Gleichschreibung gibt.
Die Reform 1996 hat – entgegen den jetzt oft geäußerten Ansichten – versucht, Paradigmen der Findung einer adäquaten Schreibung nachzuvollziehen. Wie funktioniert das bei den Schreibenden? Fragen sie nach diffizilen grammatischen Unterscheiden (die je nach Grammatikmodell unterschiedlich sind) oder folgen sie Analogien? Warum werden so viele Wörter nach dem Regelwerk von 1901 schlicht falsch geschrieben? Was führt die Schreibenden dazu, eine bestimmte Schreibung zu bevorzugen?
Die Arbeitsgruppe der Reform von 1996 kam zu dem Schluss, dass Reihenbildungen, Analogien ausschlaggebend sind – und nicht diffizile grammatische Analyse, die noch dazu vom jeweiligen Modell abhängt.


7. Die reformierte Regelung der ss/ß-Schreibung gilt ja allgemein als einleuchtend; es dürfte die bekannteste „neue Regel“ sein, und die Änderung kommt in Texten häufig vor. Wie hat sich diese Regel in der Praxis bewährt? Und weshalb war die alte Regelung nicht mehr zeitgemäß?

Blüml: Wie ich oben schon betonte, wird diese Regel von den Neulernern ganz leicht und schnell angenommen, weil sie die s-Schreibung an alle anderen Konsonantenverdoppelungs-Regeln angleicht. Man schreibt „sie kam“, weil das [a] lang gesprochen wird, man schreibt „der Kamm“, weil das [a] hier kurz gesprochen wird. Diese Regelung gilt nun ohne Ausnahme auch für die Verdoppelung von „s“.


8. Die einzigen vorhandenen wissenschaftlich-methodisch abgesicherten Studien scheinen die von Prof. Harald Marx zu sein. Diese kommen aber zu dem Schluß, daß die Schreibleistungen der Kinder schlechter geworden sind. Wie erklären Sie es sich, daß Prof. Marx bei seinen Untersuchungen für Wörter mit reformbedingten ß-ss-Wechsel bereits einen Rückgang der Fehlerquote auf das Niveau von vor der Reform fand – was das Ende der Übergangszeit signalisiert und damit die Gültigkeit der Untersuchung demonstriert –, die Fehler bei Wörtern mit einfachem „s“ aber nach wie vor zunehmen? Ist das im Rat bereits thematisiert worden? Wie kann man dem entgegenwirken?

Blüml: Ich kann mir die Ergebnisse von Herrn Marx nicht wirklich erklären. Daher hat die Kommission auch mehrfach versucht, mit Herrn Marx in Verbindung zu treten (besonders über Frau Prof. Mechthild Dehn), was aber nicht gelungen ist. Uns schienen die gewaltigen statistischen Schwankungen nicht erklärlich.
Der Rat hat dies bisher noch nicht thematisiert. Eine vergleichsweise einfache Erklärung dafür, dass die Fehlerquote bei einfachem „s“ nicht wirklich sinkt, wäre wohl die, dass dies auch nicht Gegenstand der Reform war.
Ich bedaure, dass im Deutschen eine Reform der Laut-Buchstaben-Beziehungen nicht in einem größeren Umfang möglich war, einem Umfang der den regional unterschiedlichen Sprechweisen insofern entgegenkommt, als Länge und Kürze von Vokalen wie auch Stimmhaftigkeit und Stimmlosigkeit von Konsonanten regional höchst unterschiedliche Ausprägungen haben. Im südlichen Österreich etwa spricht man Wasser wie [woaza] aus, d.h. der Vokal ist lang, der Konsonant „s“ ist stimmhaft. Wie soll daraus eine gemeindeutsche Orthographie folgen?


9. Die Reform ist – so schreiben Sie selbst – mit dem Ziel der Vereinfachung durchgeführt worden. Der Erfolg ließe sich also an den Fehlerzahlen der heutigen Schüler messen, entsprechend werden die Entscheidungen des Rates für Rechtschreibung daran gemessen werden. Wie wird diese Erfolgskontrolle durchgeführt, und was bedeutet das für die Arbeit des Rats?

Blüml: Wie das der Rat handhaben wird, kann ich noch nicht sagen, dazu müsste man den Vorsitzenden befragen. Die „alte“ Zwischenstaatliche Kommission hat das so gehandhabt, dass sie immer wieder Befragungen an den Schulen und in den Verlagen bzw. bei den Presseagenturen durchgeführt hat.


10. Sie haben immer wieder ins Feld geführt, daß der Rückgang der Fehlerzahlen in Österreich bereits wissenschaftlich nachgewiesen werden konnte. Wann erfolgte diese Studie und wie war sie methodologisch angelegt?

Blüml: Das sind Erhebungen des Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, die immer wieder durchgeführt werden, zuletzt über ein namhaftes Meinungsforschungsinstitut in Österreich. Die Ergebnisse können im Ministerium erfragt werden. Erhebungen davor wurden publiziert (alle Schularten in Österreich alle LehrerInnen).


11. Sie haben geschrieben, daß sich das Gleichgewicht zwischen den Anforderungen an den Schreiber und den Problemen des Lesens zuungunsten des Schreibenden verschoben haben. Was ist aus Ihrer Sicht der Erfolg der Reform, und was sagen Sie zu den von den Kritikern vorgebrachten Vorwürfen, das Lesen werde zum Teil erschwert?

Blüml: Es gibt eine publizierte Darstellung des renommierten Sprachwissenschaftlers Hans Glinz, der sagt, in der Rechtschreibung müsse einiges passieren, bevor man den Sinn nicht mehr entnehmen könne. Tatsache ist, dass die Aufwendungen, die Schule zum Erlernen der Rechtschreibung machen muss, bei Weitem das Maß übersteigt, das sinnvoll dafür eingesetzt werden darf. Dies gilt ganz besonders im Lichte der Ergebnisse der PISA-Studie. Die Schule musste in der alten Rechtschreibung (vor 1996) eine unendliche und letztlich nicht verantwortbare Zahl von Unterrichtseinheiten dafür verwenden, dass sie den Schülerinnen und Schülern all die nicht nachvollziehbaren Ausnahmen beibrachte, die die damals gültige Regelung (gegen den Willen der Fachleute – siehe oben Frage 5) enthielt. Es gibt keine einzige Untersuchung, die belegt, dass das Lesen nach der Reform 1996 etwa schwieriger geworden sei. Es gibt allerdings zahlreiche Befunde, dass das Lehren der alten Rechtschreibung von vor 1996 extrem mühsam und nachweislich wenig erfolgreich war.


12. Der Cornelsen-Verlag läßt auf seiner Internetseite wissen: „Selbstverständlich wurde die Orthografie den modernen Rechtschreibregeln angeglichen, ebenso die Zeichensetzung, selbst wenn damit der Sinn des Textes etwas verändert wird.“ Kann es sein, daß die Rechtschreibreform doch mehr als angenommen in die Sprache selbst eingegriffen hat?

Blüml: Ich kenne diese Äußerung nicht direkt und weiß auch nicht genau, was sie bedeutet. Ich muss wiederholen, dass ich die Schreibung „nur“ für eine grafische Präsentation der gesprochenen Sprache halte (zB neben der Stenografie), wenngleich ich natürlich nicht bestreite, dass die geschriebene Sprache als solche eine starke eigenständige Entwicklung durchgemacht hat. Dennoch ist unbestritten, dass geschriebene Sprache das Korrelat von gesprochener Sprache sein muss – mit einer Reihe von Ausdehnungen und Erweiterungen. Wie letztlich gesprochene Sprache mit grafischen Zeichen repräsentiert wird, ist eindeutig eine Frage der Konvention, ja oft der Konstruktion. Es ist für mich schwer vorstellbar, dass die Konvention der grafischen Wiedergabe der Sprache diese selbst verändert.
Mir sind natürlich die Bedenken bekannt, dass zB die Reform von 1996 in den Regeln für die Getrennt- und Zusammenschreibung solche Änderungen hervorgerufen hat, dass „Wörter getilgt“ wurden. Insbesondere hat mich da Reich-Ranickis Ausspruch im Zusammenhang mit Günter Grass (wohl verdient vs. wohlverdient: ob der Preis „wohl verdient“ oder „wohlverdient“ sei) fast zu Tränen gerührt: Die Reform hat an der Schreibung von vor 1996 nichts geändert. Wohl aber muss angemerkt werden, dass es das Wort wohlverdient in den Rechtschreibduden 1961 und 1967 gar nicht gab, sondern erst 1980.
Ich will damit andeuten, dass „Eingriffe in die Sprache“ eine sehr polyinterpretable Angelegenheit ist. Wann gibt es ein Wort? Welche Wörter gibt es tatsächlich im Deutschen? Wieso kann sich der Duden jährlich mit Tausenden neuen Wörtern rühmen? Natürlich nur, weil sich der Sprach- und Schreibgebrauch ändert. Die Aussage des obigen Zitates des Cornelsen-Verlages kann ich nur so verstehen, dass sich allenfalls orthografische Änderungen ergeben haben – wie sie bei allen Klassiker-Ausgaben laufend durchgeführt werden. Wer liest „Faust“ in der Cotta-Erstausgabe? Alle heutigen Ausgaben (ausgenommen bewusst sprachhistorisch-kritische Editionen) haben Rechtschreibanpassungen durchgeführt – Anpassungen der Cotta’schen Schreibung (denn das war nicht Goethes Schreibung) an die jeweils gültige Schreibung.
Welchen Eingriff in die SPRACHE meint man, wenn man „kalt stellen/kaltstellen“ zB nur noch „kalt stellen“ schreiben soll? Wie ändert sich der Sinn eines Textes, wenn ein Politiker kalt gestellt werden soll oder wenn eine Speise kalt gestellt werden soll? Gibt es da irgendeine Möglichkeit einer Fehlinterpretation? Kann ein Politiker in den Kühlschrank gestellt werden? Kann eine Speise an Macht verlieren?


13. Die herkömmliche Schreibweise wird nach wie vor von Teilen der Presse verwendet, bestimmte Verlage verwenden sie für neu erscheinende Bücher und sie liegt in großen Bibliotheksbeständen vor. Schulkinder bekommen davon zwar kaum etwas mit, später als Erwachsene jedoch schon. Das OVG Lüneburg hat kürzlich festgestellt: »Herkömmliche Schreibweisen dürfen im Schulunterricht solange nicht als ‚falsch‘ bezeichnet werden, wie sich reformierte Schreibweisen nicht allgemein durchgesetzt haben.« Da man in der Schule für das Leben lernt, scheint dies sehr vernünftig zu sein. Wird man dies im Rat thematisieren?

Blüml: Dies wurde schon mehrfach thematisiert. Es gab eine alte „Legende“, dass Kinder nie ein falsch geschriebenes Wortbild sehen dürften, sonst würden sie sich das einprägen. Der Umkehrschluss beweist den Irrtum: Schreiben alle Menschen richtig, wenn sie einmal ein richtig geschriebenes Wort gesehen haben? Natürlich müssen alle Menschen in der Lage sein, alte Texte auch sinnerfassend zu lesen – wie könnte es sonst geschehen, dass an allen höheren Schulen mittelalterliche, barocke, romantische usw. Texte im Original gelesen werden können? Und dies seit vielen Jahrzehnten – oder eigentlich zumindest seit Humboldt!


14. Das OVG Lüneburg hat aber auch festgestellt, »daß die Schule künstlich veränderte (unübliche) Rechtschreibungen nicht (als allein verbindlich) vermitteln darf«. Somit müßte die Schule bereits jetzt auch die herkömmliche Schreibung wieder unterrichten. Wie steht der Rat konkret dazu?

Blüml: Dazu gab es keine Diskussion im Rat. Wollen Sie damit einem staatlich verordneten Pluralismus in der Rechtschreibung das Wort reden, wenn Sie gleichzeitig die Einheitlichkeit der Schreibung im deutschen Sprachraum beschwören? Ich persönlich habe sehr viel übrig für Individualität in der Schreibung – und praktiziere dies auch in meinen privaten Schriftstücken. Das Problem ist immer nur die Lehre, die Weitergabe an die kommenden Generationen – und die soll möglichst einheitlich sein. Der große Hans Glinz hat einmal gemeint, es müsse in der Rechtschreibung sehr viel passieren, dass die Mitteilungsabsicht nicht mehr erkannt wird. Damit hat er natürlich völlig Recht. Auf der anderen Seite kann natürlich eine möglichst einheitliche Schreibung das Lesen deutlich erleichtern – und das ist ein ganz wesentliches Ziel aller Rechtschreibreform-Bemühungen.


15. Halten Sie es für richtig, die gesamte Groß-/Kleinschreibung zu überprüfen? Wenn sich dabei herausstellen würde, daß alles in Ordung ist, würde dies vor allem das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Reform stärken. Wurde diesbezüglich nicht eine Chance vertan, indem nur eine begrenzte Auswahl von Fällen zur Bearbeitung vorgesehen wurde?

Blüml: Dem Rat wurde eine Prioritätenliste vorgegeben, die sich an der öffentlichen Kritik an der deutschen Rechtschreibung orientierte, wie das die KMK und die MPK eindeutig formulierten. Darüber kann man diskutieren, und das wird auch geschehen – jedoch nur dann, wenn auch die grundsätzliche Kleinschreibung der Substantive mit Gegenstand der Diskussion ist – eine Art der Schreibung, wie sie schon die Urväter der deutschen Germanistik, die Brüder Grimm, verwendeten.


16. Wie ist der Rat ausgestattet, welche technischen Mittel stehen ihm zur Verfügung, die ihm gestellten Aufgaben und Erwartungen erfüllen zu können, die weitere Entwicklung von Sprache und Rechtschreibung zu beobachten und darauf zu reagieren? Wie handhaben dies unsere Nachbarländer?

Blüml: Der Rat hat eine fixe Infrastruktur am Institut für deutsche Sprache in Mannheim – mit einer Geschäftsführung und (geringer) Personalunterstützung. Die dem Rat gestellte Aufgabe kann bewältigt werden, wenn die bisher angebahnte Zusammenarbeit mit den Wörterbuchverlagen fortgesetzt wird. Es ist meines Erachtens sicher notwendig, die Koordinationsstelle am IdS in Mannheim mit zusätzlichen Ressourcen im Hinblick auf eigenständige Forschung im Bereich der Rechtschreibung auszustatten.
Meines Wissens sind in der Schweiz und in Österreich nur Gremien zur Mitarbeit im Bereich der Rechtschreibreform eingesetzt, derzeit jedoch keine Forschungsstellen. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn es zu überstaatlichen Übereinkünften hinsichtlich einer Forschung in diesem Bereich käme.


17. Sie gehörten ja schon dem Vorgängergremium an, der Zwischenstaatlichen Kommission, und waren zuletzt deren Vorsitzender. Die Kommission hat von 1997 bis 2004 insgesamt sieben Jahre gearbeitet, und doch muß jetzt noch so viel nachgebessert werden. Warum geschieht das erst jetzt?

Blüml: Die Kommission hatte den eindeutigen Auftrag, die Umsetzung der neuen Schreibung zu begleiten und zu beobachten. Ihre ersten Änderungsvorschläge (1. Bericht der Kommission) wurden mit dem Hinweis nicht angenommen, dass der Übergangszeitraum als Beobachtungszeitraum zu nützen sei und allfällige Änderungsvorschläge erst zum Ende dieser Übergangsfrist zu erstatten seien. Die Kommission hat diese Interpretation der Wiener Übereinkunft als zielführend akzeptiert. Sie hat den Schreibgebrauch beobachtet, sie hat die Kritik aufgearbeitet, sie die Situation in den Medien beobachtet – und hat im 3. Bericht eine ausführliche Darstellung der Diskussion geliefert – mit möglichen Änderungsoptionen. Die definitiven Änderungsvorschläge auf Grund der Beobachtungen im gesamten Zeitraum hat die Kommission in ihrem vierten Bericht 2004 niedergelegt und den verantwortlichen Stellen (KMK in Deutschland, EDK in der Schweiz, Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kunst in Österreich) übermittelt. Darin sind zahlreiche Anpassungsvorschläge enthalten, die zB im Duden 2004 schon vorweg umgesetzt wurden.
Es ist schlicht unfair, der Kommission jetzt vorzuwerfen, sie hätte allfällig nötige Änderungen auf Grund der Schreibwirklichkeit nicht erkannt und zur Umsetzung vorgeschlagen. Das hat sie getan – und das wurde auch von den staatlich zuständigen Stellen beschlossen.


18. Wie beurteilen Sie die Erfolgsaussichten für die Vorschläge des Rates; werden sie von der KMK umgesetzt werden?

Blüml: Ich gehe davon aus, dass die meisten Änderungsvorschläge des Rates von den staatlichen Stellen akzeptiert werden und dass diese dann auch in entsprechenden staatlichen Verlautbarungen und in den Wörterbüchern umgesetzt werden – sonst hätte man das Gremium des Rates für deutsche Rechtschreibung nicht schaffen müssen.




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