16.01.2006


Reiner Kunze

Verspieltes Vertrauen

Am 12. August 1988 schrieb Günther Gillessen in der F.A.Z.: „Da es an einer einigenden Sprachautorität fehlt und niemand zuständig ist, dürfen Regierungen allenfalls handeln im Geist einer Treuhänderschaft.
Es kann dann nur darum gehen, die Regeln der Sprache zu finden und zu definieren, nicht darum, sie zu machen … Sprachpflege und Schreibregeln dürfen Veränderungen nicht vorantreiben …, damit die Zeit Gelegenheit hat zu erweisen, welchen Wandel die Sprachgemeinschaft auf Dauer aufgenommen und welchen sie als Mode oder Unart wieder abgestoßen hat. Die Sprachgemeinschaft aber sind in diesem Fall vor allem die Vielleser und die Vielschreiber – und gerade nicht die Wenigschreiber oder die Anfänger, denen zuliebe die Mannheimer Kommission die Orthographie revolutionieren will.“ Und weiter hieß es in dem Artikel: „Die Muttersprache ist … etwas Angestammtes, … ja eine Art Persönlichkeitsrecht, das der politischen Disposition entzogen ist – solange … nicht Grundrechte verletzt werden.“ Damit war bereits vor siebzehn Jahren im Prinzip alles gesagt, was zum Verhältnis von Staat und Sprache zu sagen ist.

Unmittelbar nach Erscheinen des ersten Wörterbuches mit den neuen Regeln und Schreibweisen 1996, also vor neun Jahren, wurde das Frankfurter Manifest veröffentlicht, in dem die Unterzeichner gegen die widersinnigen und zum Teil verheerenden Eingriffe in die Sprache protestierten und dem innerhalb kürzester Zeit in Zeitungen, Zeitschriften und als Buchpublikationen zahlreiche sachlich-kritische Stellungnahmen folgten. Vergangenes Jahr sagte die hessische Kultusministerin, Frau Wolff, diejenigen, die heute Bedenken vorbringen, hätten dies früher tun müssen, jetzt sei es zu spät. Politiker, die so mit der Wahrheit umgehen, verspielen das Vertrauen der Bürger.

In einem Spiegel-Interview mit Frau Ministerin Ahnen hieß es: „Der Leipziger Pädagogikprofessor Harald Marx hat 1200 Diktate in alter und neuer Rechtschreibung verglichen und festgestellt, dass wesentlich mehr Fehler gemacht werden.“ Darauf Frau Ahnen: „Es gibt meines Wissens in Österreich eine Studie, die genau das Gegenteil beweist.“ Bei dieser „Studie“ handelt es sich um den zweieinhalbseitigen Bericht einer Wiener Lehrerin, die 1997 zwei Arbeiten von lediglich 27 Schülerinnen ausgewertet hat und der überdies in der Neuen Zürcher Zeitung bescheinigt wurde, „elementare methodologische Normen missachtet“ zu haben. Politiker, die argumentieren wie in diesem Fall Frau Ahnen, verspielen das Vertrauen der Bürger.

Ein Lüneburger Philologe wandte sich am 4. Dezember 2003 in einem respektvollen Brief an die damalige Präsidentin der Kultusministerkonferenz und wies an Textbeispielen aus Werken Friedrich Schillers und Thomas Manns nach, daß wir im Begriff sind, zweihundert Jahre bewundernswerter Orthographieentwicklung zunichte zu machen. Der Ministerialbeamte Dr. Tobias Funk teilte dem Philologen mit, die Präsidentin habe ihn beauftragt, ihm zu antworten. Die Antwort bestand in dem Satz: „Ich möchte … darauf verzichten, auf Einzelheiten Ihres Schreibens einzugehen.“ So schnippt man ein Staubkorn von der Hemdmanschette. Regierungsinstitutionen, die so Menschen behandeln, verspielen das Vertrauen der Bürger.

Soll der Text eines lebenden Autors in einem Schulbuch nachgedruckt werden, ist dieser davon in Kenntnis zu setzen, und das Urheberrecht sichert ihm eine zwei- beziehungsweise vierwöchige Korrektur- und Einspruchsfrist zu. Die orthographische Bearbeitung eines Textes nach den neuen Rechtschreibregeln bedarf der Zustimmung des Autors. Das hessische Kultusministerium läßt Texte jedoch ohne Genehmigung des Verfassers orthographisch umändern und fordert von Schulbuchverlagen, sie in dieser Fassung zu drucken. Um die Aufträge der Ministerien nicht zu verlieren, informieren deshalb immer mehr Verlage den Autor erst nach Auslieferung des Schulbuches. Schriftsteller, die über die Zeit und die finanziellen Mittel verfügen, juristisch dagegen vorzugehen, dürften die Ausnahme sein. So entsteht das Gefühl der Machtlosigkeit.

Die Politikerinnen und Politiker, die das Vertrauen der Bürger verspielen, gehören verschiedenen Parteien an, was im Bürger, vor die Wahl gestellt, das Gefühl der Machtlosigkeit verstärkt.


Diese Kleine Wahlnachbetrachtung erschien zuerst in Mut. Forum für Kultur, Politik und Geschichte Nr. 459, November 2005. Wir danken für die Erlaubnis zur Veröffentlichung an dieser Stelle.



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