02.08.2004


Jeanne Rubner

Übergeordnetes Heulen

Die Rechtschreibreform und der Dissens der Kultusminister

Sie belecken einander, kuscheln sich im Schlaf eng zusammen und stimmen mehrmals am Tag gemeinsam zum Heulkonzert an. Ihre Alpha-Tiere dürfen als erste fressen, müssen dafür aber auch die Jäger auf die eigene Fährte locken, um sie vom Rudel abzulenken: Wölfe gelten inzwischen als Vorbild für ein starkes, gut geführtes Team.
Die Kultusministerkonferenz als Wolfsrudel?
Sie belecken einander, kuscheln sich im Schlaf eng zusammen und stimmen mehrmals am Tag gemeinsam zum Heulkonzert an. Ihre Alpha-Tiere dürfen als erste fressen, müssen dafür aber auch die Jäger auf die eigene Fährte locken, um sie vom Rudel abzulenken: Wölfe gelten inzwischen als Vorbild für ein starkes, gut geführtes Team.
Die Kultusministerkonferenz als Wolfsrudel? Der Vergleich mag hinken, weil die Konferenz zwar eine Präsidentin hat, nicht aber einen Leitwolf erträgt – manchem mag der Vergleich sogar zu schmeichelhaft erscheinen. Doch in Sachen Rechtschreibung standen die Bildungspolitiker, die auch beim Doppel-s an ihrer Länderhoheit festhalten, wie Wölfe zusammen – bis vor wenigen Tagen zumindest.
Noch Anfang Juni hatten die Minister einstimmig beschlossen, dass die neuen Regeln wie vorgesehen am 1. August 2005 verbindlich werden. Besondere Steine des Anstoßes wie die Zusammenschreibung soll ein neuer Rat für Rechtschreibung, bestückt aus Gegnern und Befürwortern der Reform, allmählich und behutsam aus dem Weg räumen. Doch auch vor der Juni-Sitzung hatten die Minister sich stets als Ritter der neuen Rechtschreibung formiert. Die Reform überstand immerhin mehrere Revolten: Weder empörte Eltern noch Schriftsteller noch Medien konnten sie kippen. Verfassungsrichter erklärten die Regeln als grundgesetzkonform, ein ablehnender Volksentscheid im Norden blieb ohne Konsequenzen. Die Kultusminister hielten zusammen.
Jetzt aber läuft das Wolfsrudel einer Schafsherde gleichend auseinander. Das Tier eines anderen Rudels hat geheult. Das an sich müsste sie nicht stören, würde es sich dabei nicht um einen ihnen vorgesetzten Ministerpräsidenten handeln. Die Kultuswölfe sind stark verunsichert. Immerhin: Man kann sie in drei Unter-Rudel einteilen.

Schon immer skeptisch

Das erste Rudel bilden die Konsequenten. Sie mögen vielleicht die »Majonäse« nicht, weisen aber darauf hin, dass Schüler längst ohne Probleme »dass« und »Spaß« schreiben. Sie denken an die Schulbuchverlage und an mögliche Rücknahmekosten von ein paar hundert Millionen Euro. Sie verweisen wie KMK-Präsidentin Doris Ahnen (SPD) auf langjährige Diskussionen und im übrigen darauf, dass die Ministerpräsidenten der Reform zugestimmt hätten.
Im zweiten Rudel sind jene zu finden, die aus Verwandtschaftsgründen nicht mehr mit den anderen heulen dürfen. Jene Unions-Kultusminister also, deren Ministerpräsidenten für eine Rücknahme der Reform, zumindest aber für eine erneute Diskussion sind: Dazu zählen Bernd Busemann, dessen Chef und niedersächsischer Ministerpräsident Christian Wulff Anführer der Fronde ist, sowie Jürgen Schreier samt Peter Müller aus dem Saarland. Sie waren, sagen sie, schon immer skeptisch, trauten sich aber nicht auszuscheren. Sie argumentieren damit, dass sie erst später zu der KMK-Runde gestoßen sind, so spät, dass sie die Diskussion nicht mehr beeinflussen konnten. Das Thema habe eine Eigendynamik erhalten, die nicht mehr zu bremsen gewesen sei. Doch dass die Bevölkerung jetzt revoltiere und wichtige Menschen, darunter sogar eine Kulturstaatsministerin, die Regeln zurücknehmen wollten, zeige, dass die Reform mangelhaft sei. Sie verweisen auf höchste Stellen, auf das Ende der Fahnenstange und eine gefesselte Kultusministerkonferenz, auf das Durchschlagen von gordischen Knoten.

Zuschauen, einigen oder hoffen

Schreier hat bereits ein Moratorium gefordert, das Thema müsse mit höchster Priorität auf der nächsten KMK-Sitzung Anfang Oktober behandelt werden. Der ehemalige Lehrer, der ansonsten Rechtschreibregeln eher gelassen nimmt (»die wahren Probleme liegen doch woanders, nämlich wenn Kinder affrika und varen schreiben«), will, dass der Termin 1. August gekippt und durch einen gleitenden Übergang ersetzt wird. Insgeheim dürften Busemann und Schreier darauf hoffen, dass ihre Chefs sich zusammenrotten, das Thema zur Chefsache erklären und höchstpräsidial die Reform stoppen. Das mag zwar blamabel für die Kultusminister sein, aber wie heißt es: lieber ein Ende mit Schrecken …
Die dritte Gruppe steht still daneben und schaut dem bunten Treiben zu. Manche von ihnen treibt, wie Bayerns Monika Hohlmeier, andere Sorgen um als die Frage, ob Orthografie mit f oder ph geschrieben wird. Andere igeln sich ein wie Annette Schavan aus Baden-Württemberg, die wohl auch zu pragmatisch ist, um alles wieder in Frage zu stellen.
Wie es weiter geht? Zunächst einmal hat KMK-Präsidentin Ahnen, leicht genervt von dem Durcheinander, gegenüber der Süddeutschen Zeitung erklärt, sie werde den Rat für Rechtschreibung schon im September berufen, also noch vor der nächsten KMK-Sitzung Anfang Oktober. Der Rat ist inzwischen die letzte Hoffnung, die Sache wieder ins Lot zu bringen, eine Geheimwaffe, die den Gegnern den Wind aus den Segeln nehmen soll.
Ob der noch schwache Wind um die Rechtschreibreform durch das Sommerloch an Stärke gewinnt oder abflaut, lässt sich nicht sagen – dafür ist die Großwetterlage zu unsicher. Der Leitwolf allerdings, der mit seinem Heulen das Rudel verunsichert hat, befindet sich derzeit für ein paar Wochen im Urlaub.
(Jeanne Rubner)

Quelle: Süddeutsche Zeitung, 31.7./1.8.2004
Link: http://www.sueddeutsche.de

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