03.02.2006 Peter Müller So kann es mit der Rechtschreibreform nicht weitergehenNun ist zu übersehen, welche Korrekturen der Rat für deutsche Rechtschreibung an der Neuregelung der Rechtschreibung empfiehlt, um das Sprachvolk mit dieser seit langem strittigen Neuregelung zu „versöhnen“.Was da vorgeschlagen wird, ist mager. Der Rat korrigiert einige Einzelfälle und erweitert die bereits durch die Neuregelung vermehrten Schreibvarianten ein und desselben Wortes noch einmal. Die herkömmliche Rechtschreibung bleibt jedoch der Neuregelung weiterhin überlegen. Das vom Rat verursachte Flickwerk, bei dem nichts mehr zusammenpaßt, führt auch in reformfreudigen Kreisen zur Ablehnung der zerfledderten Neuregelung. Der schweizerische Dachverband der Lehrer urteilt vernichtend: In der vom Rat empfohlenen Fassung sind die Regeln in den Schulen kaum mehr zu vermitteln. Es sei weitaus öfter als bisher notwendig, die richtige Schreibweise nachzuschlagen - "oft genug mit enttäuschendem Ergebnis", weil verschiedene Schreibweisen zugelassen sind. Die Variantenschreibung wird allerdings von der Druckindustrie von jeher abgelehnt, weil sie die Kosten treibt. Der Rat hat wesentliche Teile der Neuregelung gar nicht erst überprüft. Die Laut-Buchstaben-Zuordnungen, um ein Beispiel zu nennen, hätten jedoch eine Überprüfung nötig. Dazu gehören die unnötigen Veränderungen gewohnter Wortbilder aufgrund volksetymologischer Ableitungen wie Quäntchen, wiederbelebte, längst verblichene Beziehungen wie behände, willkürlich herausgepickte Stammschreibungen wie Stängel, die pedantische Dreikonsonantenregel wie in Schifffahrt, die in der Schweiz zurückhaltender gehandhabte Eindeutschung: Communiqué ist für Schweizer nicht "alte", sondern einzig mögliche Schreibung. Bei der Groß-/Kleinschreibung, die vom Rat nun in Teilen nochmals überprüft und voraussichtlich geändert wird, sind weitere strittige Einzelheiten zu untersuchen: heute Abend/Freitagabend, im Voraus, des Weiteren, auf dem Laufenden, das 8-Fache, Ultima Ratio und anderes mehr. Die von der völlig zerstörten Systematik erzeugte Verunsicherung (mehr Getrennt- und Großschreibung, mehr ä, aber wo?) führt zu Übergeneralisierungen bei denen, die täglich Texte schreiben (müssen): Ernst nehmen, Offside verdächtig, Sinn entstellend, hinweg setzen, sicher stellen, zurück zu geben, entgegen gebracht, wer Schuld ist, Beides, so viel ich weiß und so weiter; da sind bereits Dutzende Male Aufwändungen und vereinzelt auch schon notwändig, auswändig, inwändig zu finden. Dramatisch ist, daß die Neuregelung solche Schäden anrichtet, ohne dabei wenigstens ihr Ziel zu erreichen. Nach Untersuchungen und Erfahrungen in Schulen machen Schüler genau wie die Journalisten nicht weniger, sondern mehr Fehler. Zusammen mit dem gigantischen, in die Milliarden Euro gehenden Aufwand, der für die Neuregelung betrieben worden ist und weiter betrieben wird, ergibt sich damit ein höchst unvorteilhafter Befund. Das Fiasko könnte kaum größer sein. Wie wird sich die Rechtschreibung angesichts der unklaren Regeln und der Variationsmöglichkeiten weiterentwickeln? Ist der Staat noch in der Lage, den Wirrwarr zu bereinigen, oder sollte er nicht - wie der Dachverband der Schweizer Lehrer zu erwägen gibt - "das Geschäft lieber den professionellen Marktführern überlassen"? Auch dessen Folgen sollten die Ratsmitglieder bedenken: "Die weitaus größte Normierungswirkung dürfte in der Entscheidung liegen, was Windows in sein Rechtschreibprogramm übernimmt", sagt der Lehrerverband voraus. Die Reform sollte für gescheitert erklärt und abgebrochen werden; aus "Staatsräson" (Johanna Wanka) ist dies angeblich nicht möglich. Zumindest muß der Marsch unterbrochen und die Neuregelung sprachwissenschaftlich und ohne künstlichen Zeitdruck überprüft werden. Für die Schüler ist dies das kleinere Übel, als "Fehler" angestrichen zu bekommen, die sie in der Literatur und in namhaften Zeitungen täglich lesen können. Der Verfasser ist Direktor der Schweizerischen Depeschenagentur. (F.A.Z., 3. 2. 2006, Nr. 29, S. 10)
Die Quelldatei dieses Ausdrucks finden Sie unter
|